Interview mit dem polnischen Sozialisten Andrzej Zebrowski
Linkswende: Müssen wir uns Sorgen machen? Putin und seine Strategen rasseln mit dem nuklearen Säbel.
Andrzej Zebrowski: Die Möglichkeit eines Atomkriegs war niemals seit 1962 wahrscheinlicher als heute, und das ist tatsächlich sehr beunruhigend. Im Verlauf der letzten Wochen wurde auch immer klarer, dass die westlichen Nationen weiter eskalieren und darauf setzen, den Krieg am Laufen zu halten, um dem „Westen“ einen Sieg zu verschaffen. Es ist ganz offensichtlich sehr beunruhigend und verstörend. So wenige Leute haben das kommen sehen. In Polen fragen viele Leute wie das im 21. Jahrhundert nur möglich sein kann.
Die Antwort ist offensichtlich: das 21. Jahrhundert stellt bessere und mehr Waffen als jemals zuvor bereit und die Konkurrenz zwischen Unternehmen und Staaten, der Kampf der Imperialismen, ist immer noch so präsent, wie während der Weltkriege und dem kalten Krieg. Wie wir gerade sehen, kann sich der Konkurrenzkampf auch intensivieren. Der Konflikt mit China ist ja ebenfalls stärker geworden und China ist eine viel größere Wirtschaftsmacht als Russland, andererseits besitzt Russland ein viel gefährlicheres Atomwaffenarsenal.
Als Sozialist_innen sollten wir Antikriegsbewegungen aufbauen – wir wollen keine Ausweitung des Krieges und wir wollen keine NATO und keine Aufrüstung in Europa. In unserer aktuellen Ausgabe von Pracownicza Demokracja (Arbeiterdemokratie) titeln wir „Stopp dem Krieg“ und „Keine Ausweitung des Kriegs“.
Linkswende: Wie ist die Lage der Flüchtlinge in Polen heute? Ein großer Teil der ukrainischen Flüchtlinge macht sich scheinbar nach Polen auf den Weg, aber es gab ja noch ganz andere Schlagzeilen über polnische Flüchtlingspolitik.
Andrzej Zebrowski: Es gibt eine wichtige Entwicklung bei den Gewerkschaften. Manche von ihnen gehen ernsthaft daran, ukrainische Arbeiter_innen in die Gewerkschaften zu integrieren. Vor dem Ukrainekrieg arbeiteten schon eine Million Ukrainer_innen in Polen und wurden oft schlechter bezahlt. Historisch war Polen ein Unterdrücker der Ukraine, die Westukraine war bis zum Zweiten Weltkrieg ein Teil Polens. Sechs Millionen Ukrainer_innen lebten in Polen, und sie erlebten Unterdrückung. Heute benutzt die extreme Rechte Anti-ukrainische Slogans. Die Integration in die Gewerkschaften ist also eine wichtige Sache.
Wir müssen auch weiter die Öffnung der Grenzen verlangen. Völlig zu Recht werden die ukrainischen Flüchtlinge willkommen geheißen. Die Leute öffnen ihre Wohnungen und versorgen sie. Aber die Situation an der Grenze mit Belarus ist immer noch akut. Es kommen immer noch Leute aus anderen Ländern von dort über die Grenze und sie werden physisch zurückgedrängt, wie Kartoffelsäcke behandelt. Hier ist ganz klar eine rassistische Flüchtlingspolitik am Werk.
Linkswende: Es scheint als wäre nicht nur die NATO, sondern der ganze Westen im Krieg mit Russland. Sogar in der Schweiz und Österreich wird die Neutralität infrage gestellt. In Finnland wird über einen Beitritt zur NATO abgestimmt und in Schweden wird er ebenfalls ernsthaft erwogen. Die politischen Eliten sehen offenbar eine Gelegenheit um lang etablierte, aber lästige politische Haltungen über Bord zu werfen. Wie wird das weiter eskalieren? Russische Kriegshelikopter haben soeben finnischen Luftraum verletzt.
Andrzej Zebrowski: Weil wir im Westen leben, müssen wir viel mehr Augenmerk darauf legen, wie der Westen agiert. Aber wie der Westen agiert, rechtfertigt nicht Putins Vorgehen, und es bedeutet auch nicht, dass Putin in irgendeinem Sinn ein Freund ist, nur weil er der Feind unserer Herrscher ist. Manche Leute machen den Fehler und fallen auf das rein, was die NATO von sich gibt, und ignorieren, wie sich die NATO in den letzten Jahrzehnten verhalten hat. Unter anderem ist sie bis an Russlands Grenzen expandiert, obwohl sie Russland zugesichert hat, das nie tun zu wollen. George Kennan, der Stratege des Kalten Kriegs, hat schon in den 1990ern gewarnt, dass der russische Nationalismus zunehmen wird, und dass Russland eine zunehmend feindselige Haltung gegenüber dem Westen einnehmen wird. Wenn die NATO trotzdem Richtung Osten expandiert, dann würde es eine ohnehin gefährliche Situation noch zusätzlich anheizen. Das war dem Westen klar.
