Shireen zeigte die Realität, dafür musste sie sterben

Diese Woche jährt sich zum 74. Mal die palästinensische Nakba (Katastrophe). Während die Zionisten am 15. Mai die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 feiern, trauern die Palästinenser weiterhin um den Diebstahl des Landes und die Massaker, die zerstörten Häuser und die Vertreibungen, die eine andauernde kollektive Katastrophenerfahrung erzwingen. In diesem Jahr ist unsere Trauer besonders groß, da wir auch den Verlust der palästinensisch-amerikanischen Al Jazeera-Reporterin Shireen Abu Akleh betrauern, die am 11. Mai außerhalb des Flüchtlingslagers Dschenin durch gezieltes israelisches Scharfschützenfeuer ermordet wurde
25. Juli 2022 |

Als Journalistin mit über zwei Jahrzehnten Erfahrung hat Shireen seit langem über den Schmerz, die Trauer, die Tragödie, die Widerstandsfähigkeit und den Widerstand der Palästinenser berichtet.

Am 11. Mai waren Shireen und ihr Kollege,  der Journalist Ali Al Samoudi mit Pressewesten und Helmen im Lager von Dschenin, um über einen weiteren israelischen Überfall zu berichten. Stattdessen schossen israelische Soldaten auf sie. Ali erlitt einen Schuss in die Schulter, und Shireen wurde durch einen Schuss in den Kopf direkt unterhalb ihres Helms tödlich getroffen.

Unmittelbar nach ihrer Ermordung kursierten Videos im Internet, die zeigten, wie Shireen in einer Lache ihres eigenen Blutes lag, neben ihrer Leiche waren ihre Kollegin, die Journalistin Shatha Hanaysha, und ein junger Palästinenser, der versuchte, ihren leblosen Körper aus der Schusslinie zu ziehen, während ebenfalls auf ihn geschossen wurde.

Die Nachricht ging sofort um die Welt und Millionen Menschen auf der ganzen Welt brachten in den sozialen Medien ihre Wut, ihren Schmerz und ihr Entsetzen zum Ausdruck, nur um dann, entweder von den großen Technologiekonzernen gebannt zu werden oder mit Israelischer Hasbara Propaganda als blutrünstige Terroristen oder wie so oft, als Antisemiten beschimpft zu werden.

Westliche Medien stellten die Ermordung als umstritten dar und übernahmen die Argumente israelischer Seite, dass Palästinenser für ihren Tod verantwortlich seien.

In Palästina hingegen strömten Tausende von Menschen auf die Straßen, um zu gedenken und zu protestieren. Zwei Tage später, nachdem Shireens Leiche von Ramallah nach Jerusalem überführt wurde, begann die Trauerprozession.

Palästinenser trugen ihren Sarg durch die Straßen Jerusalems und es wurde dabei von israelischen Soldaten mit Schlagstöcken auf sie eingeknüppelt , sie wurden verletzt und  einfach nur brutal behandelt.

Die Sargträger mussten drum kämpfen, dass der Sarg nicht auf den Boden fiel. Diese Reihe von schrecklichen Ereignissen, nach der Ermordung von Shireen, war eine krasse Erinnerung an die Abgründe der palästinensischen Entmenschlichung. Wieder einmal wurde den palästinensischen Toten und den Trauernden, ihr Recht auf körperliche Unversehrtheit verweigert. Den ganzen Trauernden, den Palästinensern wurde wieder einmal verwehrt, unsere Toten würdevoll zu begraben, unsere Tränen zu vergießen und in Frieden zu kondolieren. Selbst in Momenten großer kollektiver Verzweiflung wird uns das Recht auf kollektive Trauer verwehrt.

Es gibt mehrere Gründe dafür, dass die Ermordung von Shireen die Herzen der Palästinenser in aller Welt getroffen und eine Form der Trauer ausgelöst hat, die mit der Erfahrung des Verlusts eines geliebten Menschen vergleichbar ist.

Wie heuchlerisch kann diese deutsche Erinnerungskultur eigentlich noch sein? Oder ist es einfach nur deutscher Rassismus?

Bevor wir alle den unmittelbaren Zugang zu Nachrichten hatten, den die Ära der sozialen Medien mit sich brachte, war Shireen an vorderster Front und berichtete über die Entwicklungen in Palästina wie die Al-Aqsa-Intifada im Jahr 2000.

Meine Mutter verfolgte kontinuierlich ihre Berichterstattung hier aus Deutschland.

Sie war eine Ikone, die die Palästinensische Geschichte erzählt, die die globalen Medien immer wieder zu begraben versuchen. Sie war deshalb für Palästinenser wichtig im Alltag, weil es ein Volk ist, das endlose Formen von Verrat und Verlassenheit erlebt hat.

Hier in Deutschland hält sich jegliche  Empathie für Palästinenser wie immer total in Grenzen. Es werden Demos, Gedenkveranstaltungen und überhaupt alle Veranstaltung verboten oder öffentliche Räumlichkeiten entzogen , sobald es über das Thema Palästina geht, selbst wenn Linke Israelis oder Jüd:innen sie anmelden oder veranstalten wollen. Man wird immer wieder kontinuierlich mit dem „Beide Seiten“-Vorwurf, Antisemitismus und Terrorismus konfrontiert, anstatt sich mit der eigentlichen Thematik auseinanderzusetzen und das selbst, wenn der eigentliche Aggressor, dank unzähligen Videoaufnahmen, klar zu benennen ist.

Die Fragen für mich als Deutsche mit palästinensischer Mutter, sind immer wieder die gleichen: Wie heuchlerisch kann diese deutsche Erinnerungskultur eigentlich noch sein? Oder ist es einfach nur deutscher Rassismus?

Was haben wir aus unserer Geschichte denn wirklich gelernt? Was bedeutet denn eigentlich „Nie wieder?“

Katharina Bühl

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