Vergewaltigung und Klassengesellschaft

Frauenunterdrückung und Gewalt gegen Frauen sind Merkmale unserer Gesellschaft. Sadie Robinson analysiert die Wurzeln von Sexismus und antwortet auf die Frage „Wieso gibt es Vergewaltigungen?“. Die Welt ist kein guter Ort, um eine Frau zu sein. Erschütternde 70 Prozent der weltweiten Armen sind Frauen. Weiblich zu sein beeinflusst jeden Aspekt im Leben einer Frau – über Arbeit, Wohnen, Gesundheit und Bildung bis hin zu unseren intimsten Beziehungen.
9. Januar 2016 |

Der auffälligste Beweis für Frauenunterdrückung ist der Unterschied im Lohnniveau von Männern und Frauen – in Österreich verdienen Frauen um 25 Prozent weniger. Am widerwärtigsten sind jedoch Vergewaltigungen und andere Gewalt an Frauen – sowie die weit verbreitete Tendenz, die Opfer dafür verantwortlich zu machen.

Die schockierende Brutalität sexueller Gewalt verleitet viele dazu, zu denken, dass Menschen von Natur aus gewalttätig sind. Sie glauben nicht an die Vorstellung einer Welt ohne sexuelle Gewalt und systematische Unterdrückung. Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen ist abstoßend: Es wird geschätzt, dass in Großbritannien jedes Jahr 47.000 Frauen vergewaltigt werden – und nur in 6,5 Prozent der angezeigten Fälle kommt es auch zu einem Urteil. [In Österreich sind es geschätzte 5.000 Vergewaltigungen pro Jahr.]

Sexuelle Gewalt & Entfremdung

Aber die große Mehrheit der Männer vergewaltigen keine Frauen. Die meisten sind auch nicht gewalttätig. Vergewaltigungen geschehen nicht aufgrund „natürlicher“ männlicher Instinkte. Sie geschehen, weil die Klassengesellschaft Sexualität verzerrt und Menschen voneinander und von sich selbst entfremdet. Kapitalismus profitiert von Frauenunterdrückung – sie erfüllt eine ökonomische und ideologische Funktion.Die Umwelt und die Gesellschaft, in der wir leben, wird von Menschen geformt – aber weil wir über sie keine Kontrolle haben, fühlt sich die Welt an wie ein fremdes Gebilde. Vergewaltigung und sexuelle Gewalt gehören zu den extremsten Formen, die diese Entfremdung annehmen kann.

Marxismus und Feminismus: Eine „unglückliche“ Beziehung?

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Das geht zusammen mit einem Bild von Sexualität, das Sex als Ware präsentiert – eine Ware wie jede andere, die verkauft oder eben genommen werden kann. Beinahe ein Drittel der Britinnen und Briten glauben, dass eine Frau zumindest teilweise schuld ist, wenn sie während Trunkenheit vergewaltigt wird. Die dominanten Vorstellungen über Sexualität beschuldigen Frauen, Vergewaltigungen „einzuladen“ und sehen Männer als wenig mehr als Tiere, die keine Kontrolle über sich haben.

Geschürter Sexismus der Eliten

Die Kommentare des britischen Justizministers Kenneth Clarke, in denen er einige Formen der Vergewaltigung, zum Beispiel „date rapes“, als nicht verfolgenswert abzutun schien, kommen also nicht überraschend. Sie haben allerdings einen großen öffentlichen Aufschrei hervorgerufen. Die Eliten – Politiker, Richter, Medieneigentümer,… – fördern sexistische Ideen. Die Inhaber von Zeitungen und Fernsehkanälen füllen Seiten und Sendezeit damit, Frauen als Sexobjekte und nicht als eigenständige Personen darzustellen. Es ist keine Besonderheit, wenn während eines Vergewaltigungsprozess diskutiert wird, was das Opfer angehabt hat, ob sie spät aus war, ob sie getrunken hat und ob sie zuvor schon Sex mit dem Vergewaltiger hatte.

