Interview: Der Tod des Ernst Kirchweger

Linkswende jetzt sprach mit dem überzeugten Antifaschisten und Antiimperialisten Kurt Kann über die Demonstration im Jahr 1965, auf der Ernst Kirchweger von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. Kurt Kann ist seit 60 Jahren politisch aktiv in der außerparlamentarischen Opposition. Er löste sich in der Vranitzky-Ära von der Sozialdemokratie, die Jahrzehnte lang seine politische Heimat gewesen war. Kann war unmittelbar Zeuge des Todes von Ernst Kirchweger.
1. Mai 2015 |

Linkswende jetzt: Was waren die Hintergründe der Demonstration, bei der Kirchweger umkam, welche Rolle spielte der Uni-Professor Taras Borodajkewycz?

Kurt Kann: 1965 hatten sich noch hunderttausende Österreicher_innen ihre NS-Ideologie bewahrt. Es hat ja schon im Austrofaschismus Anhänger dieser Ideologie gegeben, als die NSDAP in der Illegalität war, es wurden mehr während des NS-Regimes und auch nach dem Krieg haben sie ihre NS-Ideologie weiter bewahrt. Sie haben sich nur einen Deckmantel gegeben, oder eine Tarnung indem sie Mitglieder bei SPÖ oder ÖVP wurden und haben damit nach außen dokumentiert: Wir haben unsere faschistische Gesinnung fallen gelassen. Das war aber scheinheilig.

Als ab 1946 immer wieder Fälle von prominenten Leuten in der Politik oder Kultur vorkamen, von denen herauskam, dass sie NS-Vergangenheit hatten, setzte die Regierung eine Entnazifizierungs-Kommission ein. Die sollte feststellen, wie weit diese Leute noch der NS-Ideologie anhingen. Da hat sich herausgestellt, 80% dieser Leute wurden als minderbelastet eingestuft, 20% als schwer belastet. Ihnen wurden Kriegsverbrechen angelastet. Einer der „Minderbelasteten“ war der Universitätsprofessor Taras Borodajkewycz, der einen Lehrstuhl an der Uni für Welthandel inne hatte. Seine Vorlesungen waren geprägt von NS-ideologischer Schulung, er hat den Studierenden bei einer Vorlesung offen zur Kenntnis gebracht, dass er Nationalsozialist sei, dass er stolz sei, diese Ideologie in sich zu tragen. Der Nationalsozialismus sei die einzige Lebensform, die den Menschen Freiheit, Recht und Ordnung gäbe.

Im Hörsaal saßen ungefähr 200 Studierende, die meisten vom VSStÖ (Verband Sozialistischer Student_innen in Österreich) und dem KSV (Kommunistischer StudentInnenverband), aber auch ein gewisses Potential von Neonazis vom RFS (Ring Freiheitlicher Studenten). Man darf aber nicht vergessen, dass der RFS damals in der Österreichischen Hochschüler_innenschaft (ÖH) 30 Prozent hatte und damit zweitstärkste Kraft in der ÖH war.

Was hat sich bei den Vorlesungen von Borodajkewycz konkret abgespielt?

Borodajkewycz hat immer wieder betont, dass es den Holocaust nie gegeben hätte, dass nie und nimmer sechs Millionen Juden umgebracht wurden, weil das technisch nicht möglich gewesen wäre. Die KZs seien von den Alliierten erbaut worden, die Überlebenden in den Wochenschauen seien Kriegsgefangene der Alliierten gewesen.

Das hat natürlich großen Unmut beim VSStÖ und beim KSV hervorgerufen und zu Protesten geführt. Die Führungen beider Organisationen haben beim Rektorat darauf gedrängt, dass Borodajkewycz entfernt wird. Das Rektorat hat aber nicht reagiert und der Rektor hat gemeint, wir leben in einem Rechtsstaat und es gelte die Meinungsfreiheit. Wenn Borodajkewycz im Hörsaal seine NS-Tiraden von sich gegeben hat, haben die RFSler gejubelt und applaudiert. Er hat sich auch über die jüdische Bevölkerung lustig gemacht, hat Karl Marx als Juden verhöhnt und sich antisemitisch über Hans Kelsen geäußert. Insgesamt war es einfach unerträglich, was da von Borodajkewycz gekommen ist.

Wie kam es dann zu der Demonstration?

Es kam einfach der Zeitpunkt, wo die linken Organisationen gesagt haben, jetzt reicht es. Sie haben für den 31. März zu einer großen antifaschistischen Demonstration aufgerufen; die Erste in der zweiten Republik.

Wie ist diese Demo abgelaufen?

1965: Start der Demo gegen den antisemitischen Professor Taras Borodajkewycz vor der Wiener Karlskirche
1965: Start der Demo gegen den antisemitischen Professor Taras Borodajkewycz vor der Wiener Karlskirche

Es haben sich ca. 7.000 Antifaschist_innen vor der TU versammelt. Schon beim Auftakt haben RFSler versucht zu stören, haben Eier und Farbbeutel geworfen. Sie konnten aber in kurzer Zeit vertrieben werden. Dann ging der Demozug los und als man zur ersten Kreuzung der Kärntnerstraße hinter der Oper kam, konnte man von der Demospitze aus sehen, dass rechts vor der Walfischgasse eine Polizeikette von ca. 15 Beamten stand, dahinter waren etwa 100 Neonazis. Diese schwangen Holzlatten und riefen „Hoch Auschwitz“, „Hoch Borodajkewycz“ und „Juda verrecke“. Das war natürlich eine unglaubliche Provokation für uns. Die Leute haben empört und lautstark reagiert.

