Marx’ politische Ökonomie – Schlüssel zum Verständnis der Gesellschaft
Die Stärke des Hauptwerks von Karl Marx, dem Kapital, liegt gerade darin, die grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufzuzeigen, ohne die das Wirtschaftssystem nicht existieren kann und auch nicht zu verstehen ist. Ökonomie und Gesellschaft existieren nicht unabhängig voneinander. Die „kapitalistischen Produktionsverhältnisse“, wie Marx sie nennt, sind die Grundlage unserer Gesellschaft, sowohl des Staats als auch von den Beziehungen der Menschen untereinander oder zur Natur. Marx deckt auf, dass Unterdrückung und die gravierende Ungerechtigkeit, die wir überall erleben, kein Zufall sind, sondern die Basis von Kapitalismus bilden.
Kapitalismus ist historisch
In den bürgerlichen Wirtschaftsanalysen hingegen wird die Wirtschaft völlig getrennt von der Gesellschaft betrachtet. Die gesellschaftlichen Zusammenhänge werden meist als naturgegeben und unveränderlich wahrgenommen. Folglich wird die freie Marktwirtschaft bloß als natürlichste Art des Wirtschaftens verstanden, welche es den Menschen ermögliche, sich frei von äußeren Zwängen – beispielsweise durch Staat oder Kirche – zu entfalten. Missstände werden entweder auf Individuen, auf die menschliche Natur insgesamt oder auf Eingriffe von außen in die Wirtschaft zurückgeführt.
Konzepte wie Eigentum, Lohnarbeit oder Staat hat es allerdings nicht immer gegeben. Sie sind erst mit dem Kapitalismus in ihrer heutigen Form entstanden. Folglich können sie nicht naturgegeben sein und es stellt sich die Frage, wie ihre Entstehung mit der Entwicklung von Kapitalismus zusammenhängt.
Für Marx war das eine der zentralsten Fragen. Er betrachtete die Wirtschaft nicht getrennt von der Gesellschaft und weder Wirtschaft noch Gesellschaft als natürlich, sondern als historisch entstanden. Er war historischer Materialist, das heißt, für ihn war die Gesellschaft weder ein reines Produkt willkürlicher Ideen, noch durch eine unveränderliche menschliche Natur determiniert. Diese Position fasste Marx wie folgt zusammen: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ (aus Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte).
Das heißt, die Menschen können zwar selbst eine bessere Welt erkämpfen, aber sie können sie nicht frei nach ihren Träumen gestalten, sondern müssen unter den bestehenden Verhältnissen arbeiten. Marx wollte ein Verständnis über das System erarbeiten, um es gezielter stürzen zu können. Zu diesem Zweck schrieb er Das Kapital und nur in diesem Kontext ist es vollständig zu verstehen.
Abstraktes wird konkret
„Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsformen und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“, schrieb Marx im 3. Band des Kapitals. Die konkreten Erscheinungsformen des Kapitalismus könnten einen tatsächlich in die Irre führen. In unserer „Freien Marktwirtschaft“ scheint jeder Mensch die gleichen Chancen zu besitzen und frei zu sein, sich selbst zu entfalten. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich dies jedoch als Illusion. Es gibt viele Aspekte, wie etwa die unterschiedlichen sozialen Voraussetzungen, welche die Möglichkeiten der Menschen einschränken. Eine muslimische Frau mit Kopftuch beispielsweise hat nicht die gleiche Chance auf einen Arbeitsplatz wie eine weiße Frau ohne Kopftuch.
Marx musste zunächst abstrahieren, die grundlegenden Zusammenhänge erkennen und mit diesen schließlich versuchen, die „konkreten Erscheinungsformen“ zu erklären und richtig einzuordnen.
So abstrahierte Marx 1847 in den Thesen zu Feuerbach, dass die menschliche Natur durch nichts gebunden ist, außer dadurch, dass Menschen essen, trinken, schlafen usw. müssen und gesellig sind, also gemeinsam mit anderen Menschen ihre Lebensgrundlage schaffen. Arbeit ist für Marx allgemein formuliert der Prozess, mit dem Menschen die Natur zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse gestalten. Die Art und Weise, wie Menschen untereinander die Arbeit organisieren – Marx nannte das die Produktionsverhältnisse – ist die Grundlage für soziale Beziehungen und somit für die Gesellschaft. Um zu verstehen, wie Kapitalismus funktioniert, musste Marx also die spezifischen Produktionsverhältnisse im Kapitalismus herausarbeiten.
Tatsächlich lassen sich von den abstrakten Produktionsverhältnissen, die im Kapital beschrieben werden, die konkreten Erscheinungsformen im Kapitalismus gut erklären. Marx hat ein Verständnis vom Kapitalismus geschaffen, mit dem wir auch heute Ungerechtigkeit, Klimazerstörung und Unterdrückung in einen gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang stellen können.
