Die haltlose Verschwörungstheorie vom „Großen Austausch“
ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz und FPÖ-Vizekanzler Heinz-Christian Strache präsentierten Ende 2017 die neue Koalition an einem symbolträchtigen Ort: am Wiener Kahlenberg. Sie hoben mit dieser Anspielung auf die „Schlacht am Kahlenberg“, die die zweite Wiener Türkenbelagerung im Jahr 1683 beendete, eine der gefährlichsten rechtsradikalen Verschwörungstheorien – die des „Großen Austauschs“ – in den politischen Mainstream.
Diese Theorie fantasiert, dass eine nicht näher definierte „jüdische“ Elite die „einheimische Bevölkerung“ gegen Muslime austauschen würde, und fordert, dass man das christlich-abendländische Europa gegen diese „muslimischen Invasoren“ verteidigen müsse – wie eben in der Schlacht am Kahlenberg. Alle, die seit Jahren gegen den Islam hetzen, hatten damit den ideologischen Finger mit am Abzug des Attentäters von Neuseeland, der am 15. März 50 Muslim_innen kaltblütig ermordete und sein Manifest „Der Große Austausch“ nannte.
Der Attentäter von Neuseeland, Brenton Tarrant, bezog sich auf die historische Türkenbelagerung (wie schon der norwegische Terrorist Anders Behring Breivik vor ihm, der Tarrant als Vorbild galt). Auf ein Magazin der Mordwaffe schrieb er unter anderem „Wien 1683“, eine Anspielung auf die zweite Türkenbelagerung Wiens, auf eben die sich auch Strache bezog. Tarrant mordete im Namen der „Verteidigung Europas“ gegen angeblich muslimische „Eroberer“ oder „Invasoren“.
Der Christchurch-Attentäter rechtfertigte sein Blutbad mit einem Manifest, das den Titel „The Great Replacement“, zu Deutsch „Der Große Austausch“ trägt. Auf einem der Magazine seines Maschinengewehrs schrieb er „Wien 1683“, eine Anspielung auf die zweite Türkenbelagerung. © Public Domain
Ultimative Apokalypse
Gleich vorneweg: Die Theorie des „Großen Austauschs“ entbehrt jedweden Fakten (siehe Infobox unten). Dennoch ist das angebliche Bedrohungsszenario wiederkehrendes Thema der extremen Rechten. 2017 legte Strache zuletzt einen Kranz im „Gedenken an die Befreiung Wiens von der Türkenbelagerung“ in Schwechat ab. Die rechtsextremen „Identitären“ versuchten mehrfach, am Kahlenberg in Erinnerung an die „Befreiung Wiens“ von den Türken aufzumarschieren.
Neu ist, dass diese brandgefährliche Theorie von Kurz übernommen wurde – was aber nicht ganz verwundern darf: Die Theorie des „Großen Austausches“ ist mitunter auf die Spitze getriebener antimuslimischer Rassismus, der spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 die ideologische Begleitmusik für die imperialistischen Kriege in Afghanistan und im Irak spielte und zur dominierenden Form des heutigen Rassismus aufstieg.
Auch die ÖVP-FPÖ-Regierung inszenierte sich am Kahlenberg. © Faksimile Kurier
Der deutsche Rechtsextremismusexperte Hajo Funke sieht hinter den Ideen des Attentäters ein „konsistentes Programm mit der Perspektive von Gewalttaten zur ‚Rettung der weißen Rasse‘ gegen den Untergang, der besorgt würde, von Muslimen, die einwandern“. Dieses Programm wird, so Funke, von rechtsextremen Parteien gezielt befeuert. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW) stellte nach eingehender Analyse in Tarrants Manifest „besonders ausgiebige rhetorische und ideologische Überschneidungen“ mit „neurechten“ Gruppierungen wie eben den „Identitären“ fest. Das Nazi-Wikipedia Metapedia fasst die Theorie so zusammen: „Der große Austausch ist eine geläufig gewordene Bezeichnung für die politische Agenda der fremdbestimmten BRD-Eliten zum gezielt herbeigeführten Volkstod.“
Die Theorie des „Großen Austauschs“ geht zurück auf den rechten französischen Intellektuellen Renaud Camus. Er hat dabei lediglich Mainstream-Ideen verdichtet, denn er baut auf Samuel Huntingtons Kampf der Kulturen (1996) au. In seinem Buch Le Grand Remplacement (2010; auf Deutsch: Revolte gegen den Großen Austausch) argumentiert Camus, dass sich – was sich eben wie ein Endzeitszenario anhört – zwei große Gruppen gegenüberstehen würden: Befürworter und Gegner des „Großen Austauschs“. Camus behauptet, es gebe einen demographischen „Austausch“ der „europäischen Stammvölker“ durch „außereuropäische Einwanderer“.
