Afghanistan: Der Niedergang des US-Imperialismus
Der NATO-Einsatz in Afghanistan ist kolossal gescheitert. Weder hat er dem Land Frieden gebracht, noch haben die westlichen Mächte, allen voran die USA, ihre eigenen insgeheimen Ziele erreicht. Der Abzug der Truppen war eine Flucht, der Einsatz endete mit einer Niederlage der USA und ihrer Verbündeten. Es ist nicht die erste. Der Niedergang der USA als alleinige Weltmacht zeichnet sich seit Jahrzehnten ab, Afghanistan versetzte dem nochmal einen gewaltigen Schubs.
Afghanistan: Der Anfang vom Ende
„Das ist der Anfang vom Ende des amerikanischen Jahrhunderts“, fasste der marxistische Anthropologe Jonathan Neale die jüngsten Ereignisse zusammen. Der Wettkampf der imperialistischen Mächte, der zum Ersten Weltkrieg führte, brachte die USA 1918 als die stärkste Kraft hervor. Gegner gab es genug – Großbritannien, Deutschland, Russland, China usw. – aber die letzten Jahrzehnte brachten mehr und mehr Niederlagen, wie jene in Vietnam. Während der Angriff auf Vietnam mit der Bedrohung durch den Kommunismus gerechtfertigt wurde (Eisenhowers „Dominotheorie“), erklärte man die Besetzung Afghanistans im Herbst 2001, kurz nach 9/11, erstens zum Krieg gegen den Terror (angeblich hätten die Taliban die Al Quaida und ihren Anführer Osama Bin Laden unterstützt) und zweitens zu einer humanitären Intervention zur Rettung der afghanischen Frauen, um die kriegsmüden Amerikaner_innen von der Notwendigkeit des Einsatzes zu überzeugen.
Ist Imperialismus noch zeitgemäß?
Viele Linke vertreten die Auffassung, dass Imperialismus heute keine große Rolle mehr spielt. Anders gesagt: Konkurrenz zwischen Staaten würde nicht mehr zu Kriegen führen.
Zu den bekanntesten gehören der Literaturwissenschaftler Michael Hardt und der Philosoph Antonio Negri, die Anfang der 2000er in ihrem Buch Empire – die neue Weltordnung darzulegen versuchten, dass der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (wie Lenin es ausdrückte) überwunden sei, da die einzelnen Nationalstaaten gegenüber einem global agierenden Kapital an Bedeutung verloren hätten und damit die Konkurrenz untereinander beendet sei.
Das ist der Anfang vom Ende des amerikanischen Jahrhunderts
– Jonathan Neale, Marxist / Anthropologe
Zu einem ähnlichen Schluss (wenn auch von einem anderen Ausgangspunkt aus) führt auch der Begriff „Ende der Geschichte“, den der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama zunächst 1989 in einem Artikel und 1992 mit seinem Buch The End of History and the Last Man populär machte. Er meint damit, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges auch die Konkurrenz zwischen verschiedenen Wirtschafts- bzw. Gesellschaftssystemen vergangen sei und sich die kapitalistisch strukturierte, liberale Demokratie als beste aller Möglichkeiten, als Endsieger durchgesetzt habe. Da laut Fukuyama schließlich alle Länder des ehemaligen Ostblocks diese Form der staatlichen Organisierung annehmen würden, müsste das globale Zusammenleben in letzter Konsequenz großteils harmonisch ablaufen.
Die Realität hat die Theorie von Hardt und Negri bereits widerlegt (Irak- und Afghanistankrieg). Im Ernstfall greift das Kapital sehr wohl auf die bewaffnete Macht des Staates zurück. Und auch der Glaube an ein harmonisches Ende der Geschichte bleibt naives Wunschdenken. Der Triumph des westlichen Kapitalismus hat der Menschheit keinen Frieden gebracht. Im Gegenteil: Russland verlor zwar seinen Status als konkurrenzfähige Großmacht des Ostens, die ehemaligen Sowjetländer wurden so aber zu neu umkämpften Gebieten. Wobei sowohl die EU als auch die NATO, als Bündnisse der westlichen Staaten unter Führung der USA, ihren Wirkkreis mittlerweile bis in die Ukraine ausgedehnt haben.
Imperialismus heute
Schon rund 100 Jahre vor Hardt, Negri und Fukuyama stellte der SPD-Theoretiker Karl Kautsky die These des Ultra-Imperialismus auf, wonach sich die imperialistische Konkurrenz zugunsten eines großen, gemeinsam agierenden Staatenbundes auflösen würde. Prompt wurde er vom Ersten Weltkrieg widerlegt.
