Uwe Timm: Rot
„Rot wie Blut, Rot wie die Liebe, Rot wie die Revolution“ – passender könnte der Inhalt des Romans nicht umrissen werden.
Der Protagonist – der Mittfünfziger Thomas Linde – ist Beerdigungsredner und erhält den Auftrag, eine Rede für einen Peter Aschenberger zu halten. Bei seinen Recherchen stellt sich heraus, dass es sich dabei um einen alten Studienfreund und ehemaligen Genossen handelt. In Aschenbergers Wohnung türmen sich Bücher von Marx, Marcuse, Gramsci, usw. Außerdem findet Linde ein Päckchen mit Sprengstoff! Aschenberger hatte den Plan, die Berliner Siegessäule zu sprengen, das Symbol der heldenhaften deutschen Soldaten und des noch heldenhafteren Deutschtums selbst. Linde ist sowohl entsetzt als auch beeindruckt.
Im Gegensatz zu ihm selbst hat der ehemalige Freund nicht aufgehört, seine Ideale einer besseren Welt zu verfolgen. Das bringt Linde zum Nachdenken: Warum ist sein Leben auf einmal doch in die bürgerlichen Bahnen gerutscht? Wie konnten seine einstige Empörung über die Missstände der Gesellschaft und sein Tatendrang, etwas zu verändern, umschlagen in Resignation und Melancholie?
Der Mythos der 1968er-Jahre
Bereits am Anfang des Romans wird durch den Unfall des Protagonisten, bei dem er sich selbst von oben auf der Straße liegend betrachtet, ein Bezug zum Bild des erschossenen Benno Ohnesorg hergestellt: „Ich schwebe … jemand hält meinen Kopf, … eine Frau, sie kniet neben mir.“ In zahlreichen Passagen entführt Timm den Leser in die Erinnerungen Lindes, ins Deutschland zur Zeit der 1968er Revolte. Es wird demonstriert und diskutiert, es werden sozialistische Zeitschriften und Flugblätter an Fabrikarbeiter_innen verteilt – und es wird die sexuelle Befreiung gefeiert.
Daneben geht es auch um die Liebesbeziehung zwischen Linde und der 21 Jahre jüngeren Iris. Ihre Rolle ist es aus Sicht der jüngeren Generation Fragen zu stellen – was ist dran an dem „Mythos 68“? Timm versteht es wie kaum ein anderer, die Geschichte des 20. Jahrhunderts in Deutschland anhand von detaillierten und sorgfältig ausgearbeiteten Lebensläufen (be)greifbar zu machen, Gesellschaft, Politik und Einzelschicksale eng miteinander zu verknüpfen. Aufgrund vieler philosophischer Zitate und einiger sozialistischer Exkurse ist es hilfreich, wenn man etwas Vorkenntnis in linken Theorien hat und auch mal zwischen den Zeilen lesen kann.
Der Autor zeigt in dem Roman, dass er selbst einiges an Hintergrundwissen besitzt – kein Wunder, wo er doch selbst in der Bewegung aktiv war! Dennoch zeichnet Timm ein sehr resigniertes Gesellschaftsbild, er sieht das kapitalistische System als Sieger hervortreten. Allerdings ist der Roman 2001 erschienen und heute würde er, angesichts der weltweit voranschreitenden Protestbewegungen, hoffentlich anders urteilen!