Er fabuliert entgegen allen wissenschaftlichen Fakten, dass verschiedene Rassen existieren würden, und propagiert einen „Ethnopluralismus“, mit anderen Worten eine Trennung aller Völker, eine „Entmischung“ durch „Remigration“, also eine pseudo-intellektuelle Version der Parole „Ausländer raus!“. Als hätte er FPÖ und „Identitäre“ auf der einen, und ÖVP auf der anderen Seite im Kopf, forderte Camus in Konsequenz eine Kooperation zwischen beiden: „Die kulturkonservativ-volksbezogene und die eher staatsbezogen-islamkritische Rechte müssen, sobald der Große Austausch als Gegner erkannt ist, Hand in Hand zusammenarbeiten.“
Der Nationalsozialismus und der unfassbare Horror des Holocausts werden von der Mehrheit der Gesellschaft verhasst. Der vordergründige Wechsel vom klassischen Rasse-Antisemitismus zum antimuslimischen Rassismus ist vor diesem Hintergrund eine rein strategische Umorientierung. Hinter verschlossenen Türen reden die selbsternannten „Neurechten“ offener, wie ein eine britische Undercover-Reportage enthüllte. Sellner, der zum Aufbau eines „identitären“ Ablegers in Großbritannien mehrfach nach London reiste, plauderte abseits der Kameras unverschämt über Kontakte zu Anhängern der „White Supremacy“ („Weiße Vorherrschaft“) in den USA, nur würde er dies nie öffentlich sagen, weil es dem Image der „Identitären“ schade.
Sellner sagte: „Ich verstehe es völlig, dass die Menschen in den 1920er-Jahren gesagt haben, es gibt die ‚Judenfrage‘, vergleichbar mit der islamischen Masseneinwanderung heute. Die amerikanische Alt-right [Bewegung] wird dominiert von diesem Antisemitismus, der Judenfrage. Meiner Meinung nach verstehen sie die Zeichen der Zeit nicht, ein völliges strategisches und theoretisches Versagen.“
Volkskörper-Metapher
Neu ist an der Mär des „Großen Austauschs“ im Kern gar nichts. Man tauschte nur die Feindbilder aus. Hitler schrieb in Mein Kampf (1925) über das „Weltjudentum“: „Man halte sich die Verwüstungen vor Augen, welche die jüdische Bastardisierung jeden Tag an unserem Volke anrichtet, und man bedenke, daß diese Blutvergiftung nur nach Jahrhunderten oder überhaupt nicht mehr aus unserem Volkskörper entfernt werden kann; man bedenke weiter, wie diese rassische Zersetzung die letzten arischen Werte unseres deutschen Volkes herunterzieht, ja oft vernichtet, so daß unsere Kraft als kulturtragende Nation ersichtlich mehr und mehr im Rückgang begriffen ist […] Diese Verpestung unseres Blutes, an der Hunderttausende unseres Volkes wie blind vorübergehen, wird aber vom Juden heute planmäßig betrieben.“
Die Nazis trieben die „große Lüge“ auf die Spitze: Pseudowissenschaft in der Zeitung Neues Volks des Rassenpolitischen Amt der NSDAP © Public Domain
In einer Passage, die erschreckend an die „Volkskörper“-Metapher der Nazis erinnert, führte Sellner aus: „Europa ergeht es im ‚Refugees welcome‘-Wahn wie einem ans Bett gefesselten Menschen, der zum Zwecke seiner Vivisektion (Operation am lebenden Körper, Anm.) mit Injektionen ruhiggestellt wurde. […] Langsam fließt ein betäubendes und schwächendes Gift in seine Blutbahn. Seine Widerstandskraft schwindet zusehends.“ Sellner bezieht sich selbst nur auf etwas, was Burschenschafter und FPÖ-Politiker längst vorgekaut haben.
