Die Französische Sackgasse

In Frankreich tobt seit der Präsidentschaft von Macron der Klassenkampf. Mittlerweile mussten vier Premierminister zurücktreten, doch Macron selbst hält sich noch als Präsident. Mit der Streikbewegung gegen die Rentenreform und der Ermordung von Nahel durch die Polizei erlebte Frankreich die stärksten Massenbewegungen seit Jahrzehnten. Der Artikel stellt die Frage, warum es der Linken trotz der mächtigen Bewegungen nicht gelang, einen echten Sieg einzufahren. Aus dem Englischen übersetzt von Angelo Kumnenis.
26. Februar 2024 |

2023 kämpften französische Arbeiter:innen, Jugendliche, Migrant:innen und Muslim:innen gegen Emmanuel Macrons Regierung in einer Reihe explosiver Schlachten, die zu den heftigsten in Europa seit vielen Jahren gehörten.1 Es ist, wie es eine französische Analyse formulierte, eine Zeit „turbulenter als eine Zuschauertribüne mit England-Fans voll mit Guinness“.2 Der bekannte Historiker Pierre Rosanvallon sagte: „Wir erleben hier eine Wiederholung der Gelbwestenbewegung (Gilets Jaunes), aber es ist viel ernster. Wir befinden uns in der größten demokratischen Krise, die Frankreich seit dem Ende des Algerienkonflikts 1962 erlebt hat“.3

Der Kampf gegen Macrons Angriffe auf die Renten bestand aus 14 landesweiten Aktionstagen zwischen Januar und Juni, zu denen die Gewerkschaften aufgerufen hatten und Streiks und Massenmobilisierungen gehörten. Das Ausmaß dieser Demonstrationen war bis dahin nicht gesehen – laut der Gewerkschaft CGT (Confédération Générale du Travail) nahmen bis zu 3,5 Millionen Menschen sowohl am 07. als auch am 23. März teil. Obwohl es viel weniger Streiks und Besetzungen gab, waren die Proteste größer als im Jahr der Rebellion 1968 und im Jahr der revolutionären Erhebung 1936.

Die Gewerkschaftsführer hatten kaum den Rentenkampf beendet, da brach schon die nächste Herausforderung für Macrons Regierung aus. Die Ermordung von Nahel M., eines 17-jährigen Parisers marokkanischer und algerischer Abstammung, durch die Polizei führte zu zehn Tagen heftiger Revolten in den Städten.4 Der Aufstand versetzte den französischen Staat in Angst und Schrecken, der mit massiver Repression antwortete. Von fast 4.000 Menschen, die in acht Tagen eingesperrt wurden, wurden ganze 2.107 danach vor Gericht geführt und 1.989 verurteilt, darunter 1.787, die zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Das war eine Verurteilungsrate von fast 95 Prozent.

Es war ein Förderband der Ungerechtigkeit, das von oben ins Laufen gebracht wurde. Zum Vergleich: Im Jahr der Gelbwesten-Revolte sprach der Staat 3.204 Urteile aus und inhaftierte 440 Demonstrant:innen.

Es folgten die Massendemonstrationen für Palästina, die nach dem Beginn des israelischen Angriffs auf Gaza im Oktober ausbrachen. Sie gingen einher mit Widerstand gegen staatliche Verbote oder viel Druck und Kampagnen, um die Erlaubnis zu erreichen, in letzter Minute losziehen zu dürfen. Es gab andere Arten des Widerstands, besonders die Aktionen geführt von Umweltaktivisten in Les Soulèvements de la Terre (“The Earth Rising”).5

Doch trotz allem ist Macron noch da. Deshalb braucht es eine Bilanz dieser Kämpfe — und die Frage, wie unsere Seite eindeutige Siege erringen kann. Ein wichtiger Aspekt einer solchen Analyse wird darin bestehen, jedes dieser Beispiele von Klassenkampf als miteinander verknüpft zu betrachten und nicht nur als eine Serie unverbundener Kämpfe. Der bürgerliche Politiker, ob nun in konservativer oder sozialdemokratischer Farbe, und der Gewerkschaftsbürokrat behandeln solche Themen getrennt und sprunghaft. Tatsächlich verwenden sie viel Zeit darauf, solche Verbindungen abzustreiten.

Ein zentraler Bestandteil der Politik z.B. der französischen Sozialistischen Partei, ebenso wie der Labour-Partei in Großbritannien, besteht darin, dass sich ihre Vertreter im Parlament politischen Fragen widmen, während sich die Gewerkschaften ausschließlich auf wirtschaftliche Fragen konzentrieren. Meistens folgen die Gewerkschaftsführer dieser Methode. Marxist:innen sollten einen anderen Ansatz verfolgen — einen, der die toxische Totalität hinter allen Symptomen der kapitalistischen Gesellschaft versteht. Das heißt nicht, dass die Teilnehmer:innen von Streiks und antirassistischen Riots dieselben sind. Oft sind sie es nicht. Doch die Wurzel der Angriffe auf die Renten und der schlechten Behandlung schwarzer, asiatischer und arabischer Menschen ist dieselbe: ein kapitalistisches System, das auf Ausbeutung und Unterdrückung beruht.6

Die richtige Schlacht im falschen Krieg?