Die russischen Revolutionäre Bucharin und Lenin betonten hingegen, dass das Wesen des Imperialismus gerade in dieser kriegerischen Konkurrenz der Kapitalisten untereinander liegt. Da Staaten die eigenen Unternehmen stärken wollen, können ökonomische Konflikte zwischen großen Konzernen in politische bzw. militärische Konflikte zwischen Staaten umschlagen. Imperialismus entsteht aus der Verwebung von ökonomischen und geopolitischen Interessen.
Genau das geschah in Afghanistan. Mitte der 1990er Jahre unterstützten die USA noch die Taliban in der Hoffnung, dass diese die Verhältnisse in Afghanistan so stabilisieren könnten, dass ungehindert Öl- und Gas aus Zentralasien durch Pipelines auf afghanischem Boden fließen könne. Nachdem klar wurde, dass die Taliban das Land nicht unter Kontrolle hatten, zogen die USA ihre Unterstützung zurück. 2001 bot sich für die USA eine willkommene Gelegenheit, wieder Einfluss auf Afghanistan zu gewinnen.
Ähnlich lief auch die Invasion im Irak ab. Die USA versprachen sich vom Irak ausgehend die Kontrolle über den Nahen Osten und die Macht der Einschüchterung über die Länder, die von Öllieferungen aus der Region abhängig sind.
Terror als Produkt des Imperialismus
Am Anfang des Angriffs auf den Irak stand eine Lüge: angeblich warteten dort Massenvernichtungswaffen nur auf ihren Einsatz gegen die Staaten des Westens. Unter Bush marschierten US-Truppen im März 2003 in den Irak ein, im April fiel Husseins Regierung und die Hauptstadt Bagdad befand sich unter der Kontrolle der USA. Dabei zerstörten sie einen Großteil der Infrastruktur des Landes, provozierten einen Bürgerkrieg und stürzten die irakische Bevölkerung in existenzbedrohendes Elend. 2011 zogen sich die USA schließlich zurück, nur um drei Jahre später wieder einzumarschieren, um die in dieser Zeit aufgestiegene islamistische Terrororganisation ISIS zu bekämpfen.
Ebenso wie ISIS sind die Taliban ein Produkt des Imperialismus, sie entstanden aus dem Widerstand gegen die Besatzungen. Taliban leitet sich ab vom arabischen Begriff „talib“ und bedeutet „Schüler“. Die Gruppe gründete sich 1994 und bildete sich aus islamischen Schulen in Flüchtlingslagern in Pakistan heraus. Die meisten der Mitglieder hatten entweder Familienmitglieder oder selbst Gliedmaßen oder ein Auge durch sowjetische Bomben und Folter verloren. Anders als die damalige kommunistische Führung, die sich aus der gut gebildeten, städtischen Mittelschicht formierte, stammten die Kämpfer der Taliban aus den unteren Klassen der ländlichen Gegenden. Das ist auch ein Grund für den starken Rückhalt, den die Taliban in der Bevölkerung hatten und haben.
Etwa 80 Prozent der Afghan_innen leben am Land, der Boden jedoch gehörte lange lokalen Großgrundbesitzern, die in den Städten lebten und die Menschen in den Dörfern massiv ausbeuteten und unterdrückten. Die Taliban stürzten diese in breiten Teilen des Landes und damit stehen sie auch für den Kampf der kleinen Leute gegen die Willkür der machthabenden Eliten, kurz: sie stehen für Klassenkampf, auch wenn sie es nicht so nennen. Die Erfahrung der sowjetischen, sich als kommunistisch deklarierenden Besatzung stellte sich einer positiven Bezugnahme auf sozialistisch bzw. kommunistisch geprägte Begriffe in den Weg. „Die Taliban sprechen nicht in der Sprache der Klasse, sondern in der Sprache der Gerechtigkeit und Korruption“, so Neale weiter. Zwar wäre es falsch, die Taliban nur als Rächer der Armen zu begreifen, es ist wichtig, die realen Gründe für ihren Rückhalt zu sehen.
Lügen der USA haben System
Wie schlimm die Niederlage in Afghanistan für die USA ist, sieht man deutlicher, wenn man die Vorgeschichte vor Augen hat. Die ist geprägt vom sogenannten Vietnamsyndrom. Im Stellvertreterkrieg gegen die UdSSR fuhren die USA 1975 in Vietnam die erste große militärische Niederlage ihrer Geschichte ein – durch die Vietcong, die Guerillaarmee des kommunistischen Nordvietnams. Auf diesen Krieg und diese Niederlage reagierte die amerikanische Öffentlichkeit mit einer militanten Ablehnung von jeglichen Einsätzen amerikanischer Truppen.
