Sowjets – die demokratischste Regierungsform aller Zeiten
In einer sozialistischen Revolution wird die Gesellschaftsordnung völlig umgekrempelt, sie beschränkt sich nicht auf Veränderungen an der Spitze. Die Massen regieren das Land mittels „Sowjets“ und übernehmen dabei die Kontrolle über ihr Leben und über die Geschicke der Gesellschaft. Sowjet ist das russische Wort für Räte beziehungsweise Ratsversammlungen.
Arbeiter_innen, Soldaten, Bauern und Bäuerinnen wählten gleich nach Ausbruch der Russischen Revolution im Februar 1917 ihre Vertrauensleute und entsandten diese Delegierten in die Sowjets. „Niemals zuvor war eine politische Körperschaft erfunden worden, die sensibler und empfänglicher für den öffentlichen Willen war“, schrieb der amerikanische Journalist John Reed 1918.
Die meisten Führungspersönlichkeiten, die Intellektuellen, Politiker und Medien halten nicht viel von den einfachen Menschen. In ihren Augen sind wir zu ungebildet und charakterlich ungeeignet, um wichtige Entscheidungen treffen und eine Gesellschaft führen zu können. Umgekehrt halten sie sich selbst für Auserwählte; ihre Verachtung für die einfachen Menschen ist die Kehrseite der Arroganz der herrschenden Eliten.
Kreatives Potential der Arbeiter
Uns wird vermittelt, dass reiche und privilegierte Menschen besser wüssten als wir selbst, was gut für uns ist. Gleichzeitig wollen sie uns glauben machen, dass es wahre Demokratie sei, wenn wir alle vier bis fünf Jahre die Freiheit haben, wählen zu dürfen, wer über uns regiert.
Aber die parlamentarische Demokratie, auch wenn sie einen großen Fortschritt gegenüber jeder willkürlichen Diktatur darstellt, verblasst gegenüber einer echten Demokratie, die von der Masse der Werktätigen ausgeht. Nur, wie sorgt die Masse dafür, dass wirklich ihre Interessen vertreten werden, ihr Wille zum Ausdruck kommt? Dazu muss man die Entstehungsgeschichte des Rätesystems kennen.
Regierungsorgan
In jedem großen Massenaufstand des 20. Jahrhunderts standen die Kämpfer_innen vor der Herausforderung, ihren Kampf mit demokratischen Mitteln selbst zu organisieren. Typischerweise entstanden Versammlungen in umkämpften Betrieben, aber auch in geographischen Einheiten, wie befreiten Bezirken oder Provinzen. Betriebsversammlungen, Stadtteilkomitees oder Nachbarschaftsversammlungen hatten überall, wo sie soweit kamen die bestehende Macht herauszufordern, die Tendenz, sich zu Formen der politischen Macht zu verwandeln.
Aufmarsch der Arbeiterräte: Auch in Österreich gab es 1918 Arbeiter- und Soldatenräte, die Macht ausübten. Hier marschieren sie vor dem Parlament in Wien auf. Foto: ÖNB
Diese Organisationen basierten alle auf dem in Russland vorgelebten Modell der Sowjets. Sie entstanden aber immer aus einer akuten Not heraus: streikende Arbeiter werden mithilfe von Polizei angegriffen, oder die Bosse sperren Arbeiter_innen aus, tauchen ab, schließen ihre Fabriken, oder liefern keine Ersatzteile.
Die Arbeiter haben jeweils nur die Wahl, sich entsprechend zu organisieren, oder sie erfahren eine Niederlage und die brutale Rache der Bosse. John Reed schrieb 1918 in seinem Artikel „soviets in action“:
„Der Sekretär der Kadettenpartei erzählte mir, dass der Zusammenbruch des Wirtschaftslebens des Landes Teil einer Kampagne war, um die Revolution zu diskreditieren. Ich weiß von einer Kohlenmine bei Charkow, die von den eigenen Besitzern angezündet und geflutet wurde, von einer Textilfabrik, deren Ingenieure die Maschinen zerstörten, bevor sie sie verließen, von Eisenbahnbeamten, die von den Arbeitern dabei erwischt wurden, wie sie Lokomotiven lahmlegten.“ So kommt es also beinahe zwingend zur Gründung von Fabriksversammlungen und Fabrikskomitees im Ablauf ernsthafter Klassenkämpfe.
1905 – Erster Versuch
Aus solchen Kampfinstrumenten entwickelten sich schließlich Regierungsorgane. Streikkomitees und Betriebsversammlungen waren die Embryos der künftigen Arbeiterräte. Deshalb insistiert Marx zu Recht, dass die Massen ihr kreatives Potential erst im Kampf entfalten werden. Nur so lernen sie den Wert von Solidarität in allen Facetten kennen und die Möglichkeiten, die ihnen offen stehen, wenn sie erst einmal kollektiv die bestehende Macht herausfordern.