Wie also überlebte Macron? Für die Gewerkschaftsführer bestand das Problem, dass sie einfach Pech hatten, was ihre Gegner anging; sie hatten die richtige Taktik, aber waren mit der falschen Regierung konfrontiert und am falschen Ort. Laut Sophie Binet, der Vorsitzenden der CGT, die der kämpferischste Gewerkschaftsbund ist, „hätten wir mit einem anderen Präsidenten, in einem anderen Land gewonnen“.7 Diese lachhafte Vermutung weist keinen Weg vorwärts – außer zu hoffen, dass die Bevölkerung irgendwann eine angenehmere und sympathischere Regierung wählen würde. Aber das ist einerseits ein viel zu langsamer Ansatz (die nächste französische Präsidentschaftswahl ist nicht vor dem April 2027 vorgesehen) und bedeutet andererseits, dass Arbeiter:innen gegenüber einer rechten Regierung einfach nur wehrlos wären.

Ernsthafte Studien über die Streiks und Proteste sind sich generell einig darin, dass Macron durch den Widerstand Schaden genommen hatte. Er peitschte die Änderungen bei den Renten durch, aber nur zu dem Preis einer massiven und heftigen Opposition, die von einem einfachen ökonomischen Kampf in einen viel tiefergehenden überging. Der Widerstand deckte die Grenzen der bürgerlichen Demokratie auf, weil Macron die Attacken durchpeitschte, ohne auch nur eine Abstimmung im Parlament zu erlauben, indem er die Bestimmungen des berüchtigten Artikels 49.3 der französischen Verfassung nutzte. Dann führte die polizeiliche Repression von Protestierenden, die sich gegen die Rentenreform auflehnten, und Streikenden zu einem viel weiter verbreiteten Misstrauen gegenüber der Polizei und dem „Rechtssystem“.

Doch das darf nicht das Ende sein. Unser Ziel ist es, zu gewinnen, und nicht nur unseren Klassenfeind zu erschüttern oder zu schwächen. Die revolutionären Sozialisten in Autonomie de Classe (A2C) geben eine Erklärung, mit der ich weitgehend einverstanden bin. Sie sagen, dass das Resultat nicht unvermeidlich war und verweisen auf die „Sackgasse in der Strategie der Gewerkschaftsführung“. Sie argumentieren, dass der Beginn der Kämpfe die Gewerkschaften so sehr in Anspruch nahm, weil „Macrons Angriff nicht nur die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Millionen von uns infragestellte, sondern auch die gesellschaftliche Position der Gewerkschaftsführung als Verhandlerin zwischen Bossen, Institutionen (insbesondere der Staat) und Beschäftigten.“ Daraus folgt, dass „die Infragestellung ihres Platzes am Regierungstisch die Gewerkschaftsführung dazu zwang, zurückzuschlagen, um wieder ein Machtgleichgewicht herzustellen. Aber um diese Position zu erhalten, musste die Bewegung unter ihrer Kontrolle und innerhalb des institutionellen Rahmens bleiben.“ Das hieß, dass der Schwerpunkt „auf der öffentlichen Meinung und Demonstrationen statt auf Streiks“ lag: „Sogar während der Vorbereitungen für den 07. März, als die Arroganz der Mächtigen die Gewerkschaftsführung dazu zwang, weiterzugehen, indem sie davon sprach, ‚das Land stillzulegen‘, stritt Laurent Berger, der

Vorsitzende der Französischen Demokratischen Konföderation der Arbeit (CFDT; Confédération Française Démocratique du Travail), jegliche Absicht ab, mit Streiks das ‚Land zu blockieren'“.8

A2C machte auch darauf aufmerksam, wie die Gewerkschaftsführungen den Kampf nur auf die Frage der Renten beschränkten, obwohl eine Ausweitung des Widerstands auf die Rente mit 60, Löhne, Verträge, die Gleichberechtigung am Arbeitsplatz und andere Themen möglicherweise viel mehr Arbeiter:innen einbezogen hätte. Außerdem verhinderten die Gewerkschaftsführer den Aufbau einer stärkeren Klassensolidarität, indem sie sich weigerten, politische Kämpfe wie Frauenrechte und Antirassismus zu führen.

Eine solche Strategie war besonders nach dem 15. April ineffektiv. Das war der Tag, an dem Macron seine Angriffe auf die Renten mit seiner Unterschrift in Gesetzesform goss, nachdem das höchste Verfassungsgericht Frankreichs am Tag zuvor den wesentlichen Teil der Gesetzgebung genehmigt hatte. Das beinhaltete die zentrale Änderung, das Rentenalter von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen. Sobald das geschehen war, schloss es jede Lösung innerhalb des etablierten institutionellen Rahmens aus. Arbeiter:innen konnten nur gewinnen, indem sie sich von „normalen“ Forderungen an Politiker losrissen und die Personen an der Spitze stürzten, um einen Bruch mit den gewöhnlichen Methoden herbeizuführen.
Die Kraft der Erklärungen, die A2C gibt, liegt darin, dass sie mit der sozialen Stellung der Gewerkschaftsbürokratie beginnt, eine Interpretation, die in dieser Zeitschrift wiederholt ausgeführt wurde.9 Doch darauf aufmerksam zu machen, dass die Gewerkschaftsführer so handeln und sie das immer tun werden, ist nur der Anfang. Es ist eine entscheidende Kritik. Aber Revolutionäre müssen dann sagen, was sie tun werden, um diese Grenze, die es in Gewerkschaften unter dem Kapitalismus gibt, zu überwinden. Man muss fragen, warum die Gewerkschaftsführer nicht zum Generalstreik aufgerufen haben. Aber das reicht nicht. Es ist auch wichtig zu sagen, welche Möglichkeiten es gab und wie sich Arbeiter:innen an der Basis organisieren können, um nächstes Mal zu gewinnen, angesichts dessen, dass sich die Gewerkschaftsführer nicht wesentlich anders verhalten werden.
Der Ansatz von A2C wird von vielen anderen Linken bestritten, die denken, dass die Gewerkschaftsführer zwar ein Problem, aber nicht das Hauptproblem gewesen seien, und dass sie nicht wirklich kritisiert werden können, weil die gewerkschaftliche Organisierung zu schwach und die Vernetzung an der Basis zu gering sind. In der Zeitschrift der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA) schreibt Sylvain Pyro über die Kritik an der „Intersyndicale“, ein Körper, der alle Gewerkschaftsführer vereinigt: Es ist illusionär, zu glauben, dass die Intersyndicale einen Generalstreik hätte ausrufen können. Doch wir hatten einen nie dagewesenen Moment der Unterstützung, als alle Gewerkschaften mehrere Wochen zuvor dazu aufriefen, am 07. März „das Land lahmzulegen“. An diesem Punkt musste man das als Hebel nutzen, um die Situation zu überwinden, anstatt sie anzuprangern. Die konföderalen Gewerkschaftsführungen taten vor Ort nichts. Doch sogar in der Basis herrschte quer durch alle politischen Strömungen Lähmung vor. Die Blockaden, von denen es zu wenige gab, wurden weit von den Arbeitsorten durchgeführt und entzogen so Aktivisten ihrem eigenen Umfeld. Sie hätten sich lieber bei Firmen organisieren sollen, anstatt bei den Zufahrten von Ringstraßen.10


