Leo Trotzki: Ihre Moral und unsere

Was ist Moral? Keine leicht zu beantwortende Frage. Im Februar 1938 – also am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und mitten während des Spanischen Bürgerkriegs – schreibt Leo Trotzki im mexikanischen Exil den Text „Ihre Moral und unsere“. Darin arbeitet er den Klassencharakter von Moral heraus. Ein kleiner Vorgriff aufs Fazit: Was moralisch ist oder nicht, hängt davon ab, auf welcher Seite man im Klassenkampf steht. Der Text ist auf marxists.org frei zugänglich.
30. Mai 2022 |

Wer war Trotzki?

⬛ Geboren 1879 als Lew Dawidowitsch Bronstein in der heutigen Ukraine

⬛ Neben Lenin der Hauptorganisator der Russischen Revolution

⬛ Wichtiger marxistischer Theoretiker

⬛ Volkskommissar des Auswärtigen, für Kriegswesen, Ernährung, Transport und Verlagswesen

⬛ Gründer der Roten Armee

⬛ Warnte früh vor Stalin und wurde sein wichtigster Gegenspieler

⬛ Nach Lenins Tod 1924 zunehmend entmachtet
1929 Exil

⬛ 1940 von einem Agenten Stalins in Mexiko ermordet

Vor rund zweieinhalbtausend Jahren lässt der griechische Philosoph Platon in seiner Schrift Politeia (Der Staat) eine seiner Figuren, Thrasymachus, sagen, Gerechtigkeit sei nichts als der „Vorteil des Stärkeren“. Das ganze Werk ist ein Versuch Platons, diese Aussage zu widerlegen – Gerechtigkeit könne durch einen idealen Staat geschaffen werden, in dem Philosophen als kluge Herrscher an der Spitze stehen. Nun sind auch heute die wenigsten Herrscher Philosophen, von Gerechtigkeit kann keine Rede sein. Dennoch fallen in der Politik ständig Begriffe wie Verantwortung, Werte, moralisches Gewissen etc.

Der russische Revolutionär Leo Trotzki formuliert es in seiner Schrift „Ihre Moral und unsere“ ganz ähnlich wie Platons Thrasymachus: „Wer das Opfer verleumdet, hilft dem Henker. Hier wie sonst dient die Moral der Politik.“ Er spielt hier auf die Verfolgung der Trotzkist_innen (und vieler anderer Oppositioneller) im Stalinismus an. Stalin ließ beinahe die gesamte Generation der Revolutionär_innen von 1917 auslöschen – all diese Morde störten die Gegner der Sowjetunion natürlich wenig. Im Gegenteil, alles was die erfolgreiche Revolution weiterverbreiten (oder daran erinnern) könnte, sahen sie mit Freude verschwinden. Rechtfertigen konnte der „imperialistische Westen“ das ganz einfach, schließlich waren die Kommunisten der Feind schlechthin. Ob Trotzkisten oder Stalinisten tat (und tut) für sie nichts zur Sache. Dieselben Staaten, die die Russische Revolution bekämpften, schlossen später Pakte mit Stalin.

Europäische Werte

Die Einschätzung von „Moral“ folgt unterschiedlichen Maßstäben. Wenn wir uns die vielgerühmten „europäischen Werte“ als aktuelles Beispiel ansehen, lässt sich gut erkennen, dass diese zwei sehr unterschiedliche Auslegungsweisen mit sich bringen. Auf der einen Seite stehen die Idealvorstellungen, wie sie im Vertrag der Europäischen Union verankert sind:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Die Realität sieht anders aus: militärisch abgesicherte Außengrenzen, an denen Menschen auf der Flucht wahlweise ins Meer zurückgestoßen, in den Wald zum Erfrieren gescheucht, in Lager gesteckt oder in Zusammenarbeit mit Diktatoren wortwörtlich in die Wüste geschickt werden. Rund um seine Grenzen hat die EU auf den Pfeilern seiner Werte ein einziges Massengrab errichtet. Ein moralisches Gewissen sucht man bei den Verantwortlichen vergeblich.

