Zwei Jahre Ukrainekrieg: Eine militärische Bestandsaufnahme

In den westlichen Zentren des Kapitalismus galt Krieg zu Beginn des 21. Jahrhunderts als Auslaufmodell. Krieg bedeutete Bekämpfung von aufständischen „Terroristen“ auf der ganzen Welt (ISIS, AL Quaida) oder die Zerstörung militärisch völlig wehrloser Staaten (Irak, Afghanistan). Der Ukrainekrieg bedeutet das Comeback des klassischen Krieges im 21. Jahrhundert. Nicht kleine Einheiten von Elite-Soldaten, sondern riesige Armeen, Artilleriegefechte anstatt präzise Drohnenschläge, sind die Tools dieses Krieges. Auf diese Form der Kriegsführung war der Westen nicht vorbereitet.
8. April 2024 |

Während Laien zu Beginn des Ukrainekrieges davon überrascht waren, dass es der Ukraine gelang, sich so erfolgreich zu verteidigen, ist man heute in westlichen Militärkreisen eher überrascht, dass Russland stark genug ist, den Krieg durchzuhalten.

CIA Einschätzung

In einem interessanten Essay (Spycraft and Statecraft) zum Stand der CIA, argumentierte der Direktor William Burns, die USA würden einen „Fehler historischen Ausmaßes begehen“, wenn sie sich vom Krieg zurückziehen. „Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Beibehaltung der westlichen Hilfe für die Ukraine. Mit weniger als fünf Prozent des US-Verteidigungsbudgets handelt es sich um eine relativ bescheidene Investition, die sich für die Vereinigten Staaten geopolitisch und für die amerikanische Industrie in erheblichem Maße auszahlt.“

Das Wichtigste am Ukrainekrieg ist in Burns Augen, dass die USA China demonstrieren, dass sie noch immer mächtig genug sind, mehrere Konfliktherde gleichzeitig zu managen. Denn China ist die einzige Kraft mit der „Absicht, die internationale Ordnung umzugestalten, und mit der wirtschaftlichen, diplomatischen, militärischen und technologischen Macht, dies zu tun.“ Zusammengefasst sieht Burns den Ukrainekrieg als kapitalen Fehler Putins, weil er den USA die Möglichkeit eröffnet, Russland in einem selbstgewählten längerfristigen Konflikt ausbluten zu lassen und sich danach auf China zu konzentrieren.

Russlands scheitern

Für die erfolgreiche Verteidigung der Ukraine in den Anfangsjahren lassen sich zwei Gründe anführen. 1. Dank der Unterstützung der Nato war die Ukraine technisch viel besser auf den Krieg vorbereitet: modernste Panzer, funktionierende Geo-Aufklärung, bessere Raketensysteme usw. 2. Die Kampfbereitschaft/Begeisterung der ukrainischen Truppen dürfte im Gefühl, ihr Heimatland vor der russischen Aggression zu verteidigen, deutlich höher gewesen sein.

Nach dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive Ende 2023 und den ersten russischen Erfolgen 2024, hat sich das Blatt jedoch gewendet. Insbesondere die fehlende Lufthoheit, unterschiedliche Auffassungen über den konkreten Angriffsplan zwischen Ukraine und USA (die USA wollte einen fokussierten Vorstoß, die Ukraine drei) und die überraschend riesigen russischen Minenfelder, welche den ukrainischen Angriff immer wieder verlangsamten, führten zum Scheitern der ukrainischen Offensive. Im Westen steht man damit vor der Frage, soll man die Ukraine aufgeben, eigene Truppen schicken, wie es Macron vorschlägt, oder die von der CIA präferierte Option, gerade genug tun, dass Russland nicht gewinnen kann bzw. ein später Sieg möglichst teuer wird.