Werner Kuich von der Burschenschaft „Libertas Wien“ (der auch FPÖ-Klubobmann Walter Rosenkranz angehört) schrieb in dem vom ehemaligen dritten Nationalratspräsidenten Martin Graf (FPÖ) herausgegebenen Buch 150 Jahre Burschenschaften in Österreich (2010) in gleicher Weise: „Das Volk als eine geistige und kulturelle Einheit kann auch bei Erhaltung der biologischen Substanz vergehen, wenn das Volksbewusstsein und damit das Wissen um die eigenen Kultur verschwindet.“
Deutschtum bedeute heute, so Kuich, dass ein Burschenschafter angesichts von Geburtenrückgang und „drohendem Volkstod“ durch Muslim_innen die Verantwortung trage, die „geistige und biologische Substanz des deutschen Volkes zu erhalten“. 2017 durfte Kuich auf Einladung des Nationalrats im Parlament sprechen, mit dabei waren „Identitäre“ wie Alexander Markovics.
Weltverschwörung
Das Märchen vom „Großen Austausch“ wurde von der FPÖ-Spitze mit entwickelt und wird bis heute angeheizt. Dort heißt es im Nazi-Vokabular „Umvolkung“, oder eben „Bevölkerungsaustausch“ und „Ethnomorphose“. Strache verbreitete lange vor Tarrant die Vorstellung, wonach sich SPÖ, ÖVP und Grüne zum Zwecke des „organisierten und schleichenden Bevölkerungsaustauschs“ verschworen hätten.
Wegen der „rot-schwarzen Massenmigration“ würden „wir in absehbarer Zukunft zur Minderheit im eigenen Land“, so Strache. Im Grundsatzpapier Europa am Scheideweg (2014) schrieb Strache, man müsse „entschieden“ die „europäischen Werte“ gegen die „Islamisierung“ verteidigen, um – wieder ein Schlagwort des Nationalsozialismus – „unsere Leitkultur“ zu erhalten.
Die Theorie des „Großen Austauschs“ ist nicht nur nichts neues, sie ist auch direkt anschlussfähig an die alte jüdisch-bolschewistische Weltverschwörungstheorie, nach der „die Juden“ in geheimen Netzwerken organisiert seien, um die Weltherrschaft zu erlangen. Ominöse Eliten würden heute gleichermaßen den Bevölkerungsaustausch organisieren. FPÖ-Klubobmann Johann Gudenus meinte gegenüber der Presse, es gebe „stichhaltige Gerüchte“, wonach George Soros daran beteiligt sei, „Migrantenströme nach Europa zu unterstützen“. Soros habe einige NGOs finanziert, die „für die Massenmigration nach Europa mitverantwortlich“ seien, denn diese sei „nicht zufällig in dem Ausmaß passiert“.
Bei Sellner hört sich das so an: „Der Große Austausch ist kein ‚Zufall‘, keine neutrale ‚Naturkatastrophe‘, die über uns hereinbricht. Er ist gewollt, zugelassen und geplant.“ Sellner schrieb auch das Nachwort von Renaud Camus’ Sammelband Revolte gegen den großen Austausch (2016). Darin meint Sellner, eine nicht näher definierte Elite betreibe einen „Bevölkerungsaustausch“und siedle gezielt Migrant_innen in Europa an.
Gewaltperspektive
Die Theorie des „Großen Austauschs“ verlangt in der Konsequenz eine „Selbstverteidigung“. Mit anderen Worten, sie rechtfertigt Gewalt gegen Muslim_innen und „Linke“, die den Austausch angeblich organisieren würden. Dass man sich nur „wehrt“, ist eine rein taktische Entscheidung in einer Gesellschaft, in der Gewalt mehrheitlich nicht toleriert wird.
Lange vor dem neuseeländischen Nazi-Terroristen und dem norwegischen Attentäter Anders Behring Breivik – der 2011 aus den gleichen Motiven wie Tarrant in Norwegen 77 Menschen ermordete – forderte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, man müsse sich den „Kampfanzug“ gegen den „Islamismus“ anziehen. In einem rassistischen Comic, der die Wiener Türkenbelagerung nachstellt, trug Strache einem blonden Jungen auf, dem „Mustafa“ mit einer Steinschleuder eine „aufzubrennen“, was einem direkten Aufruf zu Gewalt gleichkommt.