In derselben Ausgabe schreibt Elsa Collonges, ein Mitglied des Landesweiten Politischen Rats der NPA: „Die Streiks waren zu schwach, um das Land wirklich lahmzulegen. Die Jugend kam zu spät und nicht ausreichend genug in die Bewegung. Die Selbstorganisation der Arbeiter war zu schwach, um eine Beschleunigung der Mobilisierungen in Gang zu bringen.“11 Solche Theorien stützen sich auf eine in vielen Kreisen vertretene soziologische Analyse über den Zustand der Arbeiterklasse. Nehmen wir beispielsweise ein Interview mit dem Forscher und Autor Étienne Pénissat:

Gewerkschaften sind in den letzten zehn Jahren schwächer geworden. Erstens fiel die gewerkschaftliche Organisierung von 11 Prozent im Jahr 2013 auf 10 Prozent 2019. Dieser Niedergang der Gewerkschaften geht Hand in Hand mit weniger Beteiligung der Beschäftigten an Personalratswahlen und Gewerkschaftsaktivitäten (Treffen, Verteilung von Flugblättern usw.). Die Anwesenheit von Gewerkschaftsaktivisten mit Nähe zu Kollegen am Arbeitsplatz hat deshalb in den letzten Jahren abgenommen, selbst im öffentlichen Sektor. Auch wenn sie in wenigen „Hochburgen“ wichtig bleiben, sind die Fähigkeiten der Gewerkschaften, einen Streik zu organisieren, insgesamt zurückgegangen.

Pénissat macht diese Schwächung der Gewerkschaften an einer wirtschaftlichen Erklärung fest. Entscheidende Faktoren, sagt er, beinhalten:

Den Niedergang industrieller Beschäftigung und großer Fabriken, die Atomisierung der Beschäftigten an mehreren Standorten und in kleinen und mittleren Unternehmen, die Individualisierung der Arbeit (kontrolliert mit digitaler Technologie, wie bei Amazon), die Präkarität der Arbeit (prekäre Verträge, Eigenunternehmertum, „Uberisierung“) und die Verlängerung von Subunternehmervertragsketten, die Arbeitskollektive destabilisieren und schwächen. Das macht gewerkschaftliche Organisierung und den Aufbau aktiver Gewerkschaftsgruppen schwieriger. Außerdem gab es „einen sehr klaren politischen Willen unter Präsident François Hollande und dann unter Macron, die Gewerkschaften deutlich zu schwächen“. Pénissat kommt zu der Schlussfolgerung, dass „ganze Segmente des Proletariats den Gewerkschaften fernstehen“. Das führt zu seinem Argument:

Ich teile die These von dem „Verrat durch die Gewerkschaftsführung“ nicht, weil sie tatsächlich nicht durch den Anstieg von Streiks und durch drängende Forderungen von Beschäftigten, in den Streik zu gehen, „getrieben“ wurde. Die Generalversammlungen der Streikenden waren relativ schwach…Wir haben uns nicht von der Logik des Stellvertreterstreiks entfernt.12

Das Gegenargument beinhaltet nicht, die hier und an vielen anderen Stellen aufgeführten Statistiken über die Mitgliedschaft der Gewerkschaften infragezustellen. Stattdessen besteht es darin, dass sie nicht zu diesen politischen Schlussfolgerungen führen müssen. Die Arbeiterklasse hat während der Zeit des Neoliberalismus in vielen Ländern Niederlagen und Rückschläge erlitten. Selbst wenn der Kampf wegen der vielfachen wirtschaftlichen, politischen, sozialen und ökologischen Krisen eine neue Stufe erreicht, hat er seinen Anfang in einer kleineren Basis und mit geschwächten Basisstrukturen genommen. Während der Kampf stattfindet, besteht die schwierige Aufgabe darin, die Entwicklung der Arbeiterorganisation zu beschleunigen, durch Streikkomitees, Generalversammlungen der Arbeiter:innen, Solidaritätsstrukturen usw. Darüber hinaus müssen die Arbeiter:innen anstreben, andere Schichten der Unterdrückten davon zu überzeugen, dass die Streiks und Proteste um wirtschaftliche Fragen entscheidend sind für einen breiteren Kampf um Befreiung. Der streikende Eisenbahnarbeiter muss alles tun, um die prekär beschäftigte migrantische Hotelputzkraft für die Ansicht zu gewinnen, dass sie einen gemeinsamen Kampf führen — einen gemeinsamen Kampf um Löhne und Renten, aber auch gegen Rassismus und Sexismus.