Die offiziellen Zahlen der zivilen Todesopfer im Irak schwanken zwischen 115.000 und 2 Millionen
Ein erster zaghafter Versuch diese Stimmung zu durchbrechen, war der Einmarsch von 1983 in die kleine Karibikinsel Grenada unter Präsident Reagan. Und zwar mit fadenscheinigen Begründungen, die sich, vergleichbar mit den Massenvernichtungswaffen im Irak, als astreine Lügen entpuppten.
In Grenada hatte 1979 die sozialistisch ausgerichtete New Jewel Movement (NJM) im Zuge einer Revolution die Regierung unter Eric Gairy (ein Verbündeter der USA und von der Queen zum Ritter geschlagen) vertrieben und, nun selbst an er Spitze des Staats, in Folge einige soziale Reformen durchgeführt, wie z.B. die Einführung eines kostenlosen Gesundheitssystems. Die US-Regierung begann daraufhin eine Hetzkampagne und fantasierte den Bau eines sowjetischen U-Boot-Stützpunktes und massive Waffenlieferungen aus der Sowjetunion herbei. Nichts davon entsprach der Wahrheit, was auch belegt werden konnte (sowohl von der Regierung Grenadas als auch von US-Korrespondenten). Grenadas Premierminister Bishop reiste in die USA, um die Vorwürfe richtig zu stellen. Bei seiner Rückkehr wurde er durch einen Putsch vom stalinistischen Flügel seiner Partei entmachtet und später ermordet. Demonstrationen für seine Freilassung wurden blutig niedergeschlagen. Diese Turbulenzen nutzten die USA im Oktober 1983 um eine Invasion auf Grenada zu rechtfertigen. Nach wenigen Tagen hatten die weit überlegenen USA die Karibikinsel unter Kontrolle und konnten im Dezember mit erreichtem Ziel wieder abziehen. Einige hundert Tote später war Grenada somit wieder den USA hörig.
Die offiziellen Zahlen der zivilen Todesopfer im Irak schwanken zwischen 115.000 und 2 Millionen; immer wieder kamen Berichte grausamer Kriegsverbrechen von US-Streitkräften an die Öffentlichkeit, wie etwa das Massaker von Haditha im November 2005, bei dem US-Soldaten im Zuge einer Vergeltungsaktion 24 irakische Zivilisten, darunter auch Kinder, ermordeten. Die USA zogen ab, ohne Erreichen ihres erklärten Zieles, ISIS auszuschalten. Und nun flohen sie aus Afghanistan, um der offensichtlichen Niederlage zu entgehen und überließen den Taliban das Feld.
Wie geht’s weiter?
Lenin bezeichnete Imperialismus in seiner gleichnamigen Broschüre als höchstes und jüngstes Stadium von Kapitalismus. Seine Definition von Imperialismus beinhaltet die Konzentration von Produktionskräften und Kapital auf einem so hohen Level, dass sich Monopole bilden. Diese werden schließlich so mächtig, dass sie sowohl den Markt als auch all seine Territorien beherrschen und unter sich aufteilen können. Imperialismus erstarrt nicht in einer abgeschlossenen Aufteilung, sondern steigert sich, entwickelt sich weiter und passt sich an, wie an den sich wandelnden Rechtfertigungen erkennbar ist. Auch die Akteure müssen nicht dieselben bleiben. Zur Zeit Lenins war Großbritannien die mächtigste Kraft; unter ihren Konkurrenten gingen schließlich die USA als größte Macht hervor und lösten Großbritannien ab.
Die Tage der US-Vorherrschaft scheinen nun nach einem Jahrhundert gezählt. Kampflos aufgeben werden sie diesen Posten aber nicht und an Konkurrenten mangelt es auch heute nicht.
Mittlerweile ist China zur größten Wirtschaftsmacht aufgestiegen, was dem Staat die Macht verleiht, auch geopolitische Interessen zu verfolgen und mit den USA um deren bisherige Einflusssphären zu konkurrieren.
Was sich in diesem neuen Zeitalter des Imperialismus nicht ändern wird, ist seine Grausamkeit. In der Vergangenheit haben die USA unliebsame Länder, die sie militärisch nicht unterwerfen konnten – Irak, Iran, Kuba oder Vietnam – mit ökonomischen Sanktionen belegt und gezielt humanitäre Katastrophen provoziert.
Um noch einmal Neale zu zitieren: „In den USA werden sich viele Stimmen erheben und solche Sanktionen fordern, um afghanische Kinder im Namen der Menschenrechte auszuhungern.“ Sichere Fluchtwege sind das einzige, was diese Kinder erst einmal aus diesem Kreuzfeuer retten kann. Von Dauer kann diese Rettung nur sein, wenn das Kapitel Imperialismus nicht nur das jüngste sondern tatsächlich das letzte bleibt und wir das Buch Kapitalismus endlich zuklappen können.