Christian Zeller: „Die ökologische Zerstörung ist immer auch ein Infragestellen der unmittelbaren Gesundheit der Menschen“
Linkswende jetzt: Im 20. Jahrhundert konnten wir als Sozialist_innen behaupten, Sozialismus wird das allgemeine Wohlstandsniveau erhöhen. Im Jahrhundert des Klimawandels geht uns diese Behauptung nicht mehr so leicht von den Lippen. Andreas Malm spricht vom Kriegskommunismus als Zukunftsperspektive. Was wäre deine Einschätzung zu diesen Überlegungen aus ökosozialistischer Perspektive?
Christian Zeller: Ja, das ist eine zentrale Herausforderung für die ökosozialistische/kommunistische Linke. Wir sehen, dass wir viele Dinge neu denken müssen. Die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung im Westen wie die Geschichte des Marxismus, wobei ich mich nicht auf Marx selbst, sondern auf die Interpretation seiner Schriften beziehe, war von einer stark produktivistischen Vorstellung geprägt. Die Hoffnung war, mit der Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise auch die durch den Kapitalismus gehemmten Produktivkräfte zu entfalten. Durch mehr Produktion zu mehr Wohlstand.
Jetzt ist die Sache mit dem Wohlstand eine schwierige Frage. Natürlich sind Produktivkräfte nicht nur materiell zu verstehen – im Sinne von Tonnen Stahl pro Zeiteneinheit. Produktivkräfte sind auch Bildung, Kultur, Kreativität und so weiter. Mehr Bildung, mehr Kreativität bedeutet nicht zwangsläufig die Erhöhung der stofflichen Produktion. Wohlstand, ein gutes Leben für alle, ist mit einer Steigerung der Produktivkräfte verbunden, aber eben im Sinne von mehr Kreativität, mehr Entfaltung.
Von der Erhöhung des Materials und Energiedurchsatzes müssen wir abkommen, beziehungsweise weltweit gesehen den Energie- und Materialdurchsatz reduzieren. Diese Fragestellung hat die marxistische Bewegung in ihrer Vergangenheit nicht beschäftigt. Wie kann diese Reduktion geschehen, das ist auch für den Wissenschaftsbetrieb eine zentrale Frage.
Mir sind keine Studien bekannt, die sagen, dass wir das Wirtschaftswachstum weltweit vorantreiben und den Stoff und Energieverbrauch reduzieren könnten. Auf diesen Widerspruch verweisen Naturwissenschaftler_innen mit dem Begriff der „planetary boundaries“. In vielen Bereichen haben wir die Grenzen der planetaren Belastbarkeit bereits überschritten.
Linkswende: Die reformistischen Linken hofft auf einen Green New Deal. Du zeigst in deinem Buch „Revolution für das Klima“, dass der Staat in der Phase des New Deals bereit war, massiv in die Wirtschaft einzugreifen. Beispielsweise lag der Spitzensteuersatz im zweiten Weltkrieg bei 94%. Ist der Green New Deal eine realistische Hoffnung.
Christian Zeller: Der Green New Deal, generell Vorstellungen von sozial-ökologische Transformation, stehen vor den bereits genannten Problemen. Sie hoffen darauf, dass es unter kapitalistischen Vorzeichen möglich ist, Profitraten zu erhalten und gleichzeitig eine ökologische Transformation durchzusetzen. Wenn man etwas konkreter hinschaut, müsste noch eine weitere Bedingung erfüllt sein: Die Profitabilität in den neuen grünen Sektoren müsste höher sein als in den fossilen Sektoren. Nur unter diesen Bedingungen würde Kapital im großen Stil in diese nicht-fossilen Sektoren abwandern. Diese Annahme ist unrealistisch.
Nehmen wir an, es ist möglich, aber unter welchen Voraussetzungen: Nur unter Bedingungen der verstärkten Ausbeutung der Arbeit. Zweitens unter den Bedingungen eines knallharten Rohstoffimperialismus. Dieser müsste dafür sorgen, dass die Importpreise der erforderlichen Rohstoffe günstig sind.
Es gibt eine Reihe von Widersprüchen. Ich argumentiere, diese Widersprüche sind unauflösbar. Es wird unter Kapitalherrschaft keine ökologische Transformation geben.
Insofern erachte ich Modelle für illusorisch, die davon ausgehen, wir könnten eine Übergangsphase einleiten. Ein weiterer Punkt ist, das Erdsystem verändert sich. Die planetaren Grenzen, auch bekannt als Kipppunkte, führen dazu, dass sich das Klimasystem rasch verändert. Große Teile der Erde werden nicht mehr auf dieselbe Art bewohnbar sein, wie sie es jetzt sind. Diese physischen Veränderungen des Erdsystem führen dazu, dass alle bisherigen Vorstellungen von schrittweiser gradueller Veränderung unserer Gesellschaft Makulatur sind. Die graduellen Vorstellungen gehen davon aus, dass man mehr oder weniger stabile Bedingungen hat. In diesen könnten wir Schritt für Schritt Kräfte akkumulieren, beispielsweise, indem sich Bewusstseinsprozesse verändern. Eine solche lineare Entwicklung wird aber nicht der Fall sein. Die Veränderungen erfolgen bruchartig.
