Nach dem Terroranschlag vom 2. November in Wien
Der Journalist Karim El-Gawhary wies am Tag nach dem Anschlag in einer Stellungnahme darauf hin, dass der IS seit 2015 gezielt das Ziel verfolgt, den Rassismus in Europa zu eskalieren: „Mit jedem islamistischen Anschlag in Europa und dem Westen wächst dort die antiislamische Stimmung. Die Folge wäre eine Polarisierung und wie es damals hieß, ‚die Eliminierung der grauen Zone‘, wie die Koexistenz zwischen Muslimen und Nichtmuslimen dort umschrieben wurde. Mit der Ausgrenzung der Muslime im Westen, könnten diese so leichter in die Arme der militanten Islamisten und ihrer Ideologie getrieben werden und wären leicht zu rekrutieren.“
Nichts kann den Mord an Unschuldigen rechtfertigen, aber wir sollten versuchen zu verstehen, was Menschen, wie den jungen IS-Anhänger dazu treiben, so ein Verbrechen zu begehen. Die Ursache für dschihadistischen Terror liegt weder im Islam als Religion, noch in „muslimischer Kultur“, wie uns schon jahrelang versucht wird, weiszumachen. Die Ursache liegt viel tiefer; dschihadistischer Terror ist eine Reaktion auf eine politische und soziale Umwelt, die von Konflikt und Leid geprägt ist. Aber der Terror des Islamischen Staats (IS) zielt nicht darauf ab, Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu beenden, sondern sie zu eskalieren, bis die „islamische Welt“ und die „westliche Welt“ in offenen Krieg gegeneinander treten.
Macron, Sprachrohr der Islamfeinde
Der französische Präsident Macron und so manche europäische Regierungen schlagen bewusst oder unbewusst in dieselbe Kerbe, indem sie eine demütigende, gegen die muslimische Bevölkerung gerichtete Maßnahme nach der anderen erlassen. Erst vor wenigen Tagen kündigte die französische Regierung ein „Gesetz gegen islamischen Separatismus“ an. Sein Innenminister Gérald Darmanin zeigte in einem Interview seine Abscheu vor Supermarktregalen, wo gläubige Muslime und Juden halal oder koschere Lebensmittel einkaufen können. Das trage zum Separatismus bei. Das ist die Art rassistischer und beleidigender Demagogie, die französische Muslime beinahe täglich erleben.
Die extrem herabwürdigenden Mohammed Karikaturen des Magazins Charlie Hebdo werden nicht einfach nur wieder publiziert und lösen deshalb Kopfschütteln, Wut und sinnlose Mordattacken aus.
In einigen Großstädten wie Toulouse und Montpellier wurden die Karikaturen auf die Rathäuser projiziert, und mehr als eine Regionalregierung will Karikaturenhefte mit diesen Karikaturen an alle Oberstufenschüler verteilen lassen. Die Wirkung auf die französische Bevölkerung ist allerdings sehr begrenzt. In Online-Foren beklagen sich islamfeindliche Lehrer, dass „beinahe alle“ ihre Schüler es gut finden, die religiösen Überzeugungen der Menschen nicht zu verspotten, denn „Respekt ist wichtig.“ Der letzte Punkt ist entscheidend: wir müssen die solidarische Haltung, die trotz aller Verhetzungsversuche in der Bevölkerung dominiert, laut und sichtbar zur Geltung bringen. Das ist der Auftrag an die politische Linke in dieser verunsicherten Stimmungslage.
Mit der Angst brechen
Muslimische Frauen berichten, dass sie sich heute nicht aus dem Haus getraut haben, aus Angst sie könnten wegen ihres Kopftuchs angegriffen werden. In sozialen Medien warnt man sich gegenseitig davor, auf die Straßen zu gehen. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um mit einer breiten Solidarisierung diesen Menschen die Angst zu nehmen.
Terrorismus ist eine Strategie, die aus der Verzweiflung geboren ist; die hat ihre Wurzeln in der Gewalt, die im sogenannten Krieg gegen Terror über Länder wie Irak und Afghanistan gebracht wurde. Sie stammt aber auch aus der (falschen) Überzeugung, dass Muslime und Nichtmuslime nicht friedlich und gleichwertig miteinander leben können. Vergessen ist, dass in westlichen Nationen viele Millionen Menschen gegen die Kriege der USA und ihrer Verbündeten protestiert haben. Vergessen ist, dass unter den größten Protestbewegungen der letzten Jahre antirassistische Proteste wie der legendäre Protest gegen den Muslim Ban von US-Präsident Trump waren. Diese Bewegungen entstehen im Gegensatz zur Strategie der Verzweiflung aus der Hoffnung, dass wir sehr wohl eine bessere Welt, eine solidarische Welt erkämpfen können. Beide Strategien sind Reaktionen auf eine grausame und ungerechte Weltordnung, aber nur eine hat den Anspruch diese zu überwinden.
Wenn etwas dem dschihadistischen Terror die Grundlage entziehen kann, dann sind das solidarische Massenbewegungen. Während der Aufstände des arabischen Frühlings fanden sich Gruppen wie al-Qaida auf dem Abstellgleis. Sie waren, als Millionen Menschen ihr Leben für die Überwindung der autokratischen Regimes aufs Spiel gesetzt haben, völlig irrelevant geworden. Erst die fortgesetzten Gräuel im Irak und die Eskalationsstrategie Assads in Syrien haben die Dschihadisten wieder erstarken lassen.
Vorsicht vor Nehammer und Kurz
Terror spielt immer den Law & Order Politikern in die Hände, erlaubt ihnen eine Politik der eisernen Faust, die Einführung von Überwachungsmaßnahmen und freiheitsberaubende Gesetze. Kanzler Kurz und Innenminister Nehammer sind heute auffällig zurückhaltend aufgetreten. Wir wissen, dass sie auch ganz anders können. Schamlos wurden hierzulande Tschetschenen unter Generalverdacht gestellt, nachdem der Lehrer Samuel Paty in Frankreich von einem jungen tschetschenisch stämmigen Mann ermordet wurde. „Nehammer und Raab setzen Taskforce gegen kriminelle Tschetschenen ein“ titelte ihre Meldung an die Medienagentur APA. Im Juni 2020 riefen sie eine Dokumentationsstelle politischer Islam ins Leben, mit keinem anderen Zweck als der Demütigung und Stigmatisierung der gesamten muslimischen Bevölkerung als potentiell gefährliche Nachbarn. Wir müssen damit rechnen, dass sie bald umschwenken und wieder zu solchen Mitteln greifen. Die „Identitären“ versuchen Druck in diese Richtung zu erzeugen und demonstrieren am Donnerstag, den 5. November in der Wiener Innenstadt unter ihrem rassistischen Leitmotiv „gegen Islamisierung und Bevölkerungsaustausch.“
Wir müssen diese rassistische Bande wieder in ihre Keller verscheuchen und massenhafte Kundgebungen der internationalen Solidarität auf die Beine stellen.