Brexit: Die Krise der Eliten ist ein Grund zum Feiern!
Alte Ordnungen sind niemals geordnet untergegangen, sondern immer in einem unübersichtlichen Chaos. Die Schockwellen, die das britische Votum für den Austritt aus der Europäischen Union (EU) am 23. Juni ausgesandt hat, haben das politische Establishment in einem sensationellen Ausmaß erschüttert.
So schwer, dass sich die freiheitlichen EU-Skeptiker um Heinz-Christian Strache nicht mehr als „Europafeinde“ sehen wollten. So kolossal, dass niemand geringerer als der „linke Rebell“ Alexis Tsipras den britischen Premier David Cameron für die Destabilisierung Europas kritisierte. Cameron hatte das Referendum ausgerufen, um die innerparteilichen Wogen zu glätten und den rechten Flügel um Boris Johnson zu beschwichtigen, und hat stattdessen eine multiple Krise des Systems ausgelöst.
Schlag gegen EU
Die EU ist in ihrer schwersten Krise seit Beginn des Prozesses der „Europäischen Integration“ der größten Wirtschaften Europas in den 1950er-Jahren. Sie hat nun ihre zweitgrößte Wirtschaftsmacht, ihre größte Militärmacht und das weltweit größte Finanzzentrum für den Handel von Devisen, außerbörslichen Derivaten und Auslandsanleihen – die „City of London“ – verloren.
In der EU, diesem Zweckbündnis verfeindeter kapitalistischer Brüder, haben sich die zwischenstaatlichen Konflikte schon lange vor dem Brexit intensiviert: in der Eurozonen-Krise zwischen Nord und Süd, speziell zwischen Deutschland und den sogenannten PIGS-Staaten Portugal, Irland, Griechenland und Spanien, und in der Flüchtlingskrise zwischen Berlin und den ost- und südeuropäischen Staaten.
Nach dem Brexit jagte eine Krisensitzung die andere. Wie es weitergehen soll, darüber herrscht Uneinigkeit. Während EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die Chance sieht, die EU mehr zu zentralisieren, wird es dagegen besonders von den osteuropäischen Staaten Widerstand geben. Die Union der Banken und Konzerne wird sich weiter desintegrieren.
Weltsystem erschüttert
Aber mehr als das. Die USA haben die „Europäische Integration“ stets befürwortet, weil sie einen stabilen und wohlhabenden Juniorpartner unter Kontrolle der NATO benötigten, um ihre Dominanz über Europa, immerhin einen ganz wesentlichen Teil des entwickelten Kapitalismus, zu sichern. Eine ganz wichtige Allianz ist jetzt zerbrochen.
Die USA nutzten bislang die enge Bindung Großbritanniens an Washington aus, um die Europäische Integration in ihrem Interesse zu beeinflussen. Die Briten nehmen im Militärbündnis NATO eine Schlüsselrolle ein, die Geheimdienste kooperieren eng und die City of London ist innig mit dem New Yorker Finanzzentrum verbunden. Je mehr sich Großbritannien bei den EU-Gipfeln einbrachte, desto mehr Druckmittel hatten die Vereinigten Staaten, die auch stets befürchteten, dass die EU zu einem ernstzunehmenden Rivalen werden könnte.
Niederlage für britisches Kapital
Neben US-Präsident Barack Obama und allen wichtigen Regierungschefs haben sich praktisch auch alle großen Konzernbosse, Banken und Finanzinstitutionen für einen Verbleib („Remain“) stark gemacht und eine schallende Ohrfeige kassiert. Großbritanniens zwiespältige Haltung zu Europa hat dem britischen Kapital (dominiert von internationalen Firmen) bislang gute Dienste erwiesen. Man konnte am europäischen Binnenmarkt teilhaben, und obwohl man nicht Teil der von Deutschland dominierten Eurozone war, konnte die City of London den europäischen Handel beherrschen.
Als der österreichische Kanzler Christian Kern meinte, für die Briten dürfe es nun bei den Austrittsverhandlungen kein „Rosinenpicken“ geben, drückte er damit die Hoffnung der Frankfurter und Pariser Banker aus, der City of London endlich die Kontrolle zu entreißen. Das ist natürlich Schwachsinn, Großbritannien wird auch weiterhin den Handel bestimmen. Aber nichtsdestotrotz hat der Brexit eine gewaltige Wirkung auf die City. Für Investmentbanken in London wird es schwieriger, den europäischen Markt zu erreichen.
Tumulte bei den Tories
Das Referendum war ein schwerer Schlag für die britische herrschende Klasse. Die Trauerstimmung fