Die Ukraine, nationale Selbstverteidigung und der Stellvertreterkrieg
Bombardierung von Wohnvierteln, Tausende Tote und Hunderttausende Menschen auf der Flucht auf der einen Seite und Waffenlieferungen, Sanktionen und Aufrüstung auf der anderen Seite. Der Krieg in der Ukraine droht weiter zu eskalieren. Wir dokumentieren die neue Stellungnahme der Internationalen Sozialistischen Tendenz (IST) zum Krieg um die Ukraine
1 Der russische Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar war ein Akt der imperialistischen Aggression und eine Verletzung des Selbstbestimmungsrechts des ukrainischen Volkes. Für die Ukrainer ist es ein Krieg der nationalen Selbstverteidigung. Gleichzeitig ist es vonseiten der westlichen imperialistischen Mächte, angeführt von den USA und organisiert durch die Nato, ein Stellvertreterkrieg gegen Russland. Der Krieg ist sowohl eine imperialistische Invasion in eine ehemalige Kolonie als auch Teil eines interimperialistischen Konflikts zwischen den USA und Russland und ihren Verbündeten. Wir sind gegen beide imperialistischen Mächte. Wir bekunden unsere Solidarität mit dem ukrainischen Volk und unterstützen sein Recht auf Widerstand gegen den militärischen Überfall. Dabei lehnen wir auch die NATO und ihre Ausdehnung nach Osten ab.
2 Der interimperialistische Charakter dieses Konflikts wird durch die Politik der Kiewer Regierung bestärkt, die versucht, den Westen in einen offenen Krieg hineinzuziehen. Dies ist der Sinn ihrer ständig wiederholten Forderung, die NATO solle eine Flugverbotszone über der Ukraine einrichten. Dies würde unweigerlich zu Gefechten zwischen der NATO und den russischen Streitkräften führen. Ein solcher Krieg könnte zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen beiden Seiten führen,- nicht nur, weil der russische Präsident Wladimir Putin direkt mit atomarer Vergeltung gedroht hat, sondern auch wegen der konventionellen Überlegenheit Russlands im Kriegsgebiet. Die USA und Russland sind bei Weitem die größten Atommächte der Welt. Ein Krieg zwischen ihnen würde den größten Teil der Menschheit vernichten und den Überlebenden ein Dasein in Elend und Armut bescheren.
3 Die Verantwortung für diese erschreckenden Aussichten liegt eindeutig bei den beiden imperialistischen Gegenspielern – einerseits den USA und ihren Verbündeten, die die NATO und die Europäische Union nach Osten bis an die Grenze Russlands ausdehnen und ihre Vorherrschaft im westlichen Eurasien ausweiten und festigen wollen, und andererseits Russland und seinen Verbündeten, die versuchen, diesen Prozess durch Krieg, Eroberung und Besetzung aufzuhalten. Beide imperialistischen Widersacher drehen an der Eskalationsspirale. All dies geschieht auf Kosten der Menschen in der Ukraine. Die Arbeiter:innen in den betroffenen Ländern haben weder vom westlichen noch vom russischen Imperialismus Gutes zu erwarten.
4 Dementsprechend fordern wir:
- Sofortiger Waffenstillstand und Rückzug der russischen Streitkräfte aus der Ukraine!
- Rückzug der NATO-Truppen aus Mittel- und Osteuropa!
- Keine Waffenlieferungen an die Ukraine!
- Keine Sanktionen gegen Russland!
- Keine Eskalation, weder durch Russland noch durch die NATO!
- Stoppt das Wettrüsten – Milliarden für den Kampf gegen Hunger, Klimakrise, Armut und Ungleichheit, nicht für Aufrüstung und Krieg!
- Sofortige Streichung der Auslandsschulden der Ukraine in Höhe von 113 Milliarden Dollar und schnelle humanitäre Hilfe für die Menschen in der Ukraine!