Linkswende: Der russische Angriffskrieg führt zu einer Aufrüstungswelle. Es eröffnen sich Möglichkeiten, auf erneuerbare Energieträger umzusteigen, gleichzeitig wird Fracking wieder zum Thema. Was sind unsere Aufgaben in diesem Kontext.
Christian Zeller: Der russische Angriffskrieg kann nicht losgelöst von der fossilen Beschaffenheit unsere Ökonomie verstanden werden. In der politisch/öffentlichen Diskussion bekommt diese Debatte den Bezug, wir müssen die Abhängigkeit von den fossilen Energieträgern aus Russland abbauen. Wobei die Betonung Russland ist, und nicht die fossilen Energieträger. Meines Erachtens nach müsste man aus einer radikalen Klimabewegungsperspektive sagen: ja, wir verzichten auf das russische Gas und auf das Öl. Aber keine einzige Tonne davon wird durch andere Quellen ausgeglichen. Für diese Forderung braucht es eine Verbindung zwischen Antikriegs- und Klimabewegung.
Linkswende: In den letzten Jahren erlebten wir unterschiedlichste soziale Bewegungen um das Thema Mobilität. Gelbwesten in Frankreich, Fahrpreiserhöhung in Chile, Öl-Subventionen in Ecuador. Der Linken ist es schwergefallen in die Gelbwesten Bewegung zu intervenieren.
Christian Zeller: Gelbwesten: Als die Bewegung vor ein paar Jahren aufkam für mich war sonnenklar, dass man die Bewegung aus einer sozialistischen wie auch aus einer ökosozialistischen Perspektive unterstützen muss. Wenn die Menschen unter hohen Treibstoffpreisen leiden, weil sie gezwungen sind, Hunderte Kilometer von ihrem Arbeitsort entfernt zu wohnen, dann ist das nicht ihre Schuld. Es gibt auch erzwungene Mobilität, die sozial extrem ungleich verteilt ist. Mobilität erscheint oft als Synonym für Freiheit. Das ist ein Irrtum.
Zur Verkehrsfrage: Wenn wir den Ausbau des öffentlichen Verkehrs fordern, Radwege, Fußwege usw., dann müssen wir auch eine Stadt der kurzen Wege fordern. Wir müssen die Raumordnung ändern. Dadurch greifen wir sofort in eine Kernfrage der kapitalistischen Gesellschaft ein, nämlich in das Bodenrecht. Wer bestimmt was, wo, wie, wann gemacht wird. Einerseits ist eine Forderung wie gratis öffentlicher Verkehr richtig. Aber es ist keine Lösung. Es ist ein Schritt zur Mobilisierung des Bewusstseins, aber wir müssen den Verkehrsaufwand insgesamt reduzieren. Hohe Preise dürfen Menschen nicht dazu zwingen 50-60 Kilometer vom Arbeitsort entfernt zu wohnen.
Wenn das politische Kräfteverhältnis stimmt, könnte in Städten in relativ kurzer Zeit ein umfangreiches System von Bussen, Kleinbussen, Mischformen von Taxis und Bussen, Ruftaxis usw. aufgebaut werden. In ein paar Jahren könnte eine umfassende Infrastruktur geschaffen werden. In Salzburg geschieht das genaue Gegenteil. Ein absurdes Projekt will die Lokalbahn für ein paar Hundert Meter unterirdisch führen. Man könnte mit dem gleichen Geld in der ganzen Region ein Schnellbussystem errichten.
Linkswende: In den letzten Jahren diskutiert die Linke wieder über Planwirtschaft. Viele hoffen, dass Fortschritte im IT-Sektor Informationsprobleme, welche die sowjetische Wirtschaft hemmten, überwunden werden könnten. Gleichzeitig gibt es Kritik, diese Vorstellungen gingen in Richtung Technokratie usw. Glaubst du, wir können Technologien, die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft erzeugt wurden, für Schritte hin zu einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nutzen.
Christian Zeller: Ich bin einverstanden mit der These, dass wir mit moderner Informationstechnologie viele praktische Probleme einfacher lösen könnten. Natürlich sollten wir diese Technologien nützen. Doch das kann nicht allein die Antwort sein. Ich referiere das jetzt aus einem Arbeitsfeld, mit dem ich mich längere Zeit beschäftigt habe: Nämlich der Frage, wie Innovationsprozesse funktionieren. Viele Innovationsprozesse/Lernprozesse beruhen nicht nur auf der Weitergabe von aufgeschriebenem Wissen. Sondern viele geschehen durch stilles praktisches Wissen. Das heißt soziale Interaktion, gemeinsame kollektive Lernprozesse.
Das ist eine große Herausforderung für kapitalistische Konzerne. Sie stehen immer vor dem Widerspruch Wissen mittels Patenten zu privatisieren, und gleichzeitig vor der Aufgabe, Wissen innerhalb ihrer Konzerne möglichst gut zu verbreiten. Es wäre absurd, aus einer sozialistischen Perspektive zu denken, dass man diesen Widerspruch einfach ausschalten kann, nur weil man die Wirtschaft entprivatisiert.
