Max Weber: Ein klassenbewusster Bürgerlicher

„Ein klassenbewusster Bourgeois“, so beschrieb sich Max Weber in einem Brief an seinen Freund Robert Michels. Weber, dessen Todestag sich heute am 14. Juni 2020 zum hundertsten Male jährt, gilt als Begründer der Soziologie. Seine Soziologie war nicht unpolitisch (im Soziologensprech: „wertfrei“), sondern sie entwickelte sich in Konkurrenz zum Marxismus und war ausgesprochen pro-kapitalistisch. Weber stand persönlich und wissenschaftlich auf dem Standpunkt des deutschnationalistischen Imperialismus. Darum ist in seinen globalen Analysen zwar viel von Kultur oder Religion die Rede, er schreibt aber nie offen von Kolonialismus und Imperialismus.
14. Juni 2020 |

Im Unterschied zu Marx oder Lenin, die auch aus ökonomisch privilegierten Verhältnissen stammten, blieb Weber seiner Klasse treu ergeben. Genauso wie Marx studierte Weber Rechtswissenschaften, gleichzeitig beschäftigte er sich mit historischen und gesellschaftlichen Themen. Für den Verein für Sozialpolitik erstellte er, nach seiner Dissertation über die agrarische Geschichte des alten Roms, eine empirische Studie zu den Lebensbedingungen von Bauern in den deutschsprachigen Gebieten östlich der Elbe. Diese Studie und seine wissenschaftliche Beschäftigung mit sozialen Fragen, brachten ihn in Kontakt mit der deutschen Sozialdemokratie SPD und prägte seine politische Haltung.

Imperialismus

1893 wurde Weber Mitglied des Alldeutschen Verbandes, einer radikal nationalistischen Organisation. Aufgrund der Nähe des Verbandes zu den konservativen Interessen des deutschen Großgrundbesitzes, verließ er ihn 1896 wieder. Weber forderte ökonomische Verbesserungen für die Arbeiter_innen genauso wie für die Bauern. Auch wenn er sich vom radikalen Antisemitismus der Alldeutschen wiederholt distanzierte, dem Nationalismus mit imperialistischen Anspruch blieb er treu.

In Abgrenzung zu Bismarck und dem konservativen Flügel des deutschen Bürgertums forderte Weber eine rücksichtlose Kolonialpolitik gegenüber den „kulturlosen“ afrikanischen Völkern. Er bejubelte den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und wie so viele Bürgerliche wurde er immer pazifistischer, je schlechter sich die Lage an der Front darstellte.

Sozialdemokratie

Durch seine praktischen Erfahrungen als Forscher erkannte Weber, die soziale Sprengkraft, welche im Elend der Arbeiter_innen und Bauernmassen lag. Wie jeder Gesellschaftswissenschaftler wusste er, dass politische Stabilität nicht allein durch die Peitsche aufrechterhalten werden kann, es braucht auch das Zuckerbrot. Für Weber war das einerseits Nationalismus, der beide großen Klassen, Bourgeoisie und Proletariat, ergreifen sollte, und anderseits die reale Verbesserung der Lebensumstände für die arbeitenden Massen. Der rechte Flügel der Sozialdemokratie, angeführt von Eduard Bernstein, versuchte die Sozialdemokratie von einer staatsgefährdenden in eine staatserhaltende Partei umzuwandeln. Reformen waren für Bernstein nur über den Weg von Gesetzen und damit über den Staat zu erreichen. In diesem Punkt trafen sich Webers Standpunkte mit denen des rechten Flügels der SPD.

Die zentrale Spaltungslinie innerhalb des rechten und linken Flügels der Sozialdemokratie war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage des politischen Streiks bzw. des Massenstreiks. Der rechte Flügel, angeführt durch Bernstein und unterstützt durch die Gewerkschaftsbewegung, wollte Streiks auf innerbetriebliche oder auf innerhalb einer Branche stattfindende Auseinandersetzungen um soziale Forderungen begrenzen. Dadurch, so versprach sich der rechte Flügel, hätten sie einer Konfrontation mit dem Staatsapparat aus dem Weg gehen können, und dennoch Verbesserungen für das ökonomische Leben der Arbeiter_innen erkämpfen, was ihnen auch gelang. Mit diesem Standpunkt konnte sich Weber anfreunden.