In der Russischen Revolution von 1905 gründeten die Arbeiter_innen während des ersten Generalstreiks Fabrikskomitees und entsandten deren Delegierte an ein zentrales Streikkomitee in Petrograd. Dieses Streikkomitee nannten sie den Rat der Arbeiterdeputierten oder den Sowjet. Er rief den zweiten Generalstreik im Herbst 1905 aus, und entsandte Delegierte nach ganz Russland.
Für kurze Zeit akzeptierte die kaiserliche Regierung den Sowjet als Sprecher der revolutionären Arbeiterklasse Russlands. Als während der Februarrevolution von 1917 ganz Russland in Aufruhr war und der Zar abdankte, war es ein naheliegender Schritt für die revolutionäre Bevölkerung, wieder einen Sowjet ins Leben zu rufen.
1917, Wahlen zum Petrograder Sowjet in den Putilow-Werken. Diese Arbeiter_innen galten als Avantgarde der Revolution ©Commons
Bevölkerung regiert
Einen entscheidenden Beitrag zum Sieg über das kaiserliche Regime hatten die in Petrograd stationierten Truppen geleistet. Deshalb entstanden in Petrograd zeitgleich Arbeiter- und Soldatenräte, die auch wirklich gemeinsam tagten und miteinander Entscheidungen trafen. Anfangs wurden vor allem bei den Truppen nicht immer die zuverlässigsten und loyalsten Soldaten als Delegierte bestimmt. Manchmal waren es Offiziere, die ihre Hingabe zur Revolution nur vortäuschten, manchmal waren es einfach die wortgewandtesten Soldaten.
Aber ein entscheidendes Merkmal der Sowjetdemokratie ist, dass die Delegierten nicht für eine bestimmte Periode gewählt wurden, sondern jederzeit und unmittelbar abberufen werden konnten. Und so wurden alle Delegierten einem ständigen Praxistest unterzogen und die Mehrheiten und Machtverhältnisse in den Sowjets veränderten sich oft schlagartig.
Nachdem verantwortungslose Rote Garden im Winter 1917 auf eine konterrevolutionäre Demonstration das Feuer eröffneten und die Bolschewiki für dieses Verbrechen verantwortlich gemacht wurden, verloren sie die Mehrheit im Sowjet. Ihre Delegierten wurden durch menschewistische Delegierte ersetzt, und erst nach mehreren Wochen wurden die menschewistischen Delegierten einer nach dem anderen wieder abberufen und die bolschewistischen wieder zurückgesandt.
Nicht nur Arbeiter
Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen fanden unterschiedliche Methoden, ihre Vertretung zu wählen. Die Arbeiter_innen in den großen Städten fanden bald heraus, dass ihre Sowjets schwer im Griff zu halten waren, wenn sie ihre Delegierten nicht auf einen von fünfhundert beschränkten. Die Soldaten in den Kasernen ernannten einen Delegierten je Regiment, egal wie groß das Regiment war. Die Soldaten im Feld hatten unterschiedlichste Methoden. Die Bauern gründeten ihren eigenen Sowjet.
Je einhundert Bauern aus den Dörfern wählten einen Repräsentanten in den „Wolost“. Aus den Wolosts wurden Delegierte in den „Ujesd“, oder Bezirkssowjet entsandt und von dort Delegierte in den Provinzsowjet oder Oblast. Deren Vertreter_innen versammelten sich mit den Arbeiter_innen- und Soldatensowjets. Auch Dienstboten oder Kutschenfahrer fanden Zugang zum Sowjet, nachdem sie dafür demonstrierten. Sogar Bürgerliche – Ärzte, Rechtsanwälte und Lehrer_innen – waren durch Delegierte im Petrograder Sowjet vertreten. Und im Wiener Arbeiter- und Soldatenrat waren Hausfrauen vertreten, die ihre Delegierten auf Bezirksversammlungen wählten.
Sowjets gab es auch überall am Land, Abstimmung im lokalen Sowjet von Povorovo, 1925 ©Arkady Shaikhet
Wahrhaftige Arbeitermacht
Zwischen Sowjetregierung (Arbeiter an der Macht) und einer linken Regierung sozialistischer Parteien, aktuell durch Syriza in Griechenland, historisch 1970 die Regierung von Allende in Chile, oder 1936 von Caballero in Spanien, besteht ein fundamentaler Unterschied. Die genannten Linksregierungen kamen mit Duldung des Bürgertums an die Macht, die aber nur Regierungsposten abgaben, nicht die tatsächliche Macht, die ihre Basis in der Kontrolle der Wirtschaft und des Staatsapparates hat.
