Jännerstreik 1918: Verraten und verkauft
Zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren alle sozialdemokratischen Parteien klar antimilitaristisch und versprachen, wenn es zu Kriegen kommen sollte, würden sie Massenstreiks organisieren. Als dann 1914 der Kaiser den Krieg erklärte, unterstützten die europäischen Sozialdemokratien den Krieg. Otto Bauer, der führende Kopf des linken Flügels (Austromarxismus) der österreichischen Sozialdemokratie (SDAP), erklärte: „Wir (Österreich-Ungarn) sind im Recht. Alle Aktionen, die einen Anlass zur Unterdrückung unserer Organisation geben könnten, sind zu vermeiden“.
Im Stich gelassen
Auch wenn die Arbeiter_innenklasse gegen den Krieg war: Im Stich gelassen von der eigenen Partei, umgeben von einem kriegsbegeisterten Bürgertum und starker Repression ausgesetzt, gelang es ihr lange nicht, Widerstand zu organisieren.
Mit Kriegseintritt wurde das Kriegsleistungsgesetz in Kraft gesetzt, durch das die gesamte Schwerindustrie unter Kontrolle des Kriegsministeriums gestellt wurde. „Kriegsschädliche Handlungen“, z.B. Streiks, konnten mit dem Tode bestraft werden. Dazu kamen noch die Wiedereinführung der Nachtarbeit und Lohnkürzungen.
Widerstand
Nachdem viele Männer an die Front eingezogen wurden, mussten immer mehr Frauen und Jugendliche in der Industrie schuften, 40% (= 700.000) aller in der Schwerindustrie Beschäftigten waren Frauen. Die veränderte Zusammensetzung der Arbeiter_innenklasse führte u.a. dazu, dass die SDAP nicht mehr dieselbe Kontrolle über die Arbeiter_innenbewegung hatte, wie vor dem Krieg.
Schon im Jänner 1917 kam es zu militanten Streiks. In den Betrieben entstand ein System von Vertrauensleuten. Diese wurden manchmal von den Bossen ernannt, aber oft auch direkt von der Belegschaft gewählt. Sie spielten eine entscheidende Rolle im Jännerstreik 1918.
Brest-Litowsk
Nach der Oktoberrevolution verhandelte die revolutionäre Regierung der Bolschewiki mit den Mittelmächten, (Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Osmanisches Reich) über das Ende des Krieges an der Ostfront. Friede war die zentrale Forderung der russischen Revolution. Das wurde von der revolutionären Regierung sofort angegangen und von den Soldaten und Arbeiter_innen aller kriegführenden Länder gespannt verfolgt.
Am 11. November demonstrierten zwanzigtausend Wiener Arbeiter_innen in Solidarität mit den Bolschewiki. Wie bedrohlich die Lage für das Habsburgerreich war, zeigt ein Telegramm des österreichischen Kaisers an das Verhandlungsteam in Brest-Litowsk: „das ganze Schicksal der Monarchie und der Dynastie hängt von dem möglichst baldigen Friedensschluss in Brest-Litowsk ab”, sonst „ist hier die Revolution, wenn auch noch so viel zu essen ist”.
Jännerstreik 1918
Am 30. Dezember 1917 schlossen sich Linksradikale um den Anarchosyndikalisten Leo Rothziegel und den Lenin-Bekannten Franz Koritschoner zum „Arbeiter- und Soldatenrat“ zusammen. Am 12. Jänner veröffentlichten sie das Flugblatt „Arbeitendes Volk“, in dem zum Streik aufgerufen wird.
Als am 14. Jänner bekannt wurde, dass die Mehlrationen um 50% gekürzt werden, streikten die Arbeiter_innen der Daimler-Motorenwerke in Wiener Neustadt. Es bildete sich ein erster Arbeiter_innenrat, der die Streiks organisierte. Karl Renner, führende Persönlichkeit der SDAP, versuchte der Bewegung Einhalt zu gebieten und wurde von der Rednerbühne verjagt.
Am 15. Jänner breitete sich der Streik auf die umliegenden Industriestädte aus: über 50.000 Arbeiter_innen streikten. Zur Koordination der Streiks bildeten sich Arbeiter_innenräte. Aus der Erregung über die Senkung der Brotration wurde ein für die Herrscher Europas furchteinflößender, politischer Massenstreik. Die Führung der SDAP fuhr eine Doppelstrategie: Einerseits versuchte sie, sich an die Spitze der Bewegung zu stellen und gründete von oben herab eigene Räte.
Gleichzeitig forderte sie in der Arbeiter-Zeitung dazu auf, „Straßenexzesse“ zu vermeiden und begann mit der Regierung zu verhandeln. Der Marxist Roman Rosdolsky beschreibt in seinem Buch Die revolutionäre Situation in Österreich im Jahre 1918 und die Politik der Sozialdemokraten wie die SDAP ihre vier Forderungen der Streikbewegung, die sie am 17. Jänner als „Erklärung des Parteivorstandes“ veröffentlichte, zuerst mit dem Ministerpräsidenten Seidler absprach.
