Die Wütenden
Schnell werden Fabian und seine Begleiterin mit der aggressiven Sprache, dem Sexismus und der Homophobie der Jugendlichen konfrontiert, die Fabian nur mit Misstrauen und Feindseligkeit begegnen. Doch statt mit elitärer Empörung reagiert er mit Witz und Schlagfertigkeit und verschafft sich somit eine Art Kommunikation auf Augenhöhe. Als Leser lernt man schnell die Herausforderungen und Strategien kennen, mit denen Sozialarbeiter es schaffen, erfolgreich mit solchen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen oder gar Vertrauen zu gewinnen.
Im Laufe des Buches beginnen sich die einzelnen Jugendlichen immer mehr zu öffnen und von ihren Lebensgeschichten und Lebensvorstellungen zu erzählen. Auch wenn ihre Geschichten alle verschieden sind und sie sich charakterlich unterscheiden, einen sie die desolaten Verhältnisse (oft mit Kriegserfahrungen) aus denen sie alle kommen und ihre Hoffnungslosigkeit, jemals in dieser Gesellschaft Anerkennung und Respekt zu bekommen. Diese Abwesenheit von jeglicher Perspektive macht sie erst empfänglich für „dschihadistische“ Propaganda und der Sehnsucht nach einem Ort oder einer Gesellschaft, wo sie als muslimische Jugendliche wie vollwertige Menschen behandelt und wertgeschätzt werden.
Im Laufe der Gespräche mit diesen Jugendlichen erfährt man auch immer mehr, dass die Wertvorstellungen der Jugendlichen gar nicht in komplettem Widerspruch zu den eigenen Werten (eines progressiven Menschen) stehen. Man kann mit gutem Willen durchaus „Common Ground“ finden. Sogar Wörter wie „Ehre“, die bei vielen Linken einen leichten Brechreiz erzeugen, bekommen hier eine ganz andere, oft positive Bedeutung. Auch ihre Vorstellung von einer Welt ohne Korruption, Ungerechtigkeit und Krieg zeigen, dass der Unterschied oft nur in einer anderen (falschen) Antwort auf reale Probleme liegt, nicht aber in völlig entgegengesetzten Vorstellung einer besseren Welt.
Was das Buch für mich so besonders wertvoll macht, ist seine zentrale Aussage, dass man junge, zornige Menschen nicht von oben herab, wie überhebliche Lehrmeister behandeln soll. Man muss sie als gleichwertige Menschen behandeln und ihnen endlich das Gefühl geben, dass ihre Meinungen und Lebensgeschichten genauso relevant sind, wie die eigenen.
Aber das Buch bleibt nicht nur auf der persönlichen Ebene, aus der Sicht des Streetworkers, sondern geht noch tiefer auf die Theorie und Geschichte des Imperialismus ein, welche sich durch längere Gespräche und Chats zwischen dem Autor und einem der Jugendlichen ergeben. Ja, sogar die – für Linke auf ersten Blick völlig unverständliche – Sympathien für reaktionäre Gruppen wie den Taliban, werden nach genauer Betrachtung der Lebenssituation der Afghanen und ihrer 100-jährigen Geschichte ausländischer „Interventionen“ plötzlich verständlicher – auch wenn die Taliban in keiner Weise schöngeredet oder entschuldigt werden. Genauso wenig wird die Wut vieler Muslime über die beleidigenden Karikaturen von Charlie Hebdo isoliert betrachtet, sondern in den Kontext der brutalen kolonialen Geschichte Frankreich eingebettet, und so verständlicher gemacht.
Was das Buch für mich so besonders wertvoll macht, ist seine zentrale Aussage, dass man junge, zornige Menschen nicht von oben herab, wie überhebliche Lehrmeister behandeln soll. Man muss sie als gleichwertige Menschen behandeln und ihnen endlich das Gefühl geben, dass ihre Meinungen und Lebensgeschichten genauso relevant sind, wie die eigenen. Dann kann der richtige Umgang mit ihnen sie auch in eine bessere Richtung führen. Diese Haltung unterscheidet sich fundamental zum vorherrschenden Umgang der Politik und Medien mit Muslimen, die niemals mit ihnen, sondern immer über sie reden, sie so zu Menschen zweiter Klasse degradieren und ständig eine Unvereinbarkeit zwischen „dem Islam“ und „westlichen Werten“ konstruieren. Ein extremes Schwarz/Weiß-Weltbild, das sich im Grunde genommen kaum von dem des IS unterscheidet.
Die Wütenden von Fabian Reicher und Anja Melzer ist allen Leuten zu empfehlen, denen es wirklich darum geht, falsche, reaktionäre Vorstellungen unter Jugendlichen zu bekämpfen, statt (gewollt oder nicht) Kriegspropaganda für den „War against Terror“ zu betreiben und diese Menschen somit noch tiefer in die Isolation zu treiben, als sie es bereits sind.
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