5 Das Übel der russischen militärischen Eskalation ist offensichtlich. Doch obwohl die NATO beschlossen hat, sich nicht direkt in den Krieg einzumischen, trägt sie auf gefährliche Weise zur Eskalation bei. Die Lieferung von Waffen an die Ukraine lädt zu russischen Vergeltungsmaßnahmen ein. Und die über russische Institutionen und Interessen verhängten Wirtschaftssanktionen sind eine Kriegsführung mit anderen Mitteln. Sanktionen treffen immer die Zivilbevölkerung. Sie passen zu Putins nationalistischer Propaganda und helfen ihm, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen. Die USA und die EU nutzten ihre Vormachtstellung im globalen Finanzsystem, um die russische Zentralbank von ihren Devisenreserven abzuschneiden, woraufhin Putin die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzte. Sich auf wirtschaftlichen Druck zu verlassen, der Russland angeblich friedlich in die Knie zwingen soll, kann stattdessen die endgültige Katastrophe herbeiführen. Sanktionen und Embargos sind nur die Vorstufe zu einer weiteren Eskalation, die meist mit dem Einsatz militärischer Mittel endet. So geschehen im Irak ab 1990, in Jugoslawien/Serbien ab 1992, Somalia ab 1992, Haiti ab 1992, Afghanistan ab 1999, Georgien ab 2006, Libyen ab 1992/2011, Jemen ab 2014. Bei fast allen Militäroperationen der USA in jüngster Zeit ist dieses Muster offensichtlich: Den Bombardierungen gehen Sanktionen voraus.
6 Wir lehnen auch die militärische Aufrüstung der NATO ab – zum Beispiel die Entscheidung der deutschen Regierung, zusätzlich 100 Milliarden Euro für »Verteidigung« auszugeben, die Verdoppelung der Streitkräfte in Polen und die Erhöhung der Militärausgaben auf 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BP), und den allgemeinen Militarisierungsschub in der EU. Wir lehnen das NATO-Ziel ab, die Rüstungsausgaben auf 2 Prozent des BIP zu erhöhen, und das in einer Zeit von Krieg, weltweiter Armut, Klimakrise, niedrigen Löhnen und einer maroden Infrastruktur in Schulen und Krankenhäusern sowie schlechtem und knappem Wohnraum. Die Arbeiter:innen und ihre Familien werden den Preis für diese Politik der Militarisierung und des Krieges zahlen.
7 Es muss betont werden, dass es sich um einen Krieg handelt, an dem vor allem Europa, die USA und Kanada beteiligt sind. China hat Russland bedingte Unterstützung gewährt, aber viele andere Staaten der Welt weigern sich, Partei zu ergreifen, darunter die Golfstaaten, Indien, Indonesien, Mexiko und Südafrika. Dies unterstreicht die Schamlosigkeit Russlands und des Westens, die Menschheit wegen eines regionalen Konflikts mit Auslöschung zu bedrohen.
8 Dieser Krieg wird einen enormen wirtschaftlichen Preis fordern, und zwar nicht nur für die Bevölkerung der Ukraine und Russlands. Der sprunghafte Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise, den er verursacht hat, treibt die Inflation in die Höhe, die bereits ein 30-Jahres-Hoch erreicht hat. Die Bereitschaft der Zentralbanken, ihre Politik der Zinserhöhung und des Abbaus der quantitativen Lockerung fortzusetzen, ist ein Versuch, die arbeitende Bevölkerung dazu zu zwingen, für eine Krise zu bezahlen, die sie nicht verursacht hat. Gleichzeitig sind Russland und die Ukraine wichtige Nahrungsmittelproduzenten. Der Krieg der beiden Länder wird dazu führen, dass noch mehr Menschen im weltweiten hungern werden.