Das kann nur passieren, wenn sich die Streikenden von der Enge befreien, die von der Gewerkschaftsführung gezielt vorangetrieben wird. Gewerkschaftsführer führen ungern Kampagnen zu übergeordneten Themen, weil sie fürchten, dass das ihre Verhandlungsrolle erschweren würde. Der Bürokrat will eine Auseinandersetzung dieser Art: „Wir wollen 10 Prozent, aber der Arbeitgeber oder die Regierung hat 4 Prozent angeboten. Kann ich 6 Prozent haben und es einen Sieg nennen (auch wenn die Inflation bei 8 Prozent liegt)?“. Wenn Linke wie diejenigen der NPA eine so große Betonung auf den niedrigen Stand der gewerkschaftlichen Mitgliedschaft legen, liefern sie ein Alibi für die Fahnenflucht und den Verrat der Gewerkschaftsführer. Die objektive Realität ist wichtig, aber sie kann sich auch ändern.

Vor allem sollten wir mit der sozialen Rolle der gesamten Vollzeitbürokratie der Gewerkschaften beim Aushandeln von Kompromissen beginnen, anstatt uns auf die Kämpfe zwischen dem linken und dem rechten Flügel an der Spitze der Gewerkschaften zu konzentrieren. Das zu verstehen ist das entscheidende Werkzeug einer Analyse.

„Sprünge, Sprünge, Sprünge!“

Die für den Widerstand der Arbeiter benötigte qualitative Verschiebung wird nicht durch eine schrittweise Anhäufung von Selbstvertrauen und Organisationskraft entstehen. Sie beinhaltet Sprünge, bei denen Arbeiter:innen schnell von Passivität und Angst hin zu Aktivität und Vertrauen in ihre eigene Kraft übergehen. Diese Art, die Dynamik des Widerstands so zu verstehen, wurde von dem französischen Marxisten Daniel Bensaïd in einem Artikel in dieser Zeitschrift vor 20 Jahren beschrieben:

Die konvulsive Geschichte des letzten Jahrhunderts zeigt, dass wir der gespenstischen Welt der Ware nicht so leicht entfliehen können, ihren blutdürstigen Göttern und ihrer „Büchse der Wiederholungen“. Aus dieser Beobachtung rührt notwendigerweise Lenins zeitlose Relevanz… Lenins politisches Denken ist das von der Politik als Strategie, von günstigen Momenten und schwachen Gliedern. Die „gleichförmige und leere“ Zeit des mechanischen Fortschritts ohne Krisen oder Brüche ist eine unpolitische Zeit. Zu dieser Art der Zeitlichkeit gehört die von Kautsky gepflegte Idee einer „passiven Akkumulation der Kräfte“… Dieser Sozialismus „außerhalb der Zeit“ und mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte löst die Unsicherheit des politischen Kampfes zugunsten der proklamierten Gesetze der geschichtlichen Entwicklung auf. Lenin dagegen stellte sich Politik als eine Zeit voller Kämpfe vor, eine Zeit voller Krisen und Zusammenbrüche. Für ihn drückt sich die Besonderheit der Politik im Konzept der revolutionären Krise aus, die nicht die logische Fortsetzung einer „gesellschaftlichen Bewegung“, sondern eine allgemeine Krise der gegenseitigen Beziehungen zwischen allen Klassen der Gesellschaft ist. Sie legt die Kampflinien offen, die durch das mystische Trugbild der Ware verdeckt wurden. Nur dann, und nicht dank eines unvermeidlichen historischen Reifungsprozesses, kann sich das Proletariat verändern und „zu dem werden, was es ist“.13