Damit wir von einer Arbeiterregierung sprechen können, müssen die Arbeiter_innen die Kontrolle über die Wirtschaft haben und den bestehenden Staat zerschlagen. Sie müssen darüber entscheiden können, was produziert und wie es verteilt wird und sie müssen die staatliche Gewalt – Polizei, Militär und Justiz – entwaffnen und durch ihre bewaffneten Milizen ersetzen. Schließlich müssen sie demokratische Regierungsorgane bilden und die Verwaltung ihres Staats organisieren. Nur dann sind die einfachen Menschen wirklich „an der Macht“.
Eine einfache Staatsform
Sowjetmacht bedeutet direkte Demokratie durch die Produzent_innen (darunter verstehen Marxisten nicht Unternehmer, sondern Arbeiter_innen und Bauern), die Vorstufe zur Abschaffung aller Klassen, und dem potentiellen Durchbruch zu einer neuen Ära in der Menschheitsgeschichte. Die Etablierung einer Sowjetdemokratie bedeutete nichts weniger, als das in die Praxis umzusetzen, was Marx und Engels im Kommunistischen Manifest angekündigt haben.
Die Verwaltung des Arbeiterstaats sollte von den Massen kontrolliert werden, nicht bloß durch eine neue, aus den Arbeiter_innen rekrutierte Elite. Und dieser neue Staat würde imstande sein, die ehemaligen Eliten, die konterrevolutionären Kräfte, durch einen einfachen Staatsapparat aus bewaffneten Arbeiter_innen in Schach zu halten, während die kapitalistischen Eliten, da sie sich nicht auf die Massen, sondern nur auf eine kleine Elite stützen können, einen hoch komplizierten Apparat aus Polizei, Justiz, Beamtenschaft benötigen um die Massen zu kontrollieren.
Stalins Konterrevolution
In Russland konnte die ungeheure Wucht der konterrevolutionären Attacken gegen den jungen Sowjetstaat ab dem Tag Eins nicht mit dem einfachen Apparat der Sowjets aufgehalten werden. Parallel zu den Sowjets musste eine Rote Armee aufgebaut werden. Es war diese Rote Armee, die die Revolution und den Sowjetstaat verteidigte. Um einen Krieg gegen die konterrevolutionären Truppen in einem Land, das ein Fünftel der Landbevölkerung ausmachte, führen zu können, musste diese Armee hoch zentralisiert und flexibel sein.
Wenn man gleichzeitig Invasionen im Osten Sibiriens und Belagerungen von Großstädten aufhalten musste, blieb wenig Raum für direkte Demokratie. Ein furchtbarer Preis war für den Erfolg im Bürgerkrieg zu bezahlen – die Neutralisierung der Sowjetdemokratie. So einfach ist das letztendliche Scheitern der Sowjetdemokratie zwar nicht erklärt, aber die Konterrevolution war dabei, alle drei Versprechen der Revolution wieder zunichte zu machen – Land, Frieden und Brot. Am Ende gewann zwar die Rote Armee, aber Russland war verwüstet, seine Industrie zerstört, die Wirtschaft am Boden, der wichtigste Teil der Basis der Sowjets, die Industriearbeiterschaft beinahe vollständig ausgerottet.
Auf dieser Grundlage konnten die Bolschewiki nur mehr versuchen, einen Ersatz für die Sowjetdemokratie zu schaffen, aber die Sowjets waren nicht mehr demokratisch. Wo sollten noch die lebendigen Betriebsversammlungen stattfinden, aus welchen die Arbeiter_innen ihre Vertrauensleute wählten? Wo es noch Industrie gab, war die Organisation des Nötigsten das tägliche Brot der Fabrikskomitees.
Die Konterrevolution hatte ihr wichtigstes Ziel, die Vernichtung des aufregendsten Experiments in Sachen echter Demokratie, erfüllt, auch wenn sie den Krieg gegen das revolutionäre Russland verloren hatte. Auf den Ruinen des vernichteten Sowjetstaats führte Stalin eine Konterrevolution durch und errichtete seine Diktatur der Bürokraten. Tony Cliff, ein aus Palästina stammender Marxist, bezeichnete dieses System treffend als bürokratischen Staatskapitalismus.
Zum 100. Jubiläum der russischen Revolution dürfen wir ihr wahres Erbe nicht vergessen. Sie hat uns gezeigt, dass wir einfachen Menschen mit den Mitteln einer Rätedemokratie Kapitalismus und Klassenherrschaft abschütteln und eine wahrhaft solidarische Gesellschaft errichten können.