Kapitalismus entschlüsseln
In Gesellschaften vor dem Kapitalismus war die Unterdrückung von Teilen der Bevölkerung durch einen anderen, zumindest aus heutiger Sicht, offensichtlich – man denke nur an die Sklaven in der Antike oder die leibeigenen Bauern im Mittelalter und der frühen Neuzeit. Im Kapitalismus scheint diese Ausbeutung, zumindest oberflächlich betrachtet, aufgehoben zu sein. So wird behauptet, zwischen sogenannten Angestellten und Arbeitgebern bestünde ein fairer Austausch: die einen erhalten die Ergebnisse der Arbeit, die anderen dafür einen Lohn. Ausbeutung bestehe nur, wenn der Lohn nicht fair ist. Dazu solle man noch den Arbeitgebern dankbar dafür sein, dass sie einem die Möglichkeit zum Arbeiten verschaffen.
Dank Marx‘ Analyse können wir das getrost als Unsinn abtun. Wie schon beschrieben, betrachtet Marx Arbeit grundsätzlich als den Prozess, mit dem Menschen ihre Umgebung gestalten, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Arbeit wurde selbstverständlich nicht von Kapitalisten geschaffen. Vielmehr sieht man, dass die Arbeit kaum zur Befriedigung von Bedürfnissen dient. Ausbeutung existiert nach Marx im Kapitalismus ebenso allgegenwärtig wie im Feudalismus, wenn auch häufig nicht durch so offensichtliche Gewalt erzwungen wie etwa beim Frondienst.
In den kapitalistischen Produktionsverhältnissen sind nicht alle Menschen gleichgestellt. Ein kleiner Teil der Bevölkerung besitzt die sogenannten Produktionsmittel – das sind die Dinge, die wir zum Arbeiten benötigen, wie Werkzeuge, Computer, Rohstoffe, Büro- oder Fabrikgebäude. Dem gegenüber stehen sehr viele Menschen, die keine Produktionsmittel besitzen und somit ihre Arbeit an die Produktionsmittelbesitzer verkaufen müssen. Doch das, was sie erarbeiten, gehört nicht ihnen. Zu Beginn des Kapitalismus musste es den Arbeiter_innen mit harten Strafen erst eingebläut werden, dass sie ihre Arbeitsprodukte nicht mit nach Hause nehmen dürfen.
Die Arbeitsprodukte gehören den Produktionsmittelbesitzern, den Kapitalisten. Durch den Arbeitsprozess werden Waren geschaffen, die auf dem Markt verkauft werden. Die Arbeit schafft den gesamten Wert der Waren, die Arbeitenden erhalten ihn jedoch nicht vollständig als Lohn zurück. Einen Teil, den sogenannten Mehrwert, behalten Kapitalisten für sich, zum einen für das private Konto, zum anderen, um in Produktionsmittel investieren zu können. Das definiert Marx als Ausbeutung. Die Arbeiter_innen erschaffen den gesamten Wert, bekommen aber nur einen Teil zurück, nicht aufgrund höherer Mächte, sondern weil sie keine Kontrolle über die Produktionsmittel haben und nicht selbst über ihre Arbeit verfügen.
Kapitalismus hat zwar viele Bauern vom Leibeigentum befreit, das im Feudalismus vorherrschte, indem sie aber auch das Eigentum an Produktionsmitteln verloren haben, waren sie jetzt gezwungen ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Sie müssen zwar meistens nicht mit Waffen zur Arbeit gezwungen werden, jedoch reicht dazu der Druck, sonst nichts zum Überleben zu haben. Mittlerweile wurde zumindest in manchen Staaten erkämpft, dass man auch bei Arbeitslosigkeit in der Regel nicht verhungert, aber die drohenden Lebensumstände reichen als Zwang zum Arbeiten.
Schlange im Arbeitsamt in Kalifornien. Das einzige, was im Kapitalismus schlimmer ist als ausgebeutet zu werden, ist nicht ausgebeutet zu werden. © FEMA Photo Library
Die Gesellschaft ist aufgrund der Produktionsverhältnisse in zwei sich gegenüberstehenden Klassen gespalten: die Produktionsmittelbesitzer auf der einen Seite, diejenigen, die keine besitzen und ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, auf der anderen. Aber auch die Kapitalisten sind untereinander gespalten und nicht frei zu tun wie es ihnen beliebt: sie unterliegen dem Konkurrenzkampf. Marx bezeichnete sie deshalb als „verfeindete Brüder“.
Sie sind gezwungen, in Produktionsmittel zu investieren und die Ausbeutung der Arbeitskraft zu erhöhen, um sich im Konkurrenzkampf durchzusetzen oder zumindest zu überleben. Daher müssen sie ihr Kapital vermehren und zwar nur zum Zweck der Vermehrung, nicht um damit reale Bedürfnisse zu decken. Sie haben ein objektives Interesse, zu akkumulieren, unabhängig von ihrem individuellen Charakter oder irgendeiner Moral. Sie steuern die Arbeit, über die sie verfügen, daher auch nicht entsprechend der Bedürfnisse der Menschheit, sondern bloß mit der Absicht, in der Konkurrenz besser zu überleben.
