China: Kommunistische Millionäre sind die besseren Kapitalisten

China bleibt eine turbokapitalistische Ein-Parteien-Diktatur. Dass die Staatsführung die Macht mancher Riesenkonzerne beschnitten hat, befeuerte unter Linken die Hoffnung, China hätte mit der kapitalistischen Logik gebrochen. Auch in bürgerlichen Medien ist von der „Rückkehr zu Maos Sozialismus die Rede“.
1. März 2022 |

Im Falle des Immobilienkonzerns Evergrande steht China vor zwei schlechten Optionen. Entweder es rettet den Konzern auf Staatskosten um eine Ausweitung der Krise zu verhindern, oder es lässt den Konzern fallen. Wie sich die KP auch entscheidet, in beiden Fällen bewegt sie sich innerhalb der kapitalistischen Logik. Entweder sie handelt wie westliche Staaten während der Finanzkrise und rettet den Konzern, um eine Ausweitung der Krise zu verhindern (too big to fail), oder sie folgt einer libertär-marktwirtschaftlichen Logik und lässt den Konzern Pleite gehen. Auf jeden Fall zeigt uns der Fall: wir haben es mit keiner sozialistischen Utopie zu tun. Wäre China ein sozialistischer Staat, wäre es undenkbar, dass hunderttausende Wohnungen für Spekulationszwecke leerstehen, während in den Megastädten die Wohnungsnot explodiert.

Erfolge im Kampf gegen Armut

850 Millionen Menschen befreite China in den letzten 40 Jahren aus der Armut. Der weltweite Rückgang der extremen Armut wird quasi ausschließlich von China angetrieben. Selbst der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen, Philip Alston, musste 2016 zugeben: „Beindruckend ist die Tatsache, dass nicht nur bei der Bekämpfung der einkommensbedingten Armut Fortschritte erzielt wurden, sondern auch bei der Verwirklichung vielfältiger sozialer Ziele.“ Waren 2003 gerade einmal zehn von hundert Chines_innen krankenversichert, sind es 2016 schon 95 von 100. Die Säuglingssterblichkeit sank in den letzten 20 Jahren um 60% und liegt mittlerweile ungefähr bei 7 auf 1.000 Neugeborene. In den USA ca. 6 auf 1.000 und in Österreich 3 auf 1.000. Mit dem Rückgang der Armut stieg auch die soziale Ungleichheit.

Im Westen findet kein vergleichbarer ökonomischer Aufschwung statt, und von der Politik werden keine Schritte zur Verbesserung der Lebensumstände gesetzt. Bei uns steigt nur die soziale Ungleichheit ohne Verbesserung der Lebensumstände. Die sozialen Fortschritte Chinas sind nicht nur der Produktion für den Weltmarkt zu verdanken, sondern reflektieren die Macht der chinesischen Arbeiter_innenklasse.

Arbeiter_innenbewegung

Die chinesische Arbeiter_innenklasse ist nicht nur die größte sondern auch eine der militantesten der Welt. Im Unterschied zum Westen führen Streiks in China automatisch zu einer Konfrontation mit dem Staatsapparat. Das bedeutet nicht nur Repression, sondern auch, dass kaum Informationen über Streiks nach außen getragen werden. Nach Streikwellen in den Jahren 2013 wurden hunderte Arbeiter_innen verhaftet. Die Website China Labour Bulletin schätzt, dass es allein in diesem Jahr mindestens 700 Streiks in China gab. Marx beschreibt das Kapital als Vampir, der den Arbeiter_innen das Blut aus dem Körper saugt. Genauso wie ein Vampir abhängig vom Blut ist, sind Kapitalisten abhängig von der Arbeitskraft. Die größte Furcht der chinesischen KP sind Massenstreiks, welche die Kapitalakkumulation längerfristig lahmlegen. Durch soziale Reformen versucht die KP dieses Risiko zu minimieren.

Entstehung der Volksrepublik China

Am 1. Oktober 1949 begrüßten Hunderttausende den Sieg Maos Roter Armee über die Truppen Chiang Kai-sheks. Millionen Menschen auf der ganzen Welt jubelten ob dieses antikolonialen Donnerschlages. Ob Südafrika, Vietnam, Kuba oder Algerien, die Botschaft, es ist möglich sich von kolonialer Unterdrückung zu befreien, wurde in jedem Winkel der Erde vernommen.

