„Die EU führt ein Apartheidsystem gegen Flüchtlinge ein“

Die Regierungen in Europa wollen „Hot Spots“ an den Außengrenzen einrichten und die Grenzen dicht machen. Die Flüchtlinge und die mit ihnen Solidarischen fordern hingegen die Öffnung der Grenzen und den Sturz der „Festung Europa“. Neue Linkswende hat mit dem griechischen Aktivisten Sotiris Kontogiannis von der Bewegung gegen Rassismus und die faschistische Bedrohung (KEERFA) gesprochen.
2. Oktober 2015 |

Neue Linkswende: Griechenland hat Italien mit der Insel Lampedusa als Durchgangsland für Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa machen, abgelöst. 200.000 kamen bis Ende August laut UNHCR 2015 über die gefährliche Seeroute. Wie ist die Situation für die Flüchtlinge jetzt?

Sotiris Kontogiannis: Die Situation ist schrecklich. Der Staat macht zu wenig. Die meisten Flüchtlinge kommen auf die Inseln Lesbos und Kos. Der Weg dorthin mit den Booten über das Meer ist sehr gefährlich. Viele sind ertrunken. Zuletzt gab es wieder ein Unglück, als ein kleines Boot mit Flüchtlingen mit einem großen Schiff kollidiert ist und kenterte.

Auch die Lage auf den Inseln selbst ist schlecht. Es fehlt an allem. Die meisten Flüchtlinge leben auf der Straße und überleben nur, weil die ganz einfachen Insel-Bewohner_innen aktiv geworden sind. Sie bringen Nahrungsmittel, Schlafsäcke und alles, was die Leute brauchen. Sie ersetzen das, was der Staat bereitstellen müsste.

Freiwillige bieten Erstversorgung für Flüchtlinge in Thessaloniki (c)Refugee Solidarity Movement Thessaloniki

Und wie sieht es auf dem Landweg aus?

Griechenland war eines der ersten Länder, das einen Zaun errichtet hat – jetzt macht das auch Ungarn. Vorher kamen die meisten Flüchtlinge über den Fluss Evros an der griechisch-türkischen Grenze. Auf einem kleinen Stück ist der Fluss so seicht, dass man ihn ohne ein Boot zu Fuß überqueren kann. Dort hat man diesen Zaun gebaut und den Weg verbarrikadiert. Jetzt versuchen die meisten Flüchtlinge über die Inseln nach Europa zu gelangen. Deshalb haben wir auch so viele Tote. Eine Gruppe von Syrer_innen in der Türkei hat jetzt gesagt: Das reicht! Sie wollten die Sperre durchbrechen, sind aber 40 Kilometer vor der Grenze von der türkischen Polizei gestoppt.

Als Syriza noch in der Opposition war, hat die Partei den Zaun immer als unerträglich angeprangert. Aber seit sie in der Regierung ist, hat sie nichts dagegen gemacht. Sie tut nicht nur nichts dagegen, sondern hat den Zaun auch noch repariert und die Gelder dafür freigegeben. Wir von der Bewegung gegen Rassismus und die faschistische Bedrohung (KEERFA) fordern, dass man zuallererst einmal diesen Zaun einreißen muss. Der Staat muss jetzt dafür sorgen, dass die Flüchtlinge einen sicheren, nicht gefährlichen Weg nach Europa gehen können.

Du widersprichst also dem marxistischen Philosophen Slavoj Zizek, der zuletzt in einem Artikel Linke, die offene Grenzen fordern, als Heuchler bezeichnete?

Ein schrecklicher Artikel, ja. Wir sagen ganz klar: Öffnet die Grenzen! Für reiche Menschen, die viel Geld haben, gibt es keine Grenzen. Sie gelten nur für die Armen, Flüchtlinge und viele mehr.

In Österreich wird nur wenig über die katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern in Griechenland berichtet, kannst du uns darüber etwas erzählen?

2012 wurden die ersten Lager eröffnet. Die Situation in ­Amygdaleza, einem sehr großen Lager in der Nähe von Athen, ist schrecklich. Bisher sind dort drei Menschen gestorben. Einer von ihnen war krank. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, kam kurz danach wieder zurück und starb zwei Tage später.

Die Flüchtlinge müssen dort auf engstem Raum zu viert in einem kleinen Zimmer leben. KEERFA bezeichnet diese Lager als „Konzentrationslager“. Die Zustände dort sind fast genauso schlecht. Die Menschen wurden dort bis zu 18 Monate eingesperrt. Zuerst hieß es, man würde sie abschieben. Aber das ging nicht so einfach, also waren sie de facto die ganzen 18 Monate inhaftiert. Jetzt werden sie immer noch für sechs Monate hinter Gitter gesperrt, dann werden sie freigelassen. Aber nichts hat sich wirklich verändert.

Es gibt weitere Konzentrationslager, darunter mehrere in Evros an der türkischen Grenze. Neu ist auch ein großes Lager im Athener Stadtviertel Eleonas. Man sagt dazu jetzt nicht mehr „Lager“, sondern verwendet freundlichere Begriffe wie „Aufnahmeunterkünfte“. Es sind mehr oder weniger offene Zentren, wo die Flüchtlinge hinkommen können, aufgenommen werden und eine paar Tage bleiben können.