Doch noch hatte die SDAP keine Kontrolle über die Bewegung und der Streik erreichte am 19. Jänner endgültig Wien. Keine einzige bürgerliche Zeitung wurde an diesem Tag veröffentlicht, die Drucker_innen produzierten nur noch die Arbeiter-Zeitung. Die ideologische Propagandamaschinerie der Bourgeoisie schien besiegt. Der mächtige Habsburgerstaat geriet ins Wanken.
Doch schon eilte die Sozialdemokratie zur Rettung von Kapital, Vaterland und Krone herbei. Ein schnell zusammengeschusterter „Wiener Arbeiterrat“ trat zusammen. Bis halb vier Uhr nachts redeten die Parteiführer auf die Abgeordneten des Arbeiterrats ein, und brachten sie zum Einlenken. Mit 308 zu 2 Stimmen wurde das Verhandlungsergebnis der SDAP gebilligt und zum Abbruch des Streiks aufgerufen. Das Ergebnis war so klar, weil am Kongress größtenteils Wiener, oftmals Parteimitglieder, abstimmten.
In den Zentren der Streikbewegung wäre das Ergebnis nicht so klar ausgefallen. Am 20. Jänner streikten gigantische 750.000 Arbeiter_innen. Die SDAP organisierte Streikversammlungen, in denen sie zur Beendigung der Streiks aufrief. Es kam zu physischen Auseinandersetzungen zwischen militanten Arbeiter_innen und SDAP-Funktionären. Gleichzeitig begann die Polizei mit Verhaftungswellen von Linksradikalen. Die SDAP schaute wohlwollend zu. In den folgenden Tagen löste sich die Streikbewegung auf.
Konterrevolutionäre SDAP
Kurz nach dem Jännerstreik, am 1. Februar 1918, kam es zum Aufstand von Cattaro: 6.000 Matrosen der österreichisch-ungarischen Flotte hissten in der Bucht von Cattaro die Rote Fahne. Sie verlangten Frieden. Ein Schlüsselmoment der österreichischen Geschichte, denn der zentrale Moment der russischen Revolution war das Zusammenkommen von Arbeiter_innen- und Soldatenaufstand.
Diese geballte Macht hat die russiche Monarchie beseitigt. Auch in Österreich hätte dieses Zusammentreffen das Habsburgerreich binnen weniger Tage auseinandergenommen. Der Grund, wieso es nicht dazu kam, lag in der konterrevolutionären Rolle der SDAP. Der Journalist Julius Braunthal berichtete, dass der SDAP-Parteivorsitzende Viktor Adler von den Aufständen in Cattaro wusste und die Information bewusst unterdrückte, aus Angst die Arbeiter_innen würden wieder auf die Barrikaden gehen.
Roman Rosdolsky fasst zusammen: „Die Entscheidung hing von der Sozialdemokratie ab. In der äußerst zugespitzten außen- und innenpolitischen Lage gab es zwei Möglichkeiten: entweder Revolution, oder aber vorübergehende Rettung der Monarchien auf Kosten des militärisch wehrlosen Sowjetrusslands. Die Sozialdemokratie entschied sich für das zweite.“
Die Welt in Aufruhr
Die Bolschewiki übernahmen im Oktober 1917 die Macht mit der Hoffnung auf möglichst bald folgende Revolution in Rest-Europa. Mit den Verhandlungen von Brest-Litowsk versuchten sie auch, die europäischen Arbeiter_innen zum Aufstand zu bewegen. Während die Bolschewiki also auf eine internationale Revolution hinarbeiteten, erklärte Bauer in seiner Geschichte der „Österreichischen-Revolution“: „Die Steigerung des Streiks zur Revolution konnten wir nicht wollen … im Falle einer Revolution wären deutsche Truppen in Österreich einmarschiert“.
Bauer verschweigt die Tatsache, dass in Reaktion auf den Kampf der österreichischen Arbeiter_innen am 25. Jänner ein gigantischer Massenstreik in Deutschland ausbrach. Das zeigt, eine internationale Ausbreitung des Jännerstreiks war eine reale Möglichkeit. Dies hätte nicht nur den Krieg um 10 Monate verkürzt sondern auch die Bolschewiki in den Verhandlungen gestärkt, sie hätten die Ukraine, Weißrussland und Finnland und damit über 50% der gesamten Industriebetriebe nicht an Deutschland abgeben müssen.
Dadurch hätte die Sowjetunion eine viel bessere Ausgangslage für den Aufbau des Sozialismus gehabt, Stalin wäre vielleicht nie an die Macht gekommen. 1919 gründeten sich sowohl in Ungarn als auch in Bayern Räterepubliken, die aber bald von konterrevolutionären Kräften niedergemacht wurden. Mit Österreich zusammen hätten sie leichter überlebt und einen revolutionären Korridor bis an die Grenzen Russlands gebildet. Das hätte den Lauf des gesamten 20. Jahrhunderts verändert.