Russland wiederum behauptet, es hätte vitale Interessen in den nahen Grenzländern. Aber wir gestehen keinem imperialistischen Land das Recht zu, über seine Nachbarländer zu bestimmen. Russland hat keine legitimen Interessen in den Nachbarregionen.
Kommentatoren tendieren meistens zu einem der beiden Lager oder gehören ganz offen zu einem. Wir dürfen als Sozialist_innen keiner der beiden Seiten Recht geben oder Verständnis für sie einfordern. In Polen leiden wir unter einer katastrophalen Vernachlässigung des Gesundheitssystems und auch das Wohnungswesen liegt im Argen. Gleichzeitig wird unheimlich viel Geld für Aufrüstung ausgegeben. Sie rechtfertigen das mit der Behauptung, das würde unsere Sicherheit erhöhen, aber das Gegenteil ist der Fall. Es besteht die Gefahr, dass in diesem Krieg, wenn er noch weiter eskaliert wird, Atomwaffen eingesetzt werden. Es scheint völlig verrückt, dass trotzdem weiter eskaliert wird, aber es ist Teil der kapitalistischen Logik. Polen will die Zahl der Soldaten in seiner Armee verdoppeln, es hat gerade die Rüstungsausgaben auf drei Prozent seines Bruttonationalprodukts erhöht, ein Prozent mehr als die NATO verlangt, und trotzdem will die Regierung die Rüstungsausgaben noch weiter steigern.
Wenn einmal taktische Atomwaffen eingesetzt werden, dann kann das ganz leicht zu einem richtigen Atomkrieg eskalieren. Wir gefährden wegen der Konkurrenz rivalisierender imperialistischer Staaten die gesamte Menschheit.
Was man verstehen und in dem Zusammenhang hervorstreichen muss, ist die Dimension des Imperialismus in dem Konflikt. Konflikte zwischen Staaten, besonders zwischen imperialistischen Blöcken sind in das kapitalistische System eingebaut. Genauso wie Konkurrenz zwischen Unternehmen ein Teil von Kapitalismus ist, ist es die Konkurrenz zwischen imperialistischen Staaten.
Dort sind die Ursachen des Ukrainekriegs zu suchen und auch die Wurzeln der fortgesetzten NATO-Eskalation. In Polen ist viel von Imperialismus die Rede, aber damit ist immer nur Russland gemeint. Der Westen wird einfach mit Demokratie gleichgesetzt, eine Art höhere Zivilisation. Das gilt für die rechten Parteien, aber genauso für die linken. Die Sozialdemokratie und auch Razem, eine junge Partei links der Sozialdemokratie, sind hier nicht von der Position des Staats unterscheidbar. Sie haben sich ständig dafür eingesetzt, dass mehr Militärhilfe geleistet wird, und für mehr Rüstungsausgaben gestimmt.
Linkswende: Du meintest zu Beginn, der Westen legt es darauf an, den Krieg so lange wie möglich am Laufen zu halten. In Deutschland werden Pazifist_innen scharf für ihre öffentlichen Forderung angegriffen, die Waffenlieferungen einzustellen. Als Antwort darauf wird behauptet, je mehr Waffen man liefert, desto schneller würde der Krieg beendet.
Andrzej Zebrowski: Schau nur, wohin die Waffenlieferungen tatsächlich führen. Man sieht kein Licht am Ende des Tunnels. Es gibt natürlich auch Differenzen innerhalb des Westens, aber die werden weniger und immer mehr Länder beugen sich dem Kurs der NATO. Es gibt einen zunehmenden Schulterschluss. Sogar Länder, die traditionell militärisch neutral standen, weder auf Seiten Russlands oder dem Westen, wollen sich jetzt offen dem westlichen Militärbündnis anschließen. Es ist auffällig wie viele Nationen sich hinter der Politik der USA einreihen. Dabei machen allerdings viele Länder des globalen Südens nicht mit.
Linkswende: Wie steht ihr zu Sanktionen? Sie werden als Mittel präsentiert, Putin und die Oligarchen zu bestrafen und ihm die Finanzierung des Kriegs zu erschweren.
