Berlin Tegel. Leben im Flüchtlingslager
Seit Anfang Jänner arbeite ich im Ankunftszentrum für Flüchtlinge aus der Ukraine am Berliner Flughafen Tegel. Gleich vorneweg: „Ankunftszentrum“ ist nichts als eine Beschönigung, das Wort „Lager“ nimmt man in Deutschland nicht gerne in den Mund.
Ich war schockiert, als ich das umfunktionierte Flughafengebäude zum ersten Mal betrat. Die Menschen sind nicht etwa innerhalb der festen Mauern untergebracht, sondern in angegliederten riesigen Zelten. Dünne Trennwände teilen den Raum in schlauchartige Zellen auf, in denen jeweils etwa zehn Stockbetten dicht aneinandergereiht stehen. In einem solchen Gang schlafen also 20 Menschen. Es gibt keine Leitern zu den oberen Betten, man muss fit genug sein, sich da hochzuhieven. Deshalb ist die ganze Konstruktion eher niedrig gehalten, sodass sich die Bewohner_innen der unteren Betten nicht einmal gerade hinsetzen können. Raum für Gepäck gibt es kaum, es muss irgendwo unter, auf oder neben den Betten abgestellt werden.
Nachdem die Ankommenden sich der Registrierungsprozedur unterzogen haben, kommen sie weiter zum Check In – praktischerweise ist die noch erhaltene Flughafeninfrastruktur logistisch perfekt dafür. Dort wird ihnen ein Bett zugewiesen, die Nummer des Bettes bekommen sie auf einem Papierstreifen um das Handgelenk gewickelt, dazu einen Zettel, der sie berechtigt, sich am „Hygieneschalter“ die notwendigsten Dinge wie Shampoo, Zahnbürsten etc. zu holen. Zu meinen Aufgaben zählt, die Menschen am Check In abzuholen, ihnen zu zeigen wo die Essensausgabe ist und sie zu ihren Betten zu bringen. Häufig kommt es vor, dass ein älterer, gebrechlicher Mensch ein oberes Bett zugewiesen bekommt. Oder, dass ein Kind ein weit von der Mutter entferntes Bett nehmen soll. Dann gehen wir auf die Suche nach anderen, passenderen Betten, checken im System, ob die auch wirklich frei sind und dann geht es nochmal zurück zum Check In.
Es gibt viel zu wenige sanitäre Anlagen. Außerdem wurde mir von anderen Mitarbeiter_innen erzählt, dass es erst seit wenigen Monaten Waschmaschinen für die Bewohner_innen gibt. Vorher konnten sie ihre Kleidung entweder nicht waschen oder haben ihre Sachen per Hand in den Waschbecken der Toiletten ausgewaschen und dann irgendwo um ihr Bett herum aufgehängt. Beides führte zu einem bestialischen Gestank.
Das enge Zusammenwohnen führt natürlich zu Spannungen, immer wieder kommt es zu Streit. Oft kam schon der Vorwurf, das sei ja wie im Konzentrationslager. Und natürlich will ich diese Situationen nicht vergleichen, aber dennoch musste ich an eine Stelle in einem Buch einer österreichischen KZ-Überlebenden denken, die es als einen Teil der Entmenschlichung beschrieb, dass sie gezwungen war, ständig schmutzige Unterwäsche zu tragen.
Die hygienischen Zustände sind allgemein katastrophal, was zwangsweise auftritt, wenn viele Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Immer wieder huscht eine Maus oder eine Ratte die Betten entlang, auch Bettwanzen wurden schon mehrmals entdeckt. Es gab einen Ausbruch von Krätze, von Windpocken und natürlich immer noch Corona.
Im Moment leben ca. 2.500 Menschen in dem Lager. Es ist darauf ausgelegt, dass die Menschen hier nur wenige Nächte verbringen, aber mittlerweile harren sie hier teilweise schon mehrere Monate aus. Das Umverteilsystem ist undurchsichtig und kompliziert, es geht nur sehr schleppend voran.
