Fabriksbesetzung in Turin: Die roten Jahre 1919 und 1920

Fabriksbesetzungen repräsentieren die Aneignung der Produktionsmittel durch die Enteigneten. Sie sind ein Schritt, den die Arbeiter_innenklasse zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft vollziehen muss, um die herrschende Klasse zu entmachten. Eine der größten Wellen an Fabriksbesetzungen gab es während der zwei roten Jahre (Biennio rosso) 1919 und 1920 in Italien.
27. Juli 2017 |

Die Russische Revolution von 1917 jagte einerseits den herrschenden Klassen ganz Europas eine Heidenangst ein und war andererseits für die Arbeiter_innen und Unterdrückten eine Inspiration und Beweis dafür, dass eine andere Welt möglich ist. In ganz Europa kam es in den folgenden Jahren zu Massenaufständen. Die Fabriksbesetzungen in Italien zwischen 1919 und 1920, auch bekannt als „Biennio rosso“, waren der mächtigste Ausdruck dieser neuen revolutionären Arbeiter_innenbewegung.

Italien nach dem 1. Weltkrieg

Wie auch im Rest Europas führte der Erste Weltkrieg in Italien zu Hungersnöten und massenhaftem Elend. Dazu kam die Radikalisierung von Millionen Soldaten im Verlauf des Krieges.

Besonders Turin galt als Hochburg der revolutionären Linken, schon im August 1917 kam es hier zu Unruhen. Die Demonstrationen führten Frauen an, die sich dagegen wehrten, nach den Zwölf-Stunden-Arbeitstagen auch noch stundenlang für Essen anstehen zu müssen. Die Demonstrationen führten zu Streiks der Industriearbeiter_innen. Erste Sowjets (Arbeiter_innenräte) entstanden, die in den folgenden zwei Jahren gigantische Erfolge erzielten.

Arbeteir_innen-Versammlung in einer besetzten FIAT-Fabrik © gemeinfrei

Nach der Russischen Revolution kam es in Turin und anderen norditalienischen Städten zu Solidaritätsstreiks mit den russischen Genoss_innen. Durch riesige militante Arbeitskämpfe erreichten die Industriearbeiter_innen im Februar 1919 den Acht-Stunden-Tag.

Im Jahr 1919 kam es in Italien alleine im industriellen Sektor zu gigantischen 1.663 Streiks, 1913 waren es 810 gewesen. Auf dem Land kam es zu spontanen Enteignungen; ähnlich wie in Russland 1917 gab es eine explosive Mischung aus Arbeiter_innen, Soldaten und der Landbevölkerung.

Eskalation

Die Bosse waren von der militanten Streikbewegung so eingeschüchtert, dass sie zum letzten Mittel griffen, das ihnen noch blieb: Aussperrungen. Die Eigentümer sperrten die Fabriken zu, um die Arbeiter_innen in die Knie zu zwingen. Am 1. Mai 1919 veröffentlichte der bedeutende Marxist Antonio Gramsci seine Zeitung „L’Ordine Nuovo“ (Neue Ordnung) mit dem berühmt gewordenen Titel: „Bildet euch, denn wir brauchen all eure Klugheit. Bewegt euch, denn wir brauchen eure ganze Begeisterung. Organisiert euch, denn wir brauchen eure ganze Kraft.“ Gramsci forderte gemeinsam mit dem Marxisten Togliatti die Arbeiter_innen dazu auf, Räte zu bilden und die Fabriken zu besetzen.

Gramsci und Togliatti trafen mit ihren Forderungen einen Nerv. Schon zuvor war es zu ersten Fabriksbesetzungen gekommen und einzelne Arbeiter_innenräte existierten schon, aber in den folgenden Monaten breitete sich die Bewegung auf ganz Norditalien aus. Ende 1919 waren mehr als 150.000 Arbeiter_innen in Räten organisiert, einige Fabriken befanden sich praktisch vollkommen in der Hand der Arbeiter_innen. 1920 streikten eine halbe Million Arbeiter_innen in Turin zur Verteidigung der Räte.

Niederlage

Zumindest in Turin war die Arbeiter_innenklasse de facto an der Macht. Bewaffnete Arbeiter_innen kontrollierten die Straßen, Essen wurde verteilt und so weiter. Eine sozialistische Revolution war zum Greifen nahe. Aus unterschiedlichsten Gründen kam sie nicht.

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Ein entscheidendes Problem war, dass der bürgerliche Staat zwar durch die Bewegung zurückgedrängt, aber nicht zerschlagen wurde. Ähnlich wie in Spanien 1936 fehlte eine revolutionäre Partei, die dazu bereit war, die Arbeiter_innen bis zur Machtergreifung zu führen. Dadurch konnten sich die herrschenden Klassen wieder sammeln und die Revolte mit brutalster Gewalt niederschlagen.

Als Reaktion auf die zwei roten Jahre unterstützten die Herrschenden Italiens von nun an Mussolini und seine faschistischen Truppen. Ihnen kam die Aufgabe zu, die Arbeiter_innenbewegung zu zerschlagen und Gramsci ins Gefängnis zu werfen.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.