Man muss weitere Formen finden, wie man die neuen Technologien nutzen kann. Sie allein sind noch kein Allerweltsmittel. Es braucht kollektive Lernprozesse, damit kommen wir direkt zur Frage der Demokratie. Wie können Produktionsprozesse, Austauschprozesse, Kommunikationsprozesse demokratisch organisiert werden. Der englische Ökonom Pat Devine hat interessante Überlegungen angestellt, wie Planungsprozesse mit Verhandlungsprozessen kombiniert werden können. Verhandlungsprozessen von Unternehmenseinheiten, Planungseinheiten und so weiter, das ist nicht der Markt. Diese Debatte müsste man wieder aufgreifen. Aber ich wäre vorsichtig, in so eine Art Technogläubigkeit zu verfallen. Nur weil wir jetzt riesige Rechner haben, können wir die Probleme lösen, das halte ich für eine absurde Vorstellung.
Linkswende: Wie kommt die revolutionäre Linke wieder in die Situation, die Machtfrage stellen zu können.
Christian Zeller: Grundsätzlich geht es um eine Methode, die mehrere Ansätze miteinander vereint. Wir müssen vom Bewusstseinsstand eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung und auch fortgeschrittener Teile der Bewegung der Lohnabhängigen ausgehen. Wir wissen, dass das Bewusstsein nicht da ist, wo es sein sollte. Das ist der Ausgangspunkt, dem müssen wir uns stellen.
Der andere Ausgangspunkt ist die Erkenntnis des Bruchs, des revolutionären Bruchs. Die beiden Dingen müssen wir miteinander verbinden. Mein Ansatz wäre, dass wir Perspektiven entwickeln, durch die wir diese Verbindungen herstellen können. Eine zentrale Achse sind die fossilen Energieträger. Hier gilt es die Antikriegsbewegung und die Klimabewegung miteinander zu verbinden.
Gleichzeitig ist es nötig, in die Welt der Arbeit der Gewerkschaften hineinzuragen. Hier müssen wir eine Diskussion provozieren, dass sich Gewerkschaften nicht nur als für die Löhne und unmittelbaren Arbeitsbedingungen zuständig verstehen, sondern das Leben der Lohnabhängigen im umfassenden Sinne zur Diskussion stellen. Das bedeutet die Gesundheit, das Wohnen, die Freizeitusw.
Ich denke, dass die Frage der Gesundheit einen zentralen Stellenwert einnimmt. Die ökologische Zerstörung ist immer auch ein Infragestellen der unmittelbaren Gesundheit der Menschen. Die Pandemie ist ein Ausdruck davon. Genauso Unfälle am Arbeitsplatz, Arbeitshitze usw.
Ich würde pragmatisch argumentieren. Wo es möglich ist, mit Gewerkschaften zusammenzuarbeiten, muss man es versuchen. In spezifischen Sektoren kann es auch nicht möglich sein. Dann muss man neben und unabhängig, notfalls sogar gegen die Gewerkschaften arbeiten. Das wäre meine Perspektive für eine Übergangsstrategie: Ausgehend vom Bewusstsein Forderungen entwickeln, die mit der Logik des Systems brechen.
Die andere Ebene ist nicht weniger schwierig. Du hast eingangs Andreas Malm erwähnt und den Begriff des ökologischen Leninismus. Ich denke sein Bezug zum Leninismus ist falsch. Ich denke, auch sein Bezug auf den Kriegskommunismus ergibt keinen Sinn. Vor allem, weil er den Charakter des Staates nicht erklärt. Soll ein bürgerlicher Staat quasi kriegskommunistische Methoden anwenden, das halte ich für eine absurde Vorstellung. Ich würde in einem anderen Sinne an Lenin anknüpfen.
Ich würde sein Verständnis, in welchen Zusammenhang er politische Parteien zur Bewusstseinsentwicklung der Klasse der Lohnabhängigen stellt, aufgreifen. Politische Parteien sind für Lenin nicht dasselbe wie Bewegungen.
Ich würde sagen, es braucht bewusste ökosozialistische Organisationen, die sich international organisieren. Diese müssen versuchen, die Befunde der Erdsystemforschung mit den Diskussionen und Erfahrungen der sozialen Bewegungen zu verbinden. Ausgehend hiervon muss eine radikale ökosozialistische Programmatik auf globaler Ebene entwickelt werden. Eine solche ökosozialistische Kraft muss in die verschiedensten Bewegungen hineinwirken. Von den Bewegungen lernen: die Erfahrungen, die die Bewegung macht, reflektieren. In diesem Sinne braucht es ökosozialistische Organisationen, die gewisse Erfahrungen von Lenin aufgreifen.
Das Interview führte David Reisinger.
21. Mai | Christian Zeller am MARX IS MUSS 2022 in Wien. „Zeit die Regeln zu brechen!“
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