In diesem Ausschnitt passiert viel. Die wichtigste Idee ist, dass wir eine systematische Konfrontation mit den existierenden Führungen der Arbeiterbewegung brauchen, um aus der Zwangsjacke des Kampfs innerhalb des Systems zu entkommen. Die Gewerkschaftsführer behinderten den Kampf um die Renten bewusst, und das in entscheidenden Momenten. Sie hielten die Aktionstage in langen zeitlichen Abständen ab, manchmal Tage, manchmal Wochen. Von dem äußerst erfolgreichen ersten Aktionstag, an dem zwei Millionen auf die Straße gingen, waren es 12 Tage bis zum nächsten und dann 7 Tage bis zum dritten. Es lagen mehr als zwei Wochen zwischen dem Aktionstag am 13. April und dem nächsten am 01. Mai, und dann dauerte es mehr als einen Monat bis zum letzten am 06. Juni. Das hatte nichts zu tun mit dem „niedrigen Stand gewerkschaftlicher Organisierung“. Es war eine Strategie, um Druck auf den Präsidenten und seine Parlamentarier auszuüben – eine, die nach der Pfeife des immer weniger angemessenen Zeitplans des Parlaments tanzte. Die Proteste fanden hauptsächlich an entscheidenden Tagen mit Parlamentsabstimmungen statt, sogar dann, als Millionen zu begreifen begannen, dass das Parlament nicht die Hauptarena ist und nur unter Druck von außerhalb liefern würde. Der Ansatz der Gewerkschaftsführer stärkte den Glauben an die bürgerliche Demokratie gerade dann, als sich Leute von ihr losbrachen (zumindest von derjenigen Spielart, die in der Französischen Fünften Republik festgeschrieben ist).
Viele Analyst:innen pochen darauf, dass die Streikaktionen nicht an den Sieg der Gewerkschaften über die Regierung 1995 herankamen. Doch sie waren nicht nichts. Zu ihnen gehörte eine Arbeitsniederlegung von 70 Prozent der Schullehrer:innen, zwischen 70 und 100 Prozent der Raffineriearbeiter:innen, 46 Prozent der SNCF-Eisenbahnarbeiter:innen und fast die Hälfte der EDF Elektrizitätsarbeiter:innen am 19. Januar. Die Trägheit, nach mehr Aktionen zu rufen, führte nicht zu einer „ausruhen und dann wieder weiter“-Einstellung. Stattdessen signalisierte sie manchen, dass die Gewerkschaften es nicht so ernst meinten. Etwa 3,5 Millionen nahmen an Demonstrationen teil, als die Gewerkschaftsführer für den 07. März einen Aufruf herausbrachten, „Frankreich lahmzulegen“. Doch das war eine einmalige Aktion und kein Strategiewechsel. Die Gewerkschaftsführer wollen auf den kämpferischen Momenten der Basis aufbauen. Die Anzahl der „wiederaufnehmbaren Streiks“ (grèves reconductibles) war gering, aber in manchen Sektoren gab es sie: in Teilen des Eisenbahngewerbes, in Energiekonzernen wie EDF, Enedis und Engie, unter manchen Hafenarbeitern und Raffinerie-Arbeitern bei Total und unter Abfallarbeitern in Paris, Le Havre und Rouen.14 Diese Aktionen blieben jedoch weitgehend isoliert und wurden nur von Basisinitiativen am Leben gehalten, anstatt dass die Gewerkschaften selbst ihre Unterstützung und Solidarität auf sie konzentrierten und sie sich zum Vorbild nahmen.


Gewerkschaftsführer lieben bürokratische Einstimmigkeit, Kompromisse mit ihren Gegenübern in anderen Gewerkschaften und die Einwilligung, dass nach dem Tempo der Langsamsten marschiert wird. Zu Beginn des Streiks war die Einheit zwischen den acht Gewerkschaftsverbänden des Landes positiv. Jeder drängte auf Aktionen, selbst die rechtesten Gewerkschaftsführer. Doch später wurde diese Einheit zur Fessel. Die Führer der CFDT, des größten Verbandes, suchte immer nach einem schnellen Abkommen. Wenn sich das als unmöglich herausstellte, dann nach einer Möglichkeit des Rückzugs. Schon am 06. April sagte der Vorsitzende der CFDT, Laurent Berger: „Es steht außer Frage, die Rechtmäßigkeit des Verfassungsgerichts anzuzweifeln“.15 Zu diesem Zeitpunkt war gerade diese höchste juristische Instanz des Landes dabei, Macrons Angriffe zu bewilligen. Zu diesem Zeitpunkt hätten die erklärtermaßen weiter linksstehenden Gewerkschaftsführer offen mit der CFDT brechen müssen. Stattdessen machten sie unterwürfig mit. Die Gewerkschaftsführer taten nichts, um den Zeitraum zu nutzen, in dem sich Arbeiter:innen von den üblichen Mitteln des Kampfs lossagten. Sie waren peinlich berührt, als die Arbeiter:innen im Energiesektor den Bossen und den Parlamentariern gesetzeswidrig den Strom abschnitten. Als beispielsweise die Arbeiter:innen der Fos-sur-Mer-Raffinierie in Südfrankreich am 23. März die Bereitschaftspolizei abwehrten, waren sie nicht da.


Die Gewerkschaftsführungen schafften es auch nicht, sich auf Erfolge zu konzentrieren, beispielsweise als die CGT-Vertretung von Total Normandie Gewerkschafter:innen in der Hafenstadt Le Havre zu einer Kundgebung vor der Raffinerie aufrief. Über 300 Streikende aus allen regionalen Wirtschaftssektoren – Hafenarbeiter:innen, Eisenbahnarbeiter:innen, Arbeiter:innen der Ölindustrie bei Chevron und andere – sowie Studierende nahmen teil. Sie standen die ganze Nacht vor dem Gebäude, um jede Wiederaufnahme der Arbeit und Angriffe der Polizei auf die Streikposten zu verhindern. Auf ähnlicher Weise besetzten Aktivist:innen Kreisverkehre und Straßenkreuzungen, um Gebiete in Städten wie Lille, Lyon, Chambéry, Lorient und Toulouse von allem Verkehr abzuschneiden, doch diese Aktionen fanden nicht weiter Verbreitung.


Die Basisnetzwerke machten große Anstrengungen, aber sie waren zu klein, um sich über die Gewerkschaftsführungen hinwegzusetzen. Es ist schwer, in wenigen Wochen des Kampfs eine ausreichend starke Organisierung zu schaffen. Die Grundlagen müssen im Vorfeld stärker geschaffen werden.