Natürlich bekämpfen viele Frauen und auch Männer sexistische Ideen und setzen sich für Reformen ein, die das Leben von Frauen verbessern würden. Aber aufgrund der Rolle der Frau in der Gesellschaft und der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft Sexualität verzerrt, sind sexistische Ideen weit verbreitet. Der Revolutionär Karl Marx hat bemerkt, dass die herrschenden Ideen in einer Gesellschaft jene der herrschenden Klasse sind. Das heißt nicht, dass sie die einzigen sind – aber sie sind die stärksten. Warum aber fördert die herrschende Klasse diese Sicht auf Frauen? Was hat sie davon?

„Ur-Kommunismus“

Frauenunterdrückung gab es nicht immer. Sie entstand, als sich die Menschheit in Klassengesellschaften zu organisieren begann. Marx und sein Mitstreiter Friedrich Engels identifizierten die Familie in der Klassengesellschaft als den Schlüssel zur Frauenunterdrückung. Engels beschrieb den Aufstieg der Familie als „weltgeschichtliche Niederlage des weiblichen Geschlechts“. Die beiden erkannten, dass menschliches Verhalten und Ideen dadurch geformt werden, wie wir unsere Existenz sichern. Familie entstand gleichzeitig mit Privateigentum und dem Staat. Davor lebten Männer und Frauen in Jäger- und Sammlergesellschaften, wo sie unterschiedliche aber gleichwertige Aufgaben vollbrachten, und gleichberechtigt an Entscheidungsprozessen beteiligt waren. Marx und Engels nannten dieses Stadium „Ur-Kommunismus“.

Mit der Entwicklung von Gesellschaft begann ein Überschuss über das notwendige Minimum hinaus produziert zu werden – ein Überschuss, der aufbewahrt und verwaltet werden konnte. Außerdem wurde durch neue Produktionsmittel erstmals männliche gegenüber weiblicher Arbeitskraft bevorzugt. Als sich eine herrschende Klasse entwickelt hatte, wollten die dominierenden Männer „legitime“ Erben, denen sie den Überschuss übergeben konnten. Die Kontrolle über Frauen und sexuelle Beziehungen war dafür von entscheidender Bedeutung. Die Entwicklung der Familie nahm bereits ihren Ausgang von einer Ideologie, die Frauen als Menschen zweiter Klasse und von Männern kontrolliertes Eigentum betrachtete. Diese Ideen waren für die Legitimierung und Förderung von Gewalt an Frauen verantwortlich.

Erkämpfte Verbesserungen

Das heißt nicht, dass innerhalb von Klassengesellschaften keine Veränderungen stattfinden. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft haben Frauen im letzten Jahrhundert darum gekämpft, ihr Leben zu verändern. Die meisten Frauen arbeiten heute außerhalb des Hauses. Es gibt mehr sexuelle Freiheit als früher. Und die Veränderungen im Leben und in den Einstellungen der Frauen haben auch die Männer beeinflusst. Männer trifft man häufiger in typischen „Frauenberufen“ wie der Krankenpflege an. Männer verbringen auch mehr Zeit mit der Kindererziehung, und Hausarbeit ist vielerorts nicht mehr die alleinige Verantwortung der Frau.

Diese Veränderungen durch Druck und Proteste zeigen, dass es nicht wahr ist, dass Frauen und Männern fixe, unveränderliche Rollenbilder zukommen.So wichtig diese Veränderungen auch sind, Frauenunterdrückung existiert weiter. Die Herrschenden versuchen andauernd, den Fortschritt wieder rückgängig zu machen. Frau und Mutter zu sein wird nach wie vor als entscheidender Punkt im weiblichen Leben gesehen. Frauen wird erklärt, dass sie Versagerinnen wären, wenn sie es nicht schaffen, sich einen Mann zu schnappen. Frauen, die keine Kinder wollen, werden noch immer als irgendwie komisch abgestempelt. Wie jede Art der Unterdrückung wird auch Frauenunterdrückung eingesetzt, um die Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter zu spalten. Frauen und Männer sehen so ineinander die Hauptfeinde, anstatt zu erkennen, dass sie gemeinsame Interessen gegenüber den Reichen haben. Das ist für unsere Herrschenden extrem nützlich – und das wissen sie auch.