Russlands Vorteil

Wir sollten nicht den Fehler begehen, und die strategische Weitsicht unserer Herrschenden überschätzen. Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass sie sich im aktuellen Konflikt vor allem in einer Hinsicht verkalkuliert haben: Russland erarbeitet sich aktuell ein praktisches Know-how, wie umfassende Bodenkriege im 21. Jahrhundert zu führen sind. Das fängt bei der Logistik an – im ersten Jahr sind die russischen Streitkräfte daran gescheitert, genug Munition an die Front zu bringen (Ausgangspunkt für Prigoschins Putsch), aktuell geht eher der Ukraine die Munition aus. Die Umstellung der Wirtschaft, das Finden und Ausbilden von Millionen Rekruten, Gegenaufklärung, schlussendlich das Manövrieren von hunderttausenden Soldaten über Schlachtfelder, all diese Skills sind im Westen nur noch theoretisch vorhanden – praktisch werden sie bestenfalls am Computer trainiert.

Die USA können diesen Entwicklungen relativ beruhigt zuschauen. Ihre Stärke beruhte schon immer auf dem „Inselstatus“ der Luftwaffe und der Marine. Europa hat diesen Vorteil nicht, im Falle einer Konfrontation Russland – Nato würde ein gigantischer Bodenkrieg in Europa stattfinden.

Atomwaffen

Zusätzlich verkompliziert wird die Lage durch Atomwaffen. Die Standard-Vorstellung, Kriege zwischen atomaren Staaten können nicht stattfinden, weil es die gegenseitige Auslöschung bedeuten würde, ist zu einfach. Einerseits übersieht sie die potenzielle Irrationalität menschlichen Handelns innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, zweitens übergeht sie die Tatsache, dass jede Menge militärische Rechenmodelle existieren, wie man einen Atomkrieg gewinnen kann, und drittens ignoriert sie die Unterschiede zwischen Atomwaffen.

Mit Frankreich und England verfügt Europa zwar über eine atomare Möglichkeit, unabhängig von den USA, jedoch sind diese Atomwaffen nicht für den Einsatz an der Front, sondern für die Zerstörung von Städten gedacht. Russland verfügt nicht nur über solche Raketen, sondern auch über kleinere Nuklearwaffen mit geringerer Sprengkraft. „Sollte Russland solche nuklearen Gefechtsfeldwaffen einsetzen, könnten die Europäer im Grunde nur mit Nuklearwaffen antworten, mit denen sie auf Moskau schießen. Aber würden sie das tun? Auf dass danach dann Paris verglüht? Wäre die Drohung damit glaubwürdig? Mit Sicherheit nicht. Der Kreml weiß das,“ stellt der Militärexperte Frank Sauer in der Zeitschrift Republik fest.

Lehren für die Linke

Was bedeutet diese abstrakte Analyse für die Linke? Erstens müssen wir uns auf einen ideologischen wie ökonomischen Bedeutungsgewinn des Kriegssektors einstellen. Die völlige Kapitulation eines liberalen Pazifismus ist ein erster Vorgeschmack. Wir können uns auch darauf einstellen, dass die Forderungen nach dem NATO-Beitritt Österreichs zunehmen werden, ziemlich unabhängig davon, wer in der nächsten Regierung sitzt. Genauso werden wir erleben, dass dieselben Regierungen, die bei Klima oder Sozialpolitik immer erklären, es sei kein Geld da, die Militärausgaben erhöhen werden. Gedeckt von Demokratie und Menschenrechtsdiskursen, um die Zivilgesellschaft ruhig zu stellen, werden die herrschenden Europas Kriege wieder als realistische Option behandeln.

Wenn wir diesen Entwicklungen etwas entgegensetzen wollen, braucht es erstens eine klare Analyse der geopolitischen Situation. Zweitens müssen wir die imperialistischen Dynamiken hinter den moralischen Argumenten aufdecken. Drittens muss die radikale Linke wieder stark genug werden, die Herrschenden herauszufordern. Kriege, das massenhafte Abschlachten von Menschen für Staat und Kapital sind weder naturgesetzlich noch in der menschlichen Natur verankert. Viel eher sind sie Produkt einer barbarischen gesellschaftlichen Ordnung. Diese Ordnung müssen wir angreifen und zeigen, dass eine Welt ohne Krieg nur außerhalb der kapitalistischen Konkurrenzkämpfe möglich ist.