9 Der Krieg hat zu einer riesigen Zahl von Flüchtlingen sowohl innerhalb der Ukraine als auch außerhalb ihrer Grenzen geführt. In vielen Ländern haben sich zahlreiche Menschen bereit erklärt, diese Flüchtlinge bei sich zu Hause aufzunehmen. Die relative Aufnahmebereitschaft einiger EU-Mitgliedstaaten steht im Gegensatz zum Aufbau der Festung Europa, die Migrant:innen und Flüchtende fernhalten soll. Wir sagen: Die Ukrainer:innen sind in allen Ländern willkommen, aber öffnet die Grenzen für alle Flüchtlinge und Migrant:innen! Wir wenden uns auch gegen den zunehmenden antirussischen Rassismus, der oft heuchlerisch von Politikern gefördert wird, die in der jüngsten Vergangenheit gerne die russischen Superreichen willkommen hießen, und gegen den Rassismus gegen Schwarze in der Ukraine und in Nachbarländern wie Polen, wo Menschen aus Afrika die Aufnahme verweigert wurde.
10 Die weltweite Massenbewegung gegen den Krieg, die gegen den militärischen Überfall im Irak entstanden war, ist in den vergangenen 15 Jahren kleiner geworden. Sie muss nun auf Grundlage der klaren politischen Erkenntnis, dass die Hauptbedrohung für den Weltfrieden von den Rivalitäten der großen Militärmächte ausgeht, neu aufgebaut werden. Das Eintreten für die einseitige atomare Abrüstung ist wieder so wichtig geworden wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Die NATO darf nicht erweitert werden, sie muss aufgelöst werden.
11 Die Antikriegsbewegung in Russland ist von besonderer Bedeutung. Wir begrüßen den Mut der Demonstranten und hoffen, dass die Erfahrungen dieses schrecklichen Krieges ihnen Zulauf verschafft. Diese Bewegung hat weltweite Solidarität verdient.
12 Dieser Krieg ist unter Umweltgesichtspunkten eine Katastrophe. Die konkurrierenden Militärapparate sind riesige CO2-Verursacher. Wegen der Unterbrechung der Energieversorgung wird mehr Öl gefördert und möglicherweise kommt es zu einer stärkeren Abhängigkeit von Atomenergie. Und selbst ein sehr begrenzter Einsatz von Atomwaffen hätte vielfältige umweltschädliche Auswirkungen. Außerdem lenkt der Krieg von der dringenden Aufgabe der Dekarbonisierung der Weltwirtschaft ab. Am 27. Februar, demselben Tag, an dem Putin ankündigte, die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft zu versetzen, warnte der jüngste Bericht des International Panel on Climate Change vor den verheerenden Auswirkungen des Klimawandels auf die menschliche Gesellschaft und vor den noch viel größeren Schäden, die in Zukunft zu erwarten sind. Sozialisten müssen versuchen, die Antikriegsbewegung und die Klimabewegung zusammenzubringen.
13 Dieser Krieg ist ein weiterer Beleg dafür, dass das globale kapitalistische System seine Existenzberechtigung verloren hat. Was es der Menschheit verheißt, ist fast nur noch Krieg, Umweltzerstörung, Krankheit und Verelendung. Sozialist:innen haben die Aufgabe, außerparlamentarische Bewegungen und betriebliche Kämpfe gegen dieses System aufzubauen – sei es die Antikriegsbewegung, die Klimabewegung, der Kampf gegen die Faschisten oder die Lohnkämpfe in den Betrieben – und damit ihre Netzwerke und Organisationen zu stärken und aufzubauen. Wir verpflichten uns, zur Verwirklichung der internationalen sozialistischen Revolution beizutragen, die den Planeten endlich vom Fluch des Kapitalismus befreien kann. Karl Liebknechts Parole »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« muss auch unsere Parole sein.
Bild: Ehimetalor Akhere Unuabona / Unsplash
Zum Text: Verfasst von der Koordinierung der Internationalen Sozialistischen Tendenz (IST), 15. März 2022. Aus dem Englischen von David Paenson, Rosemarie Nünning und Yaak Pabst