Auf der Suche nach Erklärungen

Der Hintergrund der Argumente auf beiden Seiten wird von der linken Akademikerin Sophie Béroud gut beobachtet, die von einer „gigantischen Volksbewegung“ schreibt, aber auch das beschreibt, was man als einschränkende Faktoren betrachtet, vor allem die „strukturelle Schwächung der gewerkschaftlichen Vertretung in den letzten 15 Jahren“. Béroud hebt besonders die kreativen und inspirierenden Methoden der Arbeiter:innen im Energiesektor hervor. Sie schreibt:

Besonders aktiv waren die vom Ende der Sonderrentenpläne direkt betroffenen Elektrizitäts- und Gasarbeiter:innen, die eine weitgehende Senkung der täglichen Stromerzeugung organisierten und von denen manche 12 Wochen lang streikten. Sie schnitten auch gezielt Städte von der Stromversorgung ab, in denen Regierungsmitglieder oder Parlamentarier der Mehrheit Bürgermeister sind oder denen Macron während seiner Reisen einen Besuch abstattete. Sie stellten Krankenhäuser, kleine Geschäfte und Arbeiterviertel auf vergünstigte oder kostenlose Verträge um. Elektriker:innen und Arbeiter:innen von Gaskonzernen führten so die „Robin-Hood“-Aktionen fort, mit denen schon 2004 das erste Mal begonnen wurde und die 2022 zugenommen hatten.16
Révolution Permanente, eine trotzkistische Gruppe, die sich von der NPA abgespalten hatte, erarbeitete eine gute Kritik an der Gewerkschaftsbürokratie während der Streiks und unternahm einige mutige Schritte. Aber ihr fehlt eine vollständige Untersuchung der Gründe für den Verrat durch die Gewerkschaften. Manche der Gründe dafür sind klar, wenn wir den Ansatz ihrer Unterstützer in den USA betrachten, die sich um die Zeitschrift Left Voice gruppieren. Diese Veröffentlichung begann kürzlich eine Debatte über die Existenz einer „Arbeiteraristokratie“ in den USA. Das Argument, das auf manchen von Lenin verwendeten Formulierungen beruht, besteht darin, dass diese Arbeiterschicht durch die Profite des Imperialismus gemästet wird und daher eine reaktionäre Rolle in der Arbeiterbewegung spielt. Anschließend wird angenommen, dass dies die soziale Basis für die Gewerkschaftsführung darstellt, die diese dünne Arbeiterschicht widerspiegelt, welche mutmaßlich ein Interesse am Imperialismus hat (und sich darüber bewusst ist, dass sie solch ein Interesse hat). Nach dieser Analyse ist nicht die soziale Rolle der Bürokratie entscheidend, sondern ihre vermutete soziale Basis. Jason Koslowski erklärte diese Gedanken in Left Voice im August letzten Jahres:

Wir sollten die Arbeiteraristokratie als die höhere Schicht der US-amerikanischen Arbeiterklasse betrachten, deren Lebensbedingungen im weitesten Sinne am meisten von dem imperialistischen Wohlfahrtsstaat abhängen. Allgemein können wir sagen, dass die Aristokratie die Schicht der gutbezahlten Arbeiter:innen ist (vielleicht können wir eine Grenze von 60.000 Dollar pro Jahr annehmen?), die wesentliche Vergünstigungen wie eine Krankenversicherung, Lebensversicherung, Renten, bezahlten Urlaub usw. bezieht. Darüber hinaus haben solche höheren Arbeiterschichten Zugang zu „kulturellen Einrichtungen“ und „Bildungseinrichtungen“, wie Lenin sie nannte (beispielsweise Colleges und Universitäten, und im Anschluss vielleicht die Aufnahme ihrer Kinder in die Mittelklasseberufe), die oft durch den Staat finanziert werden – um nicht die Gewerkschaften zu erwähnen, die oft durch imperialistischen Raubzug finanziert werden.17

Koslowski sucht dann nach einem Beispiel für diese erkauften Teile der Arbeiterklasse. Seine Wahl ist sehr merkwürdig: Gewerkschaftlich organisierte Autoarbeiter. Zu seinem Unglück wurde der Artikel nur ein paar Wochen veröffentlicht, bevor 150.000 dieser gewerkschaftlich organisierten Autoarbeiter das erste Mal seit der Gründung der Gewerkschaft United Auto Workers (UAW) vor 88 Jahren einen Kampf gegen die „Big Three“ (General Motors, Ford und Stellantis) begannen. Viele Streikende verdienten weniger als 60.000 Dollar pro Jahr. Doch es stimmt schlicht nicht, dass diejenigen mit einem niedrigeren Einkommen gekämpft hatten und diejenigen mit einem höheren nicht. Nachdem die Gewerkschaftsführer der UAW einen Sieg verkündet hatten, vermeldete Left Voice tatsächlich: „Der Streik der UAW war nicht nur ein Sieg für die Autoarbeiter. Er war ein Sieg für die gesamte Arbeiterklasse.“ Ein Kampf, in dem laut ihrer eigenen Analyse die Arbeiteraristokratie maßgeblich beteiligt war, gab in Wirklichkeit allen Auftrieb. Diese Art der Analyse von Left Voice und ihrer Unterstützer und in der Tat die Theorie der Arbeiteraristokratie selbst sind ein äußerst schwacher Ratgeber, wenn es um das Verhalten der Gewerkschaftsbürokratie geht.18