Obwohl viel zu tun wäre, um den Klimawandel zu bremsen oder Hungerprobleme zu stoppen, müssen Millionen Menschen sinnlos in der Werbeindustrie arbeiten oder Waffen herstellen. Neben diesen grundsätzlichen Gegenpolen von Arbeiter_innen und Kapitalisten lassen sich auch Zwischenstufen finden, beispielsweise Besitzer eines kleinen Ladens. Sie besitzen den Laden, müssen aber gleichzeitig selbst arbeiten.
Zudem sind die Lebensverhältnisse von Arbeiter_innen sehr unterschiedlich. Heutzutage sind auch viele Menschen damit beschäftigt, den Mehrwert zu verwalten, wie beispielsweise Manager. Sie fördern die Ausbeutung, aber sind dennoch oft lohnabhängig. Gerade durch Finanzmärkte ist es sehr schwer nachzuvollziehen, wer alles vom Mehrwert lebt. Durch Marx‘ Abstraktionen lassen sich die konkreten Dinge allerdings in einen Zusammenhang stellen und die scheinbar willkürliche Dynamik des Kapitalismus wird verständlich. Es muss keine abstruse menschliche Natur als Erklärung herhalten.
Entfremdung
Ein weiterer zentraler Aspekt für Marx ist die Entfremdung. Wie bereits dargestellt, dient im Kapitalismus Arbeit nicht dazu, die Bedürfnisse zu befriedigen. Arbeiter_innen können nicht einmal bestimmen, was mit ihrer Arbeit gemacht wird. Die Menschen sind daher von ihrer Arbeit und ihren Produkten entfremdet. Da die Art und Weise, wie Arbeit organisiert wird – die Produktionsverhältnisse – die Grundlage sozialer Beziehungen der Menschen untereinander bildet, sind diese auch voneinander entfremdet.
Man erkennt die sozialen Verhältnisse kaum, die Arbeit anderer Menschen begegnet einem nicht zur Bedürfnisbefriedigung sondern indirekt als Preis, den man bezahlen muss. Die Menschen selbst begegnen einem als Konkurrenten um den Arbeitsplatz. Auch die Natur existiert für uns bei dieser Form der Arbeit nicht mehr als Lebensgrundlage, sondern als Objekt, dass zur Kapitalanhäufung beliebig, zum Teil sehr destruktiv, missbraucht wird. Der dadurch entstandene „Bruch im Stoffwechsel“ mit der Natur ist für Marx ein zentraler Aspekt für das Wesen der Menschen im Kapitalismus und gerade heute, in Zeiten von durch Menschen verursachtes Massenaussterben und Klimawandel, besonders relevant.
Am Beginn der Industrialisierung warfen Arbeiter_innen Holzschuhe (französisch sabot) in Maschinen, um sie zu zerstören. Genauso zerstörten in England die sogenannten Ludditen Maschinen. Beides waren spontane Proteste der Arbeiter_innen gegen Ausbeutung und Entfremdung, welche die industrielle Produktionsweise mit sich brachte. © Roymail
Die Entfremdung macht nochmals deutlich, wie weitreichend die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Gesellschaft und damit jeden einzelnen Menschen bestimmen. So erschreckend die Erkenntnisse sein mögen, sie sind dennoch die Grundlage dafür, die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit nicht hinnehmen zu müssen. Die Schlechtigkeit der Menschheit, die wir tagtäglich erleben, ist überwindbar. Sehr häufig wird der Egoismus der Menschen als Grund genannt, warum ein Zwang zur Arbeit bestehen müsse und dass jeder Versuch, eine bessere Welt zu erkämpfen, an den Menschen scheitern würde. Marx‘ Konzept der Entfremdung widerlegt all diese Argumente.
Unterdrückung
Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zeigen auf, dass hinter der Fassade einer rechtlichen Gleichheit aller Menschen aufgrund der Stellung der Menschen im Produktionsprozess eine massive Ungleichheit herrscht. Kapitalismus beruht auf Ungleichheit und Unterdrückung. An die Stelle der Leibeigenen im Feudalismus sind die Arbeiter_innen getreten, an die Stelle des Adels die Kapitalisten.
Die Unterdrückung nimmt im Kapitalismus eine andere Form an als im Feudalismus, aber ebenso wie sich die Interessen eines Lehnsherren mit denen einer Bäuerin spießen, prallen im Kapitalismus die Interessen von Kapitalisten und Arbeiter_innen aufeinander. Seit Bestehen des Kapitalismus ist dieser von diesem Kampf geprägt: Unterdrückung als Teil des Klassenkampfes von oben und Solidarität, Streiks und Betriebsbesetzungen als Antwort von unten.
Ebenso wie die Bauern die Adeligen genährt haben, nähren die Arbeiter_innen die Kapitalisten und sollten die Eigentumszustände nicht dulden. Um die Unterdrückung zu überwinden, müssen die Arbeiter_innen die Kapitalisten entmachten, die Produktionsmittel unter ihre Kontrolle bringen und gemeinschaftlich verwalten.