Aufgrund des geringen Vorkommens fossiler Brennstoffe setzt China bei der Energieerzeugung stark auf Wasserkraft. Dies führt regelmäßig zum Konflikt mit bäuerlichen Kleinstrukturen, welche ihre angestammte Siedlungsorte in Tälern verlassen müssen. Aktuell erlebt China aufgrund einer Dürreperiode, steigender Nachfrage und explodierender Kohlepreise eine Energieknappheit. Die chinesische Energieknappheit führt zu globalen Liefer- und Produktionsengpässen.
Foto: Wikimedia Commons

Die Basis der Roten Armee Maos waren Bauern, später Studierende und Kleinkriminelle. Innerhalb der KP war klar, dies war eine Revolution der Armee, nicht der Arbeiter_innenklasse. Trotzdem hielten die chinesische Führung und das Ausland an dem Trugbild eines sozialistischen Staates nach einer siegreichen sozialistischen Revolution fest.

Keine Revolution der Arbeiterklasse

Die chinesische Revolution breitete sich nicht von den Industriezentren aus, sondern die Rote Armee umzingelte die Städte. Die Arbeiter_innenklasse, die mit ihrer Selbstorganisation Kapitalismus durch ein demokratisches Wirtschaftssystem ersetzen kann, wurde nicht mobilisiert. Während die bäuerliche Produktionsweise auf kleinen Familienzusammenhängen beruht, wird die Arbeiter_innenklasse vom Kapitalismus kollektiv organisiert. Revolutionen der Arbeiter_innenklasse benötigen demnach demokratische Elemente, in der Geschichte waren dies Räte oder Sowjets. Diese Institutionen beruhten darauf, dass sich Arbeiter_innen in Fabriken oder Stadtvierteln Delegierte wählten, welche Produktion und Zusammenleben organisierten. Im Unterschied zu Parlamentariern genießen Rätedelegierte keinerlei Privilegien und sind jederzeit abwählbar. Während die russische Arbeiter_innenklasse in ihrer Revolution 1917 Erfahrungen mit solchen Momenten demokratischer Herrschaft machte, kamen diese in China nicht vor. Die Arbeiter_innenklasse war in der chinesischen Revolution passives Objekt nicht aktive Kraft.

Vor der Eroberung Shanghais rief Mao nicht zu Generalstreik geschweige denn Selbstaktivität der Arbeiter_innenklasse auf, sondern forderte in einer Sondererklärung: „Wir hoffen, dass die Arbeiter und die Angestellten aller Industriezweige weiterarbeiten und dass das Geschäftsleben seinen gewöhnlichen Gang nimmt.“ Mit Revolution wie Marx sie sich vorstellt: „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ hat Maos Triumph nichts zu tun.

Neue Ökonomische Politik

Wirtschaftlich orientierte sich China an einer abgeschwächten Form der „Neuen Ökonomischen Politik“ (NEP) der jungen Sowjetunion. Lenin beschrieb diese Politik als Staatskapitalismus. In der Sowjetunion zielte die NEP auf eine staatliche Kontrolle der Schwerindustrie und des Bankwesens, bei Zulassung privatwirtschaftlicher Elemente in der Landwirtschaft und dem Konsumsektor. Sie war ein Eingeständnis der Schwäche. Weil Russlands Industrie durch Krieg und Bürgerkrieg völlig zerstört war mussten privatwirtschaftliche Elemente zugelassen werden. Chinas Machthaber hatten gar nie das Ziel einer kollektiven Produktion unter Kontrolle der Arbeiterklasse. Was sie sozialistische Produktion nennen ist Staatskapitalismus unter der Herrschaft der Elite des Parteiapparats.

Die chinesischen Gewerkschaften wurden dem Ziel der Kapitalakkumulation untergeordnet. Ihre Aufgabe ist es „die Arbeiter dazu zu erziehen, die Gesetze und Erlasse des Staates zu befolgen, für die Entwicklung der Produktion zu kämpfen sowie für die beständige Steigerung der Arbeitsproduktivität und die Erfüllung beziehungsweise Überfüllung der Produktionspläne des Staates.“ Würden wir das Wort Gewerkschaft weglassen und Staat durch Konzern ersetzen, wir hätten eine treffende Definition der Aufgaben des mittleren Managements in kapitalistischen Unternehmen.