Die Antwort auf die städtischen Unruhen nach der Ermordung von Nahel M zeigte auch das Versagen der Gewerkschaften und der Sozialdemokraten. Die bekannteste Persönlichkeit der französischen Linken, Jean-Luc Mélenchon, bezeichnete die Polizei als „unkontrolliert“. Das war kaum eine ungezügelte Beschreibung nach Monaten tätlicher Angriffe auf Rentendemonstrant:innen und den darauffolgenden Versuch der Polizei, die Hinrichtung eines Jugendlichen zu vertuschen. Doch selbst diese Sprache war zu viel für den Vorsitzenden der Sozialistischen Partei (PS; Parti Socialiste), Olivier Faure, der seine „tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten“ mit Mélenchon zum Ausdruck brachte. In Lyon sagte Faure: „Wir fordern zu Recht Ruhe und eine Rückkehr zum Zivilfrieden. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir Gewalt hinnehmen und unterstützen.“ Die PS ist zusammen mit den Grünen (Les Écologistes) und der Französischen Kommunistischen Partei Teil der Wahlallianz NUPES („Neue ökologische und soziale Volksunion“) von Mélenchon. Teile der PS sind gegen diesen Zusammenschluss, obwohl er der Partei, die in den letzten Jahren massiv an Unterstützung verlor, das Leben rettet. Diese Stimmen in der PS nutzten Mélenchons Reaktion auf die Riots als einen weiteren Grund, um zu versuchen, diese Verbindung zu kappen. Auch Fabien Roussel, der Vorsitzende der Französischen Kommunistischen Partei, griff die Randalierer mehrmals auf schreckliche Weise an. Schon früh erklärte er seine „uneingeschränkte Verurteilung der Gewalt, die diese Nacht stattfand“. Er meinte nicht die Polizei. Er fügte hinzu: „Wenn man links ist, dann verteidigt man die öffentlichen Dienstleistungen, nicht ihre Plünderung“. Roussel machte immer wieder Zugeständnisse an Rassismus. Unter anderem kritisierte er die französischen Grenzen als „Siebe“, die zu viele Menschen hereinließen. Ebenso erbärmlich reagierte Lutte Ouvrière, eine Gruppe aus der trotzkistischen Tradition. Ihre wichtigste Stellungnahme erkannte die Armut und den Rassismus, mit denen junge schwarze und arabische Menschen konfrontiert sind. Doch sie fährt fort:

Es gibt junge Menschen, Kinder, die mit Wut in ihren Herzen leben. Das bringt einen kleinen Teil von ihnen dazu, nichts zu respektieren. Es war diese Wut, die sich mit Nahels Tod in blinder Gewalt entlud. Das zerstörerische Wüten, das manche Viertel trifft, führt zu Bestürzung, Entsetzen und sogar Wut, und das aus gutem Grund! Es sind nicht die Bourgeois, die ihr Auto, ihr Nobelrestaurant und ihren Tennis- oder Golfplatz in Rauch aufgehen sehen. Es sind die Frauen und Männer der Arbeiterklasse, die sich mittellos finden, ohne ein soziales Zentrum, ohne Laden, in dem sie einkaufen können, ohne Verkehrsmittel, um zur Arbeit zu gelangen. Weiter wurden in der Erklärung „kleine Verbrecher und Schieber“ angeprangert, „die kaum ein Problem damit haben, das Leben der Einwohner zu gefährden“.19

Dem folgt Regierungssprecher Olivier Véran, der sagte, dass „es hier keine politische Botschaft gibt. Wenn man ein Geschäft von Foot Locker, Lacoste oder Sephora plündert, gibt es keine politische Botschaft. Es ist Plünderung.“ Tatsächlich waren die Riots politisch — und Plündern ist politisch. Die Riots richteten sich vor allem gegen den Staat und seine repressiven Schlägertrupps. Es wäre großartig, wenn eine soziale Explosion nur die Reichen und ihre Luxusbauten treffen würde. Aber das war nie die Realität. Selbst ein Streik tut das nicht. Eine Arbeitsniederlegung von Krankenpfleger:innen trifft nicht nur Millionäre. Tatsächlich können diese auf ihre private Gesundheitsversorgung zählen. Es kann Leid und Strapazen für Arbeiter:innen bedeuten. Und doch ist es vollkommen richtig, wenn Arbeiter:innen im britischen Gesundheitssektor für bessere Löhne und die Verteidigung des National Health Service streiken.

Dieselbe Kluft zwischen Teilen der Linken und den Kämpfen der Unterdrückten wurde sichtbar, als die Regierung im August Schülerinnen das Tragen der Abaya verbot, ein wallendes Kleid, das von manchen Musliminnen getragen wird. Sophie Binet, die sozialdemokratische Bürokratin, die Vorsitzende der CGT wurde, hielt es für sehr interessant und nützlich, ihre Meinung dazu zu sagen. Frustration, eine linke Online-Publikation, berichtet von ihrem Beitrag zur Debatte:

„Da es ein religiöses Symbol ist, muss es natürlich verboten werden.“ Ja, nur, dass es allein von Rassisten als religiöses Symbol verstanden wird. Wenn sie darüber bestimmen, was religiös ist und was nicht, sind wir erledigt.

Dann kam Roussel der…sagt, er wolle die „Sieb“grenzen schließen, und in den Medien Positionen vertritt, die sich fast planmäßig auf Linie mit den Parolen der extremen Rechten und seines Freundes Gérald Darmanin befinden. „Ich unterstütze diese Entscheidung. Schulleiter brauchten klare Anweisungen“, verlautbarte er bei Sud Radio.20

Nichtsdestotrotz ist es wichtig, mit der Hoffnung und den Möglichkeiten zu schließen, die sich mit den Kämpfen in Frankreich auftun. Der Rentenkampf brachte eine Reihe von Aktivist:innen hervor, die viel radikaler sind als die an der Spitze der Gewerkschaften und der „linken“ Parteien. Sie bewirkten eine bessere Reaktion der Gewerkschaften als bei früheren, ähnlichen Ereignissen. Sie halfen dabei, die Demonstrationen gegen Polizeigewalt und für Bürgerrechte am 23. September aufzubauen, an denen 80.000 Menschen in ganz Frankreich teilnahmen, auch wenn sich nicht die Führer der PS und der Französischen Kommunistischen Partei unter ihnen befanden.