Die Europäische Union verteilt jetzt die „Last“ von 120.000 Flüchtlingen auf ihre Mitgliedsstaaten, zieht die Außengrenzen hoch und errichtet „Hot Spots“ (Registrierzentren) an der blauen Grenze. Ist damit das „Flüchtlingsproblem“ gelöst?

In keinster Weise. Erstens sind die 120.000 nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn wir bedenken, dass Millionen Menschen vor dem Krieg in Syrien und dem „Krieg gegen den Terror“ in Afghanistan und in anderen Ländern vertrieben werden. Wir haben es immer gesagt: Der Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen die armen und einfachen Menschen. Sie müssen jetzt flüchten.

Der Krieg gegen den Terror ist ein Krieg gegen die armen und einfachen Menschen. Sie müssen jetzt flüchten.

Zweitens sollen die „Hot Spots“ dazu dienen, die Flüchtlinge zu verteilen. Sie wollen so ein Lager auch in Griechenland bauen. Die Menschen dürfen dann nicht mehr dorthin gehen, wo sie wollen und sich frei bewegen. Für sie gilt die Reise- und Niederlassungsfreiheit nicht mehr. Das schafft Menschen zweiter Klasse. Die EU löst damit nicht nur das Flüchtlingsproblem nicht, mehr noch, sie führt damit eine Art Apartheidsystem gegen Flüchtlinge ein.

Griechenland wirkt sehr stark polarisiert. Einerseits haben so viele Menschen freiwillig Flüchtlingen geholfen, andererseits hat auch die Goldene Morgenröte bei den Wahlen am 20. September wieder sieben Prozent bekommen. Wie sieht eure Arbeit von KEERFA derzeit aus?

Kurz nach den Wahlen, am 25. September, haben wir eine große Demonstration anlässlich des zweiten Jahrestags der Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssas organisiert. Viele Migrant_innen, Studierende und auch Griech_innen waren mit dabei. Solche Proteste sind ein wichtiger Bestandteil unseres Kampfes gegen die Goldene Morgenröte (GM). Außerdem geht der Gerichtsprozess gegen führende GM-Mitglieder weiter. In dieser Woche wird der Vater von Pavlos Fyssas vor Gericht aussagen. Die GM konnte über ein bürokratisches Hickhack seine Aussage, die mit Spannung erwartet wird, erfolgreich auf nach den Wahlen verschieben.

Die GM ist bei den Wahlen nicht stärker geworden, sie hat im Gegenteil seit 2012 sogar 61.000 Wählerstimmen verloren (von 441.000 auf 380.000 gefallen). Sie musste vor allem in den Großstädten Einbußen hinnehmen. In Athen ist sie von 25.500 auf 17.000 Stimmen gefallen. Zulegen konnte sie nur in kleineren Dörfern, wo die Rechte schon immer stark war.

Die Goldene Morgenröte konnte auf dem Rassismus der Behörden, die oft gesagt haben, dass die Flüchtlinge ein Problem wären, aufbauen.

Und sie hat auch teilweise mehr Stimmen in einzelnen Orten auf Lesbos und Kos gesammelt – nicht weil es dort zu viele Flüchtlinge geben würde, sondern weil der Staat dort so rassistisch ist. Die GM konnte auf dem Rassismus der Behörden, die oft gesagt haben, dass die Flüchtlinge ein Problem wären, aufbauen.

Da passiert gerade etwas sehr Außergewöhnliches. Die Mehrheit der gewöhnlichen Leute ist jetzt selber arm. Es ist sehr schwierig für sie und trotzdem gibt es eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft. Nicht nur auf den Inseln, sondern auch in Athen. Leute kaufen Nahrungsmittel, kochen und nehmen Flüchtlinge bei sich zuhause auf.

Die FPÖ behauptet in Österreich, „Wirtschaftsflüchtlinge“ würden einheimischen Österreichern die Arbeitsplätze wegnehmen. Wie argumentiert die Rechte in Griechenland?

Griechenland: „Das Wichtigste ist die Arbeiterkontrolle“

Griechenland: „Das Wichtigste ist die Arbeiterkontrolle“

In Griechenland ist das ein schlechter Scherz. Wir haben eine Arbeitslosigkeit von 25 Prozent und jeder weiß, dass daran nicht die Flüchtlinge schuld sind, sondern die Krise, die EU, die Regierung und die Banken. Die Menschen haben ihre Arbeitsplätze verloren, weil die Firmen in der Krise einfach bankrott gegangen sind. Die GM und auch die konservative Regierung vor Syriza haben argumentiert: Wir haben 500.000 Arbeitslose und 500.000 Zuwanderer. Heute sagt das niemand mehr. Griechenland ist der Beweis dafür, dass diese Argumentation ein Schwachsinn ist.

Zur Person: Sotiris Kontogiannis ist führendes Mitglied der „Sozialistischen Arbeiterpartei Griechenlands“ (SEK) und Aktivist in der „Bewegung gegen Rassismus und die faschistische Bedrohung“ (KEERFA).
Veranstaltungstipp: Sotiris Kontogiannis spricht am Freitag, 9. Oktober um 19 Uhr im Rahmen der Diskussionsveranstaltung „Rebellion gegen die Festung Europa“ im Wiener Amerlinghaus (Stiftgasse 8, 1070 Wien).
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.