Party im Lockdown? Nur für den Gesetzgeber

„Ihre Moral und unsere“, schon im Titel macht Trotzki ebendiese Kluft sichtbar. Er beschreibt darin, wie Moral und Ethik je nach Interessen und den materiellen Bedingungen verschiedener sozialer Klassen variieren. Es gibt Menschen, die Profite machen und Menschen, die diese Profite überhaupt erst erarbeiten. Von Gerechtigkeit ist auch hier nichts zu sehen.

Aber die Herrschenden verstehen es, der arbeitenden Bevölkerung Moralvorstellungen überzustülpen, die scheinbar allgemeingültig sind, an die sie sich selbst aber nicht halten. Sie haben den vielzitierten Satz aus dem Kommunistischen Manifest verstanden: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse.“

Ein passendes Beispiel liefert die aktuelle Pandemiepolitik. Abstand halten, Maske tragen, Kontakte vermeiden – sinnvolle Maßnahmen, mit deren Kommunikation die Regierungen jedoch von Anfang an auf das Gewissen des Einzelnen zielten: wir wurden verantwortlich gemacht für den Schutz unserer Mitmenschen. Während aber die Bevölkerung in den Lockdown geschickt wurde, musste sie vom Sofa aus zusehen, wie die österreichische Regierung feuchtfröhlich zu „Life is Life“ schunkelt und selbstlos Licht ins Dunkel bringt. Das war aber kein Ausrutscher oder peinlicher Fauxpas. Auch Großbritanniens Premier Boris Johnson feierte heimlich Lockdown-Partys.

Klassenkampf statt Mitleid

Den Regelbruch im Falle der Licht ins Dunkel-Feier rechtfertigen die Herrschenden damit, es sei ja für den guten Zweck. Allerdings haben sie zuvor dafür gesorgt, dass es diesen „guten Zweck“ überhaupt gibt. Derartige Veranstaltungen dienen neben der Selbstinszenierung vor allem auch der Abfederung der ungenügenden Finanzierung vonseiten des Staates. Den Menschen mit Behinderung, denen hier „geholfen“ werden soll, wird mit Mitleid begegnet, sie werden als schwächer, bedürftiger, als nicht ebenbürtig dargestellt. Gleichzeitig wird es beeinträchtigten Menschen an allen Ecken schwer gemacht, Teil der Gesellschaft zu sein.

Jeder fromme Bürger applaudiert der Geschicklichkeit der Polizei, wenn es ihr durch Anwendung von List gelingt, einen gefährlichen Verbrecher zu fassen. Und im Kampf für den Sturz der imperialistischen Verbrecher sollte die Anwendung von List verboten sein?

Leo Trotzki

Aber man muss fragen, wo diejenigen, die sich brüsten Almosen zu geben, jene selbstlosen Champagner schlürfenden Helfer auf den Charity-Events, ihr Geld herhaben. Seit Jahren fordern Behindertenverbände unter dem Motto „Lohn statt Taschengeld“ eine faire Entlohnung der Arbeiter_innen in Behindertenwerkstätten.

In einem Interview mit der Zeitschrift Analyse und Kritik berichten Anne Gersdorff und Sven Papenbrock von der Organisation SOZIALHELDEN e.V., wie schonungslos die Menschen in den Werkstätten ausgenutzt werden:

„Nahezu alle großen Unternehmen der Autoindustrie in Deutschland arbeiten mit Werkstätten zusammen, aber auch beispielsweise die Stahlindustrie. In der Branche werden jedes Jahr acht Milliarden Euro umgesetzt. […] Ich will damit zeigen, dass es durchaus Geld gäbe, die Leute adäquat zu bezahlen zu ordentlichen Rahmenbedingungen. Doch bei den Beschäftigten bleibt nichts hängen. Sie erhalten etwa 1,45 Euro in der Stunde, also unter 200 Euro im Monat bei einer vollen Stelle. Wir haben es mit einem sehr gut abgestimmten System zu tun. Denn die Unternehmen bereichern sich zum einen durch die günstigen Produktionskosten, gleichzeitig müssen die Unternehmen durch die Auslagerung an die Werkstätten die gesetzliche Quote zur Einstellung von Schwerbehinderten nicht erfüllen. Trotzdem können sie eine Ausgleichsabgabe kassieren, weil sie ja die Arbeit von Schwerbehinderten in Anspruch nehmen.“
Wir können mit Trotzki zusammenfassen: „Wie wir sehen, hat der Schlüssel zur Moral dieser Herren Klassencharakter!“

Der Klassencharakter der Moral

Eine Revolution ist ein Produkt der Klassengesellschaft, ihre Gewalt wird deshalb aus der Perspektive der herrschenden Klasse immer verwerflich, also unmoralisch sein. Die Gewalt zur Erhaltung des bestehenden Systems aber wird als moralisch verteidigt, da eben dieses System festlegt was moralisch zu sein hat. Der Zweck heiligt die Mittel. Und das kapitalistische System hat seinem Zweck viele Namen gegeben: Wohlstand für alle, Gleichberechtigung, freier Markt usw.

