Nein zu Ausgangssperren
Fast jeder hat schon eine ähnliche Geschichte gehört: Marilen lebt in einer Wohnung ohne Balkon oder Garten, wollte kurz an die frische Luft und Sonne tanken, und hat sich eine einsame Parkbank gesucht. Nach wenigen Minuten wurde sie von der Polizei vertrieben: „Verweilen verboten!“ Im COVID-19-Maßnahmengesetz gibt es aber keinen Verweilen-verboten-Passus. Im Gegenteil: Öffentliche Orte im Freien können alleine, mit Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, oder mit Haustieren betreten werden, insofern ein Abstand von mindestens einem Meter anderen Personen gegenüber eingehalten wird.
Dass diese Polzisten im Matznerpark im 14. Wiener Gemeindebezirk nach eigenem Gutdünken Verbote erfunden haben, ist kein einmaliges Hoppala. Derartige und noch viel haarsträubendere Berichte gibt es zuhauf. Sogar unter Begleitung eines ORF-Kamerateams haben Polizisten eine einzelne junge Frau am Donaukanal von einer weithin isolierten Parkbank vertrieben. Sie fühlen sich im Recht, weil die entsprechende Stimmung geschürt wurde. Hier sieht man, wie sich autoritäre Strukturen im Wechselspiel mit einer autoritären Krisenpolitik gegenseitig verstärken.
Ja zu wirksamen Maßnahmen
Es stimmt zweifellos, dass die Ausbreitung des Coronavirus gebremst wird, wenn wir physische Kontakte zu anderen Menschen minimieren, und der Aufruf #bleibzuhause ist in diesem Sinne zu unterstützen. Aber wir müssen Luft schnappen gehen können, wir müssen auf unsere Gesundheit schauen, und unsere Abwehrkräfte stärken, und wir sollten dabei nicht über die Schulter gucken müssen, ob hoffentlich keine Polizei daher kommt. Eine polizeilich überwachte Ausgangsbeschränkung spielt in einer ganz anderen Liga.
Das ist erstens ein massiver Eingriff in unsere Grundrechte, zweitens bekommt die Polizei mehr Vollmachten, was schon aus demokratiepolitischer Sicht niemals einfach so hingenommen werden darf, und drittens gibt es keine solide wissenschaftliche Basis dafür. Jede Intervention des Staates die unsere Freiheiten einschränkt, muss auf soliden und nachvollziehbaren Fakten basieren, schreibt das führende Magazin für Infektionskrankheiten The Lancet Infectious Diseases in einem Artikel über „Wissenschaftliche und ethische Grundlagen für ‚social distancing‘ Interventionen gegen COVID-19“.
Über die Wirkung von Schulschließungen und ähnlichem liegen viele Daten vor, aufgrund derer genaue Modelle berechnet werden können. Kombiniert man Abstand halten am Arbeitsplatz und Schulschließungen, so reduzierten sich die Infektionsraten um 78,2 Prozent (zwischen 59,0 und 94,4 Prozent). Für die Wirkung von Ausgangsbeschränkungen und Ausgangssperren existieren keine solchen Daten. „Bei dem, was jetzt (nach all den anderen Maßnahmen) an Sozialaktivität verbleibt, was wäre dann noch der Gewinn, wenn man zusätzlich eine Ausgangssperre macht?“ Um diese Frage zu beantworten fehlen die Zahlen, gibt Dr. Michael Drosten zu bedenken.
Berufstätige am häufigsten infiziert
In Deutschland, wo viel umfangreicher getestet wird, als in Österreich, wurde klar, dass Berufstätige am häufigsten infiziert sind. Wenn man also die Ausbreitung möglichst effizient bremsen wollte, dann hätte man in den ersten Wochen vor allem die Betriebe schließen müssen, die nicht unmittelbar für die Aufrechterhaltung unserer Grundversorgung und der medizinischen Versorgung mitwirken. Es gibt aber zur Genüge Berichte über Betriebe mit hunderten Angestellten, die zwei Wochen, nachdem Notmaßnahmen getroffen wurden, weiter voll arbeiten lassen, obwohl dort nur solche Dinge wie Autoteile produziert werden.
Da ist was faul. Maßnahmen, die die Grundrechte massiv gefährden werden mit Leichtigkeit verordnet, obwohl ihre Wirkung zumindest fragwürdig ist. Woanders wird weg gesehen, obwohl die Gefährdungslage der Angestellten in größeren Betrieben unzweifelhaft hoch ist. Und diese gefährdeten Personen haben Familien, die sie infizieren können und von wo das Virus noch weiter ausgebreitet werden kann.
Kooperation statt Repression
Wir müssen aber viel weiter denken, nämlich in Erinnerung rufen, dass der Staat ein Gewaltinstrument ist, das als Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassen entstanden ist. Wir können als unterdrückte Klasse oder als Klasse der Werktätigen nicht einfach repressive Maßnahmen hinnehmen, die einseitig nur uns betreffen. Repression kritiklos hinzunehmen bedeutet Kapitulation – nicht nur vor einem anonymen Akteur wie „dem Staat“, sondern vor Politikern wie Sebastian Kurz mit einer Vorgeschichte.
Kurz hat sich schon lange vor der Coronakrise mit teils erfolgreichen Versuchen zur Beschränkung von Grundrechten hervorgetan. Wo das enden kann, hat Frankreich gezeigt. Nach den Terrorattentaten von Paris wurde der Ausnahmezustand sechsmal verlängert und dann durch ein neues Anti-Terror-Gesetz fortgesetzt. Der Ausnahmezustand wurde zur Normalität, das aktuelle Corona-Maßnahmengesetz könnte genauso missbraucht werden.
Wir können anders
Stattdessen sollte die Bevölkerung entscheiden können – und zwar auf wissenschaftlicher Basis – welche Maßnahmen ergriffen werden sollen. Und wenn wir dann überzeugt davon sind, dass wir möglichst zuhause bleiben sollen, dann würden wir andere Methoden finden als Repression. In vielen Wiener Parks gibt es ein gut funktionierendes System von Parkbetreuern, die zwischen verschiedenen Gruppen vermitteln, zwischen Jung und Alt etwa. Sie wissen, wie man mit rebellischen Jugendlichen in einen wirklichen Dialog tritt. Dasselbe könnten wir an allen Plätzen aufziehen, wo sich zu viele Menschen ansammeln, oder wo immer es nötig ist.
Die Netzwerke von Sozialarbeiter_innen und ähnlichen Institutionen existieren ja schon. Wir haben eine breit verankerte Gewerkschaft mit Betriebsräten und Betriebsrätinnen, die sehr schnell und effizient mit ihren Kolleg_innen Aufklärung und andere Aufgaben übernehmen könnten. Wir haben vor allem am Land ein lebendiges Vereinsleben, Freiwillige Feuerwehren, und viele andere Strukturen auf die wir zurückgreifen können. Weil im Verlauf dieser sehr ernsthaften Krise die politischen Weichen für die Zukunft gestellt werden, müssen wir aktiv eingreifen. Eine passive Duldung der von oben verordneten Notmaßnahmen kann unsere Grundrechte gefährden.