Der linke Flügel, angeführt von Rosa Luxemburg, unterstützte die Gewerkschaften beim Kampf um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen, doch genauso sahen sie die Notwendigkeit, dass sich Streiks zu Generalstreiks ausweiten müssten, um signifikante politische Veränderungen zu erreichen.

Eng verknüpft mit dieser Frage war die des politischen Streiks, beispielweise gegen einen Krieg. Weber nahm auf Parteikonferenz der SPD in Mannheim 1906 teil. Sehr zu seiner Freude wurden politische Streiks auf dieser Konferenz für undurchführbar erklärt. Weber sah darin die Annäherung der deutschen Sozialdemokratie an die Interessen des Staatsapparates. Die Unterstützung der sozialdemokratischen Parteiführung für den Ersten Weltkrieg vollendete diese Entwicklungen hin zu einer reformistischen Partei.

Kieran Allen fasst in seinem lesenswerten Buch Max Weber: A Critical Introduction zusammen: „Weber wollte die Schwächen des Kapitalismus innerhalb des Systems mindern und die Arbeiter_innenbewegung zu einem liberalen Imperialismus erziehen“.

Die Entstehung des Kapitalismus

Im Unterschied zu vielen heutigen Soziolog_innen war für Weber die Analyse des Kapitalismus als die herrschende Gesellschaftsform eine zentrale Aufgabe der Soziologie. Berühmt wurde Weber für seine Arbeit: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In dieser stellt er die Frage warum Kapitalismus in Westeuropa seinen Ursprung nahm und nicht in Asien.

In der Soziologie wird oftmals auf undefinierbare Begriffe wir Kultur zurückgegriffen, um einer materialistischen Analyse aus dem Weg zu gehen. Ganz in diesem Sinne, versuchte Weber die Entstehung des Kapitalismus aus der protestantischen Ethik abzuleiten. Die Idee, Kapitalismus mit Religion/Kultur zu erklären, war in den Gesellschaftswissenschaften nicht Neues. Der Nazi-Freund Werner Sombart, ein weiterer Gründungsvater der Soziologie, machte abwechselnd Juden oder Engländer für die Entstehung des Kapitalismus verantwortlich. Gegen diese „Händlervölker“ müssten sich „Heldenvölker“, allen voran die Deutschen, zur Wehr setzen.

Auch wenn Webers deutlich bessere Argumente für den Zusammenhang aus Protestantismus und Kapitalismus vorbringt als Sombart, so stehen sie doch auf denselben erkenntnistheoretischen Standpunkt. Im Gegensatz zum dialektischen Materialismus von Marx, der am besten in dem Satz: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt“, zusammengefasst wird, vertreten sie eine idealistische Auffassung. Das bedeutet, für Weber und Sombart ist die gesellschaftliche Welt im Wesentlichen ein Ergebnis der Vorstellungen, welche Menschen über die Welt haben. Bei Marx entspringen umgekehrt eben diese Vorstellungen aus den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Weber versucht in seinem Werk zu zeigen, dass der Kapitalismus in Ländern entstanden ist, in denen die protestantische Religion die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung darstellte. Seine Kulturgeschichte des Kapitalismus ist rassistisch angehaucht, so spricht er arabischen und asiatischen Völkern das rationale Denken ab, dass es zur Durchsetzung des Kapitalismus benötigt.

Ideologie

Der Protestantismus zeichnete sich nach Weber dadurch aus, dass nicht das göttliche Jenseits im Mittelpunkt des menschlichen Lebens stand, wie im Katholizismus, sondern das Leben im Hier und Jetzt. Dieses Leben durfte nicht mit Ausschweifungen verschwendet werden, sondern die Selbstbeschränkung durch die Arbeit sollte im Mittelpunkt stehen. Weber erkannte völlig richtig, dass sich diese ideologischen Vorstellungen eines Lebens in Fleiß ohne Eskapaden mit dem Grundprinzip des Kapitalismus trifft, dass Profite nicht einfach im Konsum verschwendet werden, sondern erneut in die Produktion gesteckt werden(Akkumulation).