Der Lärm in den Zelten ist unbeschreiblich. Ständig läuft eine – natürlich notwendige – Lüftungsanlage. Bei Wind oder Regen klatschen die Zeltwände gegen die Eisengerüste. Menschen, die an den äußeren Wänden schlafen müssen, bekommen stillschweigend eine zweite Decke zugewiesen. Während der heftigen Stürme der letzten Tage verkrochen sich Kinder vor Angst weinend unter Tischen, wir alle hatten Angst, dass das Zelt der Naturgewalt nicht standhält. Man musste sich gegenseitig anschreien, um sich zu verstehen. Viele leiden unter Schlafmangel (eine Frau ist tagelang mehrmals hintereinander vor Erschöpfung bewusstlos zusammengesackt), das Licht ist die Nacht über nur gedimmt, nie ganz aus, einer schnarcht, ein Baby schreit. Außerdem kommt es immer wieder zu rassistischen Auseinandersetzungen, vor allem gegen Roma gerichtet. Für uns Mitarbeiter_innen ist das oft schwierig zu vermitteln, aber ich kann nun mal niemandem ein anderes Bett zuweisen, wenn der Grund ist, dass derjenige nicht neben einer Roma liegen möchte.
Das Flughafengelände kann nur mit extra eingesetzten Shuttlebussen verlassen werden, was aber auch immer ein Risiko ist, denn wenn die Bewohner_innen eine Wohnung zugeteilt bekommen und an diesem Tag nicht anzutreffen sind, verfällt ihr Anspruch. Gerade für Kinder ist die Situation belastend, sie langweilen sich und haben kaum Ausweichmöglichkeit. Seit kurzem gibt es die „Container“, dort sind Lernräume eingerichtet, ein Sportraum, ein Spielraum mit Kicker und Tischtennisplatte. Immerhin. Geplant sind ein Kinoraum, ein Kinderraum, ein Bastelraum. Auch einen Frisör gibt es dort seit einigen Wochen.
Ende Jänner wurden die Bewohner_innen aus dem einzigen Schlafbereich, der in einem Gebäude mit tatsächlichen Mauern lag, umverlegt in neu errichtete Zelte. Das Gebäude soll zur Universität ausgebaut werden (der Flughafen wurde schon vor Ausbruch des Krieges von der Hochschule für Technik gekauft, die sie dann für die Flüchtlingsunterbringung zur Verfügung gestellt hat), mit Swimmingpool und Dachterrasse, wie auf den Ankündigungsplakaten zu sehen ist. Die neuen Zelte sind etwas komfortabler als die alten, die Lüftung ist leiser, die Wände aus Alu anstatt flatternder Planen, es gibt mehr sanitäre Anlagen. In diesen Tagen (Mitte Februar) sollen alle Bewohner_innen in die neuen Zelte verlegt werden.
Wir Mitarbeiter_innen werden angewiesen, von „Gästen“ anstatt von Flüchtlingen zu reden. Aber Gastfreundschaft ist ja bekanntlich nicht das Aushängeschild der Deutschen. Es ist schwierig, keine Frage. Aber ich schäme mich jedes Mal, wenn ich den neu Ankommenden ihr neues „Heim“ zeige und bin jedes Mal froh, wenn ich nach der Schicht nach Hause gehen kann. Es geht um schwer traumatisierte Menschen, die vor einem Krieg fliehen mussten, das geht auch an uns Mitarbeiter_innen nicht spurlos vorbei. Aber es gibt kaum Unterstützung, z.B. im Sinne einer Supervision, im Gegenteil werden alle in befristete Arbeitsverhältnisse gezwungen, im Moment sollten die meisten Verträge Ende März auslaufen. Die zuständigen Träger – Deutsches Rotes Kreuz, Malteser, Johanniter, Arbeiter-Samariter-Bund etc. – warten selber noch auf Genehmigung des LAF (Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten) für die Verlängerung.
Viele meiner Kolleg_innen haben selbst Fluchterfahrung. Ich habe einen jungen Syrer kennengelernt, 25 Jahre alt, er spart das Geld, das er hier verdient, damit er seine Eltern aus Damaskus nach Deutschland holen kann. Er selbst ist 2015 hergekommen, er floh erst in die Türkei, hat dort ein Jahr lang gearbeitet, um sich die eigenen Überfahrt über das Mittelmeer nach Griechenland zu leisten und schaffte es, sich bis hierher durchzukämpfen. Vor ein paar Jahren war ich das, erzählt er mir, ich trug die selben Armbänder, habe gewartet und gewartet. Aber meine Flucht ist erst vorbei, wenn meine Eltern hier sind.
Viele meiner Kolleg_innen sind auch aus ehemaligen Sowjetländern und oh – wie froh sind wir jetzt über die DDRler, die in der Schule russisch gelernt haben. Dieses Lager erscheint mir auf eine gespenstische Art als Teil eines endlosen Kreises der Geschichte. Ich lerne so viele spannende Lebensgeschichten kennen, und bin doch immer froh, dass ich nach Hause gehen kann.
Von Sonja G.