Kriminalisierung von Seenotrettung: Das ist Mord an Flüchtlingen

Die europäischen Regierungen, allen voran Italiens Innenminister Matteo Salvini und Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, haben in ihrem Krieg gegen Flüchtlinge einen gemeinsamen Feind ausgemacht: NGO-Rettungsschiffe im Mittelmeer. Wer Seenotrettung behindert und kriminalisiert, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Menschen zu ermorden. Quer durch Europa hat sich allerdings auch eine breite Widerstandsbewegung unter dem Namen „Seebrücke“ formiert.
3. September 2018 |

Seit Mitte August ist kein einziges privates Rettungsschiff mehr im Mittelmeer unterwegs. Sie werden entweder alle festgehalten oder sie dürfen keine nahegelegenen Häfen mehr anlaufen und müssen Riesenumwege machen – ein Schiff der Proactiva Open Arms musste bis nach Gibraltar für einen sicheren Hafen fahren. Der Aquarius wurde die Flagge eingezogen, und die Schiffe der Sea Watch, die Lifeline und die Seefuchs von Sea Eye wurden auf Malta von den Behörden festgesetzt. Der Kapitän der Lifeline, Claus-Peter Reisch, wurde Ende Juni verhaftet und muss sich wegen völlig absurder Vorwürfe vor Gericht verantworten.

Widerstand

Die europäischen Regierungen unterlassen bewusst die Hilfeleistung und hindern NGOs daran, Flüchtlinge zu retten –  sie sind für den Mord an hunderten Menschen verantwortlich und sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Seit Italiens neuer Innenminister Matteo Salvini im Juni NGO-Schiffe an der Seenotrettung hindert, ist die Todesrate im Mittelmehr im Vergleich zum Juni 2015 um das Achtfache gestiegen – obwohl die Zahl der ankommenden Flüchtlinge deutlich gesunken ist. Es war das tödlichste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Die darauf folgende Forderung von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz, dem italienischen Modell zu folgen – also dass Rettungsschiffe in keinem einzigen Land Europas mehr anlegen dürfen sollten – kommt einem Mordaufruf gleich.

In ganz Europa sind in den vergangenen Wochen tausende Menschen unter dem Namen „Seebrücke“ auf die Straße gegangen, um gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung zu protestieren. In Wien waren es am 9. August über 500 Menschen, in Berlin Anfang Juli über 12.000 Menschen. In Wien erzählte Mohammed, der selbst auf hoher See gerettet worden ist: „Es gibt keine legalen Möglichkeiten nach Europa zu kommen. Die Grenzen sollten immer offen sein.“ Die Lösung wäre einfach: Grenzen auf und sichere Fähren von Nordafrika nach Europa.

Private Seenotrettung

Nach den Bootsunglücken 2013 hat Italien als einziges europäisches Land ihre Marine und Küstenwache zur Seenotrettung geschickt – die Rettungsmission Mare Nostrum. Starben während der ganzen Mission Mare Nostrum „nur“ rund 20 Menschen pro 1.000 in Europa Ankommenden, stieg diese Zahl in den ersten drei Monaten 2015 nach Beendigung der Mission (noch bevor die NGOs aktiv wurden), auf 45 Tote. Sea Watch wurde im Mai 2015 gegründet, Lifeline startete mit der Sea Watch 2 Ende März 2015, SOS Méditerranée charterte die Aquarius im Februar 2016.

„Es ist Wahnsinn, dass hier Privatleute übernehmen müssen, was eigentlich Aufgabe des Staates ist. Es ist Wahnsinn, dass täglich nach wie vor Menschen in Seenot geraten und dass dann letztlich die NGOs der einzige Garant dafür sind, dass sie im Einklang mit internationalem Recht gerettet werden“, sagt der Aktivist und Mitbegründer der Seenootrettungs-Organisation Sea Watch, Ruben Neugebauer, im Ö1-Europajournal.

Absurde Vorwürfe

Ein Vorwurf, den die Regierungen den NGOs machen, ist, dass sie angeblich für „Pull-Faktoren“ sorgen. Damit ist gemeint, Flüchtlinge würden sich wegen der Rettungsschiffe angezogen fühlen und sich erst deswegen auf den Weg nach Europa machen. „Dieser Vorwurf wurde auch schon Mare Nostrum gemacht“, erinnerte Neugebauer an Attacken der EU-Grenzschutzagentur Frontex, woraufhin die Rettungsmission im Oktober 2014 eingestellt wurde. Als dann die Todesrate, also die Zahl der der Toten pro Ankommenden massiv gestiegen ist, sind erst die NGOs aktiv geworden, wobei die Zahl der Überfahrten konstant geblieben ist, erklärte Neugebauer.

Die Lifeline, die seit Wochen in Malta festsitzt, ist mit ähnlich aberwitzigen Vorwürfen konfrontiert. Die Crew ist trainiert, das Schiff erfüllt alle Sicherheitsstandards, und dennoch wird das Schiff weiter in Valetta festgehalten. „Es geht darum, das Mittelmeer zu einer menschenrechtsfreien Zone zu machen“, sagte Neugebauer. „Man will nicht, dass es Zeugen gibt dafür, was an Europas Grenzen passiert.“ Wo gemordet wird, darf es keine Zeugen geben.

Menschenrechte

Natürlich retten NGO-Schiffe nicht nur Menschen, sondern sie dokumentieren auch Menschenrechtsverletzungen. Die NGO Proactiva Open Arms hat im Juli die libysche Küstenwache, die eng mit der EU kooperiert, dabei erwischt, wie sie ein Fischerboot mit Flüchtlingen auf offener See aufgeschlitzt hatte, obwohl noch lebende Menschen an Bord waren. Dabei sind eine Frau und ein Kind gestorben, nur eine Frau hat überlebt.

Neugebauer sagt etwas polemisch in Anlehnung an Kanzler Kurz’ Forderung, der „NGO-Wahnsinn müsse beendet werden“, klar, das sei richtig, aber „nicht dadurch, dass man die Einzigen, die hier noch an die Grundrechte halten, kriminalisiert und stigmatisiert, sondern der ‚NGO-Wahnsinn‘ muss dadurch beendet werden, dass die europäische Politik endlich ihren eigentlichen Aufgaben nachkommt, nämlich Lösungen zu finden, anstatt weitere Abschottungsmaßnahmen zu treffen“.

Mörder

Die Kriminalisierung von Rettungsschiffen hat bereits so weit geführt, dass sich Kapitäne von Handelsschiffen nicht mehr trauen, Flüchtlinge zu retten, weil sie damit rechnen müssen, tagelang auf See festzusitzen. Kapitäne werden teilweise von Reedern unter Druck gesetzt, weil ihnen sonst Handelseinbußen drohen. Nach der letzten Rettung der Aquarius haben die Überlebenden erzählt, dass zuvor bereits fünf Schiffe am Boot vorbeigefahren sind, wie SOS Méditerranée  berichtet hat.

Der Umgang mit Flüchtlingen, die Verweigerung von sicheren Häfen, erinnert an die Irrfahrten von Schiffen mit geflüchteten Jüdinnen und Juden in den späten 1930er-Jahren. Herbert Lackner schreibt in seinem Buch Die Flucht der Dichter und Denker: „In einem gibt es jedenfalls keinen Unterschied zwischen den Flüchtlingen von damals und jenen von heute: Weder die von den Nazis Gejagten noch jene, die seit dem Sommer 2015 dem Grauen in Syrien und im Irak entkamen, fanden viele offene Arme vor.“ Kurz, Salvini und Konsorten müssen als das bezeichnet werden, was sie sind: Massenmörder.