Unbezahlte Reproduktionsarbeit

Die Familie nimmt auch eine entscheidende wirtschaftliche Funktion im Kapitalismus ein. Von Frauen wird erwartet, dass sie die derzeitigen Arbeitskräfte „instand halten“ und die zukünftigen heranziehen – oft, während sie selbst Teil der arbeitenden Bevölkerung sind. Frauen ziehen Kinder groß, pflegen kranke und alte Verwandte und erledigen den Haushalt. Weil sie das alles gratis tun, sparen sie dem Kapitalismus ein Vermögen.Das soll nicht bedeuten, dass jedes Heim und jede Beziehung eine Last für die Frau darstellt. Oft schätzen Menschen ihre persönlichen Beziehungen und ihr Zuhause mehr als alles andere, weil sie einen Ort der Ruhe inmitten von Stress darstellen. Das verändert aber die Rolle der Familie im Kapitalismus nicht. Deswegen sind die Leute, die innerhalb der Familie Trost und Zuflucht suchen, oft enttäuscht. Anstatt des erhofften Orts der Ruhe finden sie einen Druckkochtopf vor, in dem aufgestaute Spannungen entladen werden – oft auf Kosten der Frauen.

Dass die Familie so eine Schlüsselrolle spielt, erklärt, wieso die Herrschenden keine Kritik an ihr zulassen und jeden angreifen, der sein Leben anders organisiert. Deshalb gibt es Homophobie, Angst vor alleinerziehenden Eltern und Druck auf Singles, sich einen Partner zu suchen. Das alles formt auch die öffentliche Meinung über Vergewaltigungen. Die meisten Vergewaltigungsopfer kennen den Täter, und Gewalt findet sehr oft innerhalb der Familie statt – das klassische Bild der Vergewaltigung bleibt aber der Fremde, der spätnachts aus den Büschen springt .Sexistische Ideen sind so tief verwurzelt, weil Frauenunterdrückung schon seit Jahrtausenden existiert. Deshalb scheint sie auch so natürlich und unveränderbar. Einige, die mit dieser „natürlichen Ordnung“ argumentieren, haben ein Interesse daran, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten. Sie legen den Fokus auch auf individuelle Gewalttaten, weil das von der systematischen Unterdrückung im kapitalistischen System ablenkt.

Echte Frauenbefreiung von unten

Wir können Frauenunterdrückung beenden – aber wir müssen dafür das System, das sie am Leben hält, loswerden. Unterdrückung betrifft alle Frauen, aber auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Die Frauen innerhalb der herrschenden Klasse profitieren von diesem System – weshalb wir uns nicht auf Bündnisse mit diesen Frauen einlassen können, um Veränderungen zu erkämpfen. Die Mehrheit der Menschen hat ein Interesse daran, Kapitalismus abzuschaffen. Er ruiniert das Leben der Werktätigen. Er benutzt Unterdrückung, um die Arbeiterklasse zu spalten und zu schwächen. Er isoliert uns und verzerrt unsere intimsten Beziehungen.

Menschen verändern sich, während sie eine neue Welt gestalten. Sie werfen alte, überholte Ideen. In jeder Revolution stehen Frauen in den ersten Reihen und übernehmen Führung. Revolutionen sind keine Märchen. Allein dieses Jahr haben wir Revolutionen in Ägypten und Tunesien gesehen, die Diktatoren entmachtet und Arbeiterkontrolle der Gesellschaft in Aussicht gestellt haben. Gemeinsam haben wir die Kraft, das System zu zerstören und wahre Gleichheit und Freiheit für alle zu schaffen.

Überarbeitete Übersetzung des Artikels "What causes rape?“ von Sadie Robinson. Artikel ist zuerst in Socialist Worker erschienen.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.