Ökonomische Öffnung

Nach dem Tod Maos 1976 wurde Deng Xiaoping zum Generalsekretär der KP. Dieser liberalisierte die chinesische Wirtschaft: Warenpreise wurden nicht mehr staatlich festgeschrieben und der Fluss von ausländischem Kapital nach China erleichtert. Diese Öffnung für den Weltmarkt, China als Billig-Produktionsstätte der Welt, legte die Grundlage für den ökonomischen Aufstieg. 2011 schätzte die US-China Economic and Security Review Commission: „Der im Staatsbesitz stehende oder kontrollierte Anteil der chinesischen Wirtschaft macht mehr als 40% des nicht-landwirtschaftlichen BIP Chinas aus.“

Gründer des Onlineversandhändlers Alibaba Jack Ma. Seit den 80er-Jahren war er Mitglied der KP Chinas. Foto: Wikimedia Commons

Wichtiger als der direkte Staatsbesitz ist für die Kommunistische Partei ihr personeller Einfluss auf die Wirtschaft. Im Techniksektor werden 95 der Top 100 Unternehmen von Menschen gegründet oder kontrolliert, welche aus Vorfeldorganisationen der KP stammen. In ihrem Buch Red Capitalism von 2012 argumentieren die Finanzexperten Walter Carl und Howie Fraser: „Alle chinesischen Unternehmen sind tatsächlich entweder staatseigene Unternehmen oder staatlich beaufsichtigte Unternehmen. Der private Sektor ist der Partei verpflichtet.“

Ein Beispiel für den Zugriff der KP auf die Privatwirtschaft ist der Gründer des Onlineversandhändlers Alibaba Jack Ma. Seit den 80er-Jahren war er Mitglied der KP Chinas. Er hielt seine Position für so gefestigt, dass er es wagte, den zu starken Zugriff des Staates auf das Bankenwesen zu kritisieren. Direkt nach der Kritik wurde sein Konzern zu 2,3 Milliarden Euro Strafzahlung aufgrund des Ausnutzens seiner Monopolstellung verurteilt. Auch der Gründer von Evergrande, Hui Ka Yan, stammt aus dem Umfeld der KP. Wer als Privatkapitalist in China erfolgreich sein will, benötigt das Wohlwollen der Partei.

Bürokratische Doppelherrschaft

In der Roten Armee der Sowjetunion gab es im Zweiten Weltkrieg in jedem Bataillon neben dem Offizier einen Politoffizier, welcher dazu befugt war Befehle aufzuheben, wenn sie den Interessen der Partei zuwiderliefen. Ähnlich wie in der sowjetischen Armee existieren in mindestens 68% der chinesischen Unternehmen Parteizellen, welche das Management überwachen.

Anders als Rätestrukturen in der frühen Sowjetunion sind diese Parteizellen keine demokratischen Organe der Arbeiter_innenklasse, sondern von der Partei eingesetzte Funktionäre. Wenn Topmanager in Ungnade fallen, greift die Partei auf diese Zellen zurück, um mit deren Informationen das Management zu strafen oder zu ersetzen.

Größtes Millionärstreffen der Welt

Der marxistische Theoretiker Chris Harman argumentierte, dass wir es im entwickelten Kapitalismus mit einer „strukturellen Interdependenz“ (gegenseitige Abhängigkeit) von Kapital und Staat zu tun haben. Auch im frei marktwirtschaftlichen Kapitalismus benötigen multinationale Konzerne Staaten, welche ihnen ausgebildete Arbeitskräfte, funktionierende Infrastruktur usw. zur Verfügung stellen. Das fließende Hin- und Herwechseln von Managern in die Politik und veralteter Politiker ins Management ist der personelle Ausdruck dieser gegenseitigen Abhängigkeit. In China existiert dasselbe Phänomen in noch offenerer und ausgeprägterer Form. Mit dem Unterschied, dass der Staat von einer einzigen Partei gelenkt wird und sich diese Partei demnach größere Kontrollrechte über die Wirtschaft herausnehmen kann. Ein interner Bericht der KP Chinas von 2006 zeigt, dass 90% aller Millionäre Nachkommen hochrangiger KP-Funktionäre sind.

Die 70 reichsten Menschen der 3.000 Abgeordneten des Nationalen Volkskongress Chinas des Jahres 2011 besaßen insgesamt ein Privatvermögen von 90 Milliarden US-Dollar. Ohne zu übertreiben sind die Parteitage der Kommunistischen Partei Chinas die wahrscheinlich größten Milliardärstreffen der Welt.