Sellner ruft regelmäßig dazu auf, sich zur Selbstverteidigung zu bewaffnen. Anfang 2016 twitterte Sellner: „Gottseidank hab ich schon ne Waffe gekauft, bevor der Asylwahn begonnen hat. Dürfte schwer sein jetzt noch was Gutes zu bekommen.“ Im Zuge der Proteste gegen den Akademikerball zückte er dann auch eine Waffe: am Schottentor in Wien zog er seine Pfefferspraypistole und schoss damit auf Antifaschist_innen.
Er lieferte prompt die Rechtfertigung für seinen Angriff, nachdem ihn Medien kritisiert hatten: „Das ist ungefähr so, als würde bei der Türkenbelagerung 1683 in Wien die Presse nachher schreiben: ‚Verteidiger Wiens feuern wild von Stadtmauer um sich‘. Wenn man sich gegen einen gezielten Angriff gezielt wehrt, ist das Notwehr. Man hat ein Recht dazu, ja man hat sogar die Pflicht dazu sich zu verteidigen und ich werde das auch wieder tun.“
Über Sellner wurde damals ein zweijähriges Waffenverbot verhängt, das kurz vor dem Massaker in Neuseeland aufgehoben wurde. Nur einen Tag vor dem Anschlag rief Sellner erneut zur Bewaffnung auf: „Ich kann mich jetzt also mit dem Segen des Staats vollkommen legal wieder adjustieren, um für die Sicherheit von mir und meiner Freundin in einer immer krimineller und gewalttätiger werdenden Gesellschaft Sorge zu tragen.“ Und weiter: „Tatsächlich ist es so, dass es den Bürgern immer schwieriger gemacht wird, sich zu bewaffnen, sich abzusichern, während gleichzeitig die Unsicherheit steigt und die öffentliche Ordnung nicht mehr sichergestellt werden kann.“
Wir haben kein Problem mit einem angeblichen „Großen Austausch“, sondern ein Rechtsextremismus-Problem. Dass mit Sebastian Kurz die Theorie des „Großen Austauschs“,die nichts anderes als eine modernisierte Version der antisemitischen „Protokolle der Weisen von Zion“ ist, Eingang in die Regierungspolitik gefunden hat, ist eine neue Qualität.
Warum der „Große Austausch“ eine einzige Lüge ist
Die Verschwörungstheorie des „Großen Austauschs“ lässt sich mit wissenschaftlichen Fakten komplett widerlegen. Wie die Islamisierungs-Fantasien der Rechtsextremen die Gesellschaft vergiften, zeigt eine Studie darüber, wie die Bevölkerung den Anteil muslimischer Menschen in „ihren“ Ländern wahrnimmt – und wie diese tatsächlich ist: In Deutschland beträgt der Anteil von Muslim_innen 5% der Gesamtbevölkerung, die Schätzungen hingegen tippen auf 21%, sie liegen also um über das Dreifache daneben.
Im Jahr 2017 lag der Anteil der Muslim_innen in Österreich bei gerade einmal 8%. Laut Berechnungen der Österreichischen Akademie der Wissenschaft könnten es 2046 etwa zwischen 14% und 21% sein. Wahrscheinlich wird die Bevölkerungsstruktur in den nächsten Jahrzehnten ganz andere Wege gehen. Allein die Auswirkungen des Klimawandels werden Wanderbewegungen zur Folge haben, die nicht vorhersagbar sind. Auch wir könnten einmal zu Flüchtlingen werden. Geburtenraten passen sich meist an den Durchschnitt des Landes, in dem man lebt, an, und sinken mit steigendem Wohlstand.
Und selbst wenn der Anteil muslimischer Menschen in Europa rasant ansteigen sollte, stellt das keinerlei Bedrohung dar! Vielmehr ist das eine Bereicherung für die Gesellschaft. Ob Kulinarik oder Kunst, Vielfalt und Abwechslung macht die Kultur erst lebendig. Und mal ehrlich, was ist an der österreichischen Kultur so zerbrechlich, dass es Gefahr läuft, von der bloßen Anwesenheit einer Frau mit Kopftuch zerstört zu werden?
Veranstaltungstipp
David Albrich, Autor von „Das Braunbuch FPÖ“ und „Faschismus in der Regierung“, spricht über den Faschismus des 21. Jahrhunderts.
Infos auf marxismuss.at
Wann? 10.-12. Mai 2019
Wo? Amerlinghaus, Stiftgasse 8, 1070 Wien