Webers Beobachtung, dass der Protestantismus die ideale Religion für die selbstbewussten Bürger war, traf auf die Frühgeschichte des Kapitalismus zu. Doch damit Kapitalismus sich als vorherrschende Produktionsweise durchsetzen konnte, musste sich das Bürgertum erst gegen die feudale Gesellschaftsordnung emanzipieren. Zwischen der Entstehung des Protestantismus und der beginnenden kapitalistischen Entwicklung liegen 200 Jahre. Nur weil die Ideen des Protestantismus in der Welt waren, wurde sie nicht automatisch zum bestimmenden Prinzip einer ganzen Gesellschaft. Oder wie Marx sagen würde: „Es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen.“ Die Durchsetzung des Kapitalismus im Westen wurde von tiefgreifenden ökonomischen und politischen Veränderungen angestoßen, der Protestantismus konnte diese Veränderungen verstärken, aber nicht erzeugen.

Marxistische Analyse

Der britische Marxist Chris Harman argumentiert in seinem lesenswerten Text The rise of capitalism: „Der Kapitalismus ist nicht das Ergebnis einer eigentümlichen europäischen Entwicklung. Seit der ersten Landwirtschaft im Nahen Osten vor etwa 10.000 Jahren gab es ein kumulatives, wenn auch sporadisches Wachstum neuer Produktionskräfte, die sich über die verbundenen Landmassen Europas, Asiens und Afrikas ausbreiteten. Der Aufstieg des Kapitalismus in Europa ist nur eine vorübergehende Phase in diesem ganzen Prozess“. Drei zentrale Faktoren für die beginnende kapitalistische Entwicklung in Europa waren 1. Ursprüngliche Akkumulation, 2. Aufstieg des Bürgertums, 3. Welthandel Kolonialismus.

Ursprüngliche Akkumulation

Die ursprüngliche Akkumulation, war die gewaltsame Vertreibung der Landbevölkerung von ihren Höfen (ursprüngliche Enteignung). Die Besitzlosen mussten in die Städte ziehen und frei von jedem Eigentum, ihre Arbeitskraft an irgendeinen Fabriksbesitzer verkaufen. Der marxistische Historiker Thompson zeigte in seinem Buch The founding of the british working class, dass die Arbeiter_innen nicht freudig in die Fabrik marschierten, sondern sie mussten gewaltsam an die Arbeit diszipliniert werden. Die Ludditen Bewegung, in der sich sowohl katholische als auch protestantische Arbeiter_innen engagierten, war eine erste kollektive Antwort der entstehenden Arbeiter_innenklasse auf den kapitalistischen Arbeitsdruck und die Ersetzung von Handarbeit durch maschinelle Produktion.

Aufstieg des Bürgertums

Über viele Jahrhunderte hinweg war Asien Europa technologisch und wissenschaftlich meilenweit überlegen. Trotzdem entstand der Kapitalismus nicht in diesen Ländern, sondern im rückschrittlichen Westeuropa, allen voran in Holland und in Großbritannien. Während die ökonomisch/technologische Basis für eine kapitalistische Entwicklung in Asien vorhanden war, fehlten die politischen Grundlagen. Während es in Asien schon früh zentralistisch organisierte Staaten mit einheitlichen Steuersystemen, stehenden Armeen usw. gab, war das mittelalterliche Europa extrem fragmentiert.

Könige und Kaiser hatten wenig reale Macht. Kirche und lokale Adelige verfolgten ihre eigenen Interessen und bekämpften die absolutistische Herrschaft. Diese permanenten Auseinandersetzungen ließen ein Machtvakuum entstehen, welches von Händlern und Handwerkern genutzt wurde, um im in den Städten eigenen Verwaltungsstrukturen aufzubauen. In den Städten bildeten sich Manufakturen und das Handelsvolumen schnellte in die Höhe. Auch im asiatischen Raum entwickelten sich schon sehr früh größere Städte mit Manufakturen, doch diese Städte waren dem Zugriff der Monarchen viel direkter unterworfen als in Westeuropa. So, die marxistische Erklärung, warum Kapitalismus sich im rückständigen Europa durchsetzen konnte. Entgegen mancher soziologischen Kritiken ist Marxismus nicht ultra-ökonomistisch, sondern Marxismus berücksichtigt immer auch das Ineinanderwirken von ökonomischen und politischen Entwicklungen, meist als Basis und Überbau bezeichnet.