Die hier dargelegte Gesamtstudie ist wichtig, um solche Kämpfe voranzutreiben. Sie unterstreicht, dass Revolutionär:innen ständig nach Wegen suchen müssen, solche Kämpfe zu unterstützen und Basisnetzwerke aufbauen müssen. Darüber hinaus müssen sie diejenigen, die um eine Sache kämpfen, mit denjenigen zusammenbringen, die um eine andere kämpfen. Die Rentendemonstranten hatten das „Unglück, dass ihr Widerstand nicht mit den Riots wenige Wochen später zusammenfiel. Doch die Gewerkschaftsführer hätten die Streiks Seite an Seite mit den Riots wieder ins Leben rufen können – und das hätte Macron wahrscheinlich gebrochen. Sie weigerten sich. Wenn die Kämpfe zunehmen und effektiver werden, wird das nicht nur die wirtschaftliche Lage der Arbeiter:innen beeinflussen. Es wird auch starke Auswirkungen darauf haben, ob die von Marine Le Pen und Jordan Bardella geführte faschistische Rassemblement National („Nationale Sammlung“, früher bekannt unter dem Namen Front National) weiter von dem Aufruhr in der französischen Gesellschaft profitieren kann.

Charlie Kimber ist der Herausgeber von Socialist Worker und Mitautor von The Labour Party: A Marxist History (Bookmarks, 2019).

Zuerst auf Englisch erschienen in International Socialism 181—https://isj.org.uk/french-impasse/. Aus dem Englischen von Angelo Kumnenis. Danke fürs Gegenlesen an Marina Käfer und David Reisinger.

Anmerkungen

1 Diese Analyse sollte zusammen mit dem Artikel von Denis Godard in einer früheren Ausgabe der Zeitschrift gelesen werden – siehe Godard, 2023. Dank an alle Genoss:innen in Frankreich innerhalb der Internationalen Sozialistischen Tendenz und anderer Organisationen sowie Personen, die mir geholfen haben, über Frankreich zu schreiben, auch wenn manche von ihnen mit diesem Artikel nicht einer Meinung sein werden.
2 Frustration, 2023. Und ja, ich weiß, dass die meisten englischen Sportfans lieber Lager trinken.
3 Bourgeois, 2023. Die Gelbwestenbewegung, die 2018 entstand, war eine Protestwelle vorwiegend der Arbeiterklasse, die durch von Macron vorgeschlagene Steueränderungen ausgelöst wurde. Für einen detaillierteren Bericht siehe Bouharoun, 2019. 1962 erreichte Algerien nach einem langen antikolonialen Kampf seine Unabhängigkeit von Frankreich.
4 Der volle Name des Opfers war Nahel Merzouk, doch die Behörden nannten ihn nur Nahel M. Große Teile der Linken und der antirassistischen Bewegung verwenden diese abgekürzte Form auch heute noch, um zu betonen, wie mir eine jüngere Person algerischer Abstammung in Lyon sagte, dass „er jeder von uns hätte sein können“.
5 Die Aktivitäten von Les Soulèvements de la Terre werden in Godard, 2023, diskutiert.
6 Zu diesem Punkt siehe z.B. Choonara, 2020.
7 Binet, 2023.
8 Autonomie de Classe, 2023.
9 Siehe z.B. Choonara, 2023.
10 Pyro, 2023. Die Intersyndicale („Intergewerkschaft“) brachte die Gewerkschaftsführungen zusammen – von den kämpferischsten hin zu den gemäßigsten.
11 Collonges, 2023.
12 Pénissat, 2023. “Stellvertreterstreik” bezieht sich auf die Taktik, Streikaktionen nur in „strategischen“ Sektoren wie der Logistik und der Stromerzeugung zu unterstützen, wobei man es so betrachtet, dass diese Arbeiter:innen für die gesamte Arbeiterklasse streiken. Er wird oft der Idee der „Massifizierung“, also einen so großen Teil der Arbeiterklasse in Streikaktionen miteinzubeziehen, gegenübergestellt. Diskussionen über stellvertreterisches Streiken werden manchmal mit der Theorie verbunden, dass die meisten Arbeiter:innen heute „Bullshitjobs“ ausüben, die für das Funktionieren des Systems nicht zentral sind, was ihre Streiks demnach ineffektiv macht.
13 Bensaïd, 2002.
14 Bei einem wiederaufnehmbaren Streik treffen sich Streikende jeden Tag, um darüber zu entscheiden, ob sie den Streik fortsetzen.
15 Siehe https://x.com/BFMTV/status/1643933947322089472.
16 Béroud, 2023.
17 Koslowski, 2023. Ein Lohn von 60.000 Dollar entspricht etwa 56.000 Euro.
18 Zu den Problemen der Theorie von der Arbeiteraristokratie im Allgemeinen siehe unter anderem Cliff 1957, Corr und Brown 1993 und Post 2006.
19 Lutte Ouvrière, 2023.

20 Grams, 2023. Darmanin ist Macrons reaktionärer Innenminister, der eine zentrale Rolle beim Verbot propalästinensischer Demonstrationen, neuen Gesetzen gegen Migrant:innen und Restriktionen gegen die Abaya spielte.

Quellenverweise

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