Und Ernst Kirchweger?

Ernst Kirchweger, der mitten in der Demonstration war, wollte auf diese Leute zugehen und mit ihnen diskutieren. Wir haben ihn aber zurückgehalten und gesagt, das sei sinnlos, er würde dort sicher körperlich angegriffen werden. So ist er in unserer Gruppe geblieben.

Als unsere Demonstration den Kreuzungsmittelpunkt erreichte, sind die Polizisten zur Seite gegangen und haben die rund hundert Neonazis auf uns losstürmen lassen. Diejenigen von uns, die ganz rechts im Demozug gingen, bekamen einige Treffer ab. Das aber nur kurzfristig, denn sofort haben hunderte Antifaschist_innen eingegriffen. Vielen konnten wir die Holzlatten abnehmen und wir haben auf den RFSlern dann einen Trommelwirbel vollzogen.

Wie kam es zum Angriff auf Kirchweger?

In diesem Tumult gelang es einem Neonazi namens Gunther Kümel , einem FPÖ-Funktionär, Burschenschafter und ausgebildeten Amateurboxer, in unseren Demozug einzudringen und Ernst Kirchweger anzugreifen. Kirchweger war der körperlich Schwächste von uns Demoteilnehmer_innen, er war 67 und sehr schmal. Es war also keine große Kunst, sich auf ihn zu stürzen und ihn mit einem Faustschlag niederzustrecken. Kirchweger stürzte mit dem Hinterkopf auf die Gehsteigkante. Um seinen Kopf hat sich eine Blutlache gebildet und er wurde bewusstlos. Antifaschist_innen haben ihn sofort abgeschirmt, damit dem am Boden Liegenden nicht noch weiteres passiert.

Gunther Kümel wurde festgehalten und dann der Polizei übergeben. Die Polizei hat eine Anzeige wegen Totschlags aufgenommen, aber den Täter auf freiem Fuß gelassen, was uns natürlich erbost hat. Kirchweger ist, nachdem er ins Spital eingeliefert wurde, operiert worden, hat das Bewusstsein aber nicht wiedererlangt und ist zwei Tage nach dem Angriff verstorben.

Wie haben Staat und Justiz reagiert?

Ein paar Wochen später hat die Staatsanwaltschaft dann doch einen Haftbefehl erlassen und Gunther Kümel wurde festgenommen. Er kam in U-Haft und der Prozess fand erst einige Monate später statt. Kümel ließ mehr als 20 Entlastungszeugen auftreten, alles Neonazis. Ihnen standen rund 50 Belastungszeugen von VSStÖ und KSV gegenüber. Der Richtersenat hat den Belastungszeugen keinen Glauben geschenkt, während er den 20 Entlastungszeugen sehr wohl glaubte. Die haben alle, wie abgesprochen, ausgesagt, der alte Mann Kirchweger habe Kümel mit Händen und Füßen angegriffen und dieser hätte sich wehren müssen – Kirchweger sei unglücklich gestürzt.

Kümel wurde wegen Notwehrüberschreitung zu zehn Monaten verurteilt, die U-Haft wurde angerechnet. So war Kümel nach fünf Monaten wieder frei – ein Schandurteil. Dieses Urteil hat zu einer erneuten antifaschistischen Demonstration geführt, aber diesmal mit doppelt so vielen Teilnehmer_innen, nämlich 14.000. Da endlich haben sich Politik und auch Gewerkschaft eingeschaltet, denn die waren bis dahin völlig stumm. Das war ja auch ein Skandal auf der politischen Seite. Man hat Kirchweger dann aber ein Staatsbegräbnis bereitet und den Sarg vor dem Parlament aufgebahrt. Der Leichenzug wurde nicht nur von Bundesregierung und Parlamentariern begleitet, sondern auch von 25.000 Antifaschist_innen.

Die FPÖ allerdings verhöhnte Kirchweger noch im Tode und bezeichnete das Begräbnis als Verschwendung von Steuergeld. Die Affäre Borodajkewycz hatte bewiesen, dass der Faschismus in Österreich nicht ausgerottet war. Nur ein Jahr später 1966, hat Martin Burger seine Nationaldemokratische Partei (NDP) gegründet. Die Partei wurde nicht zugelassen, weil das Parteiprogramm eins zu eins von der NSDAP übernommen war.

Was würdest Du jungen antifaschistischen Linken heute raten?

Ich habe im Alter von 20, 30 Jahren eine Linke hier in Wien erlebt, die wesentlich geschlossener war als heute. Heute beschäftigt sich die Linke zu sehr mit ihren Spaltungen, daher kommt es zu selten zu großen, gemeinsamen Aktionen. Für uns war auch der Vietnamkrieg ein einigendes Element. Niemand, aus keiner politischen Strömung, hätte den Krieg damals als humanitäre Intervention verteidigt. Das hat sich später mit dem Jugoslawien- und dem Irakkrieg geändert.

Wenn es gelingt, die Linken wieder mehr zu gemeinsamem Vorgehen zu bringen, wenn wir uns gemeinsam dem Faschismus entgegenstellen, bin ich für die Zukunft optimistisch.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.