Welthandel

Holland ist das ideale Beispiel für solch einen fragmentierten Staat, indem sich die (protestantische) bürgerliche Klasse im Zuge des 30-jährigen Krieges zur Führungsrolle aufschwang und dann binnen weniger Jahre zur Weltmacht wurde. Geografisch verfügten alle Staaten in denen sich der Kapitalismus entwickelte über einen direkten Meerzugang. Welthandel und Kolonialismus waren weitere Faktoren für die Entwicklung des Kapitalismus. Einzelne Händler begannen sich zusammenzuschließen, um Schiffe auf Weltreisen zu schicken. Der Verlust eines solchen Schiffes konnte ganze Gruppen in den Ruin treiben und somit entstanden Versicherungsgesellschaften. Der Welthandel führte so zur Anhäufung von riesigen Kapitalien und gleichzeitig verlangte die Verbreitung von geplünderten Bodenschätzen nach immer neuen Arbeitskräften, die dank der ursprünglichen Akkumulation vorhanden waren.

Gerade gegenüber dem Welthandel und dem damit zusammenhängen Kolonialismus und Imperialismus ist Weber vollkommen blind. Wenn Weber über die fehlende kapitalistische Entwicklung Indiens schreibt, erwähnt er die englische East-India-Company in keinem einzigen Satz. Die East-India-Company was der erste global agierende Konzern der Weltgeschichte. Dieser beraubte Indien systematisch seiner Bodenschätze und Ressourcen und begünstigte somit die Entstehung der englischen Industrieproduktion.

Zerstörung der Vernunft

Sowohl in der Frage des Kolonialismus als auch in der Frage der ursprünglichen Akkumulation versucht Weber die bluttriefende Geschichte des Kapitalismus in eine harmlose, rassistisch angehauchte, Ideengeschichte zu verwandeln. Der ungarische Marxist Georg Lukacs stellt in seinem Meisterwerke Die Zerstörung der Vernunft fest, dass Weber den Kapitalismus „de-ökonomisiert und spiritualisiert“. Der Kapitalismus wird nicht mehr in seinem spezifischen historischen Entstehungskontext thematisiert, sondern es wirkt so, als wäre er plötzlich und rein zufällig über die Menschheit gekommen.

Weber definierte den Kapitalismus folgendermaßen: „Der Impuls zum Erwerb, das Streben nach Gewinn, nach Geld, nach der größtmöglichen Geldmenge hat an sich nichts mit Kapitalismus zu tun.“ Das wesentliche Merkmal des Kapitalismus sei die Suche nach: „Erneutem Profit durch kontinuierliches rationales … Unternehmertum.“ Diese sehr grobe Definition ist zwar zutreffend, aber Weber versucht eine kapitalistische Gesetzmäßigkeit, nämlich den Zwang von Unternehmen, Gewinne zu lukrieren und diesen erneut zu reinvestieren, um noch mehr Profit zu lukrieren (Akkumulation) als grundsätzliche menschliche Eigenschaft darzustellen.

Die Arbeiter_innen sind für Weber nur mehr passive Objekte einer Geschichte, die ohne ihrem Zutun abläuft. Sein Postulat der Wertfreiheit dient zu nichts anderem, als eine wissenschaftliche Kritik des Kapitalismus zu verunmöglichen. Gerade darum ist er der Star aller politischen Strömungen, die Kapitalismus zwar verbessern, aber keinesfalls zerstören wollen.

Trotzdem ist eine Auseinandersetzung mit vielen Schriften und Ideen von Max Weber lohnenswert. Im Gegensatz zu vielen heutigen Soziolog_innen beschränkte er sich nicht darauf, empirische Phänomene aneinanderzureihen, sondern versuchte diese in eine umfassende Gesellschaftstheorie zu integrieren. Kieran Allen zeigt bspw., dass seine Texte über die Auswirkungen der Sklaverei auf das römische Imperium einer materialistischen Darstellung sehr nahekommen. Genauso sind auch seine Thesen zu unterschiedlichen Herrschaftsformen nach wie vor interessant. Wer aber nach einer umfassenden Gesellschaftstheorie sucht, welche auch die Möglichkeit von politischer Veränderung in den Blick nimmt, ist bei Marx und an ihn anknüpfenden Denkern deutlich besser aufgehoben.

Empfehlung zum Weiterlesen: Kieran Allen Max Weber: A Critical Introduction