Die Herrschenden verstehen es, der arbeitenden Bevölkerung Moralvorstellungen überzustülpen, die scheinbar allgemeingültig sind, an die sie sich selbst aber nicht halten.

„Ein Mittel ist nur durch das mit ihm verfolgte Ziel zu rechtfertigen. Aber das Ziel bedarf seinerseits der Rechtfertigung“, schreibt Trotzki.
Niemand wird bestreiten, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob ein Sklavenhändler den Sklaven zu Tode schindet, oder ob der Sklave den Händler tötet, um seine Freiheit zu erlangen.

Während der Black Lives Matter-Proteste wurden die Aufständischen für jegliche verursachte Schäden verurteilt – seien es brennende Polizeistationen, eingeworfene Scheiben oder umgerissene Statuen irgendwelcher „Nationalhelden“. Gleichzeitig verteidigen aber alle, die hierfür Kritik äußern, ein System, das davon lebt, dass schwarze Menschen willkürlich von Polizisten getötet werden, ein System, das seine Helden für Massenmorde feiert, ein System, das auf Kolonisierung und Plünderung beruht.

Wieder Trotzki: „Jeder fromme Bürger applaudiert der Geschicklichkeit der Polizei, wenn es ihr durch Anwendung von List gelingt, einen gefährlichen Verbrecher zu fassen. Und im Kampf für den Sturz der imperialistischen Verbrecher sollte die Anwendung von List verboten sein?“ Deshalb kann Moral nur als Gegensatz zur Immoralität der herrschenden Klasse geltend gemacht werden.

Sind Lügen moralisch?

Mit der Frage nach Moral ist unweigerlich auch die Frage nach Ehrlichkeit, Lüge und Täuschung verbunden. „Du sollst nicht töten“ wird im Krieg zum Gegensatz, im Sinne der Moral, der Befreiung der Frau, der Verteidigung der Demokratie, wird Töten zur heiligen Pflicht oder zumindest zum Übel, das in Kauf genommen wird. Es erscheint „normal“, dass im Krieg Lügen und Manipulation angewendet werden, es sind Kampfstrategien, um den Gegner zu verunsichern und zu demoralisieren. Am Anfang der US-Invasion im Irak stand die dreiste Lüge, dass dort Massenvernichtungswaffen einsatzbereit seien.

Der Klassenkampf aber ist immer Krieg. So wie die Kapitalisten Lügen anwenden, um Streiks zu brechen oder die Leute bei Laune zu halten, so müssen auch die Arbeiter_innen dieses Mittel gegen die Kapitalisten verwenden. Selbst die französische Revolution, die als Meilenstein auf dem Weg zur Demokratie gilt, profitierte von der einen oder anderen Lüge: „Parallel zu den Pariser Ereignissen schwappte ein Tsunami an Gerüchten über Räuber- und Mörderbanden durchs Land, die angeblich der Adel schicke. Hiergegen bewaffnete sich die Provinz. Angriffe auf Feudalschlösser waren von derlei Fake News motiviert.“

Auf die Frage, wann der Zweck tatsächlich das Mittel heiligt, antwortet Trotzki: „Erlaubt ist, was wirklich zur Befreiung der Menschheit führt. Da dieses Ziel nur durch Revolution erreicht werden kann, trägt die Befreiungsmoral des Proletariats notwendigerweise revolutionären Charakter. Sie tritt nicht nur jedem religiösen Dogma, sondern auch allen idealistischen Fetischen, philosophischen Gendarmen der herrschenden Klasse unversöhnlich entgegen. Ihre Regeln leiten sich aus den Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft ab, also in erster Linie aus dem Klassenkampf, dem obersten aller Gesetze.“