Andrzej Zebrowski: Für den Moment ist es so, dass Russlands Einnahmen aus Gas- und Ölexporten durch die steigenden Preise zugenommen haben. Aber ganz prinzipiell machen viele Linke den Fehler, nur zwischen verschiedenen Lösungsansätzen zu wählen, die alle von oben angeboten werden. Wenn sie gegen militärische Interventionen sind, dann sind sie für Sanktionen. Wenn sie die von der USA dominierte NATO als Problem verstehen, dann ist eine EU-Armee die Lösung für sie. Aber ein autonomer europäischer Imperialismus ist keine Lösung gegen Imperialismus. Wir wollen Lösungen von unten, wir wollen, dass sich Menschen auf der ganzen Welt gegen den Krieg organisieren und Veränderungen erzwingen.
Linkswende: Wie ist die Ausgangssituation für den Aufbau einer Antikriegsbewegung in Polen. Polen ist doch ein sehr katholisches Land, und jüngst hat der Pabst sich gegen jede weitere Eskalation und für Friedensgespräche ausgesprochen. Das muss doch hilfreich sein.
Andrzej Zebrowski: Der Pabst hat sich vehement gegen den Krieg gestellt: Die „NATO bellt an Russlands Toren“, hat er gesagt, eine sehr kraftvolle Metapher, wie ich meine. Aber die staatstreuen Medien und die liberalen Medien gaben sich wirklich schockiert. Wie kann der Pabst nur so etwas sagen, hieß es. Wir verstehen, dass die Menschen in Polen mehr noch als in den westlichen Ländern die NATO als Garant für Sicherheit sehen. Auf der anderen Seite sehen wir auf der Straße die Unterstützung der einfachen Menschen für unsere Forderungen „Stoppt den Krieg“ und „Keine Ausweitung des Krieges“, „Nein zur NATO-Eskalation“ und „Russische Truppen raus aus der Ukraine“. Leider sind Parteien und Organisationen, die früher gegen den Krieg waren, heute ein Hindernis für den Aufbau einer echten Antikriegsbewegung.
Linkswende: Denkst du, wir könnten einen Moment wie im Ersten Weltkrieg erleben, als die anfängliche Kriegsbegeisterung in die totale Ablehnung des Kriegs umgeschlagen ist und in einer weltweiten revolutionären Welle geendet hat?
Andrzej Zebrowski: Die Haltungen und Vorstellungen der Menschen können sich sehr schnell ändern, speziell im Verlauf eines Kriegs, oder wenn Kriege drohen. Die Apathie der Menschen und die Überzeugung, dass sie nichts verändern können, kann auf dramatische Weise verschwinden, sobald die Leute einmal an Selbstvertrauen gewinnen. Wir sind momentan mit dieser massiven Inflation konfrontiert, und wir sehen jetzt schon, dass Arbeitskämpfe zunehmen.
Sobald die Menschen einmal anfangen gegen den Krieg oder die Kriegstreiberei zu rebellieren und wenn sie dann auch verschiedene Missstände miteinander verknüpfen – die Ausgaben fürs Militär, die steigenden Preise und die soziale Notlage, das Nichtstun der Regierungen gegen die Klimakatastrophe – dann werden die Verbindungen der verschiedenen Aspekte von Kapitalismus noch offensichtlicher. Die meisten Kommentatoren haben ein statisches Weltbild. Sie beobachten die heutigen Tendenzen und denken, dass es für immer so weiter gehen wird. Die Möglichkeit eines dramatischen Wandels ist in ihren Analysen einfach nicht vorhanden. Wir dagegen glauben ganz offensichtlich an solche Möglichkeiten.
In Wahrheit müssen wir genau auf eine solche Rebellion von unten setzen, darin liegt die einzige Hoffnung. Wir Sozialist_innen dürfen deshalb nicht müde werden, gegen den Krieg zu agitieren und auf die Zusammenhänge hinzuweisen. Wir müssen aufzeigen, dass die Alternative zu Imperialismus und Zerstörung in einem anderen System liegen, in dem nicht Konkurrenz und Ausbeutung unser Geschick bestimmen. Sobald Menschen gegen die Auswirkungen von Kapitalismus kämpfen und die Macht von Selbstorganisation kennenlernen, ist der Gedanke von Sozialismus, einer Gesellschaft, deren Fundament die Selbstorganisation der Arbeiter_innenklasse ist, ganz naheliegend und plausibel.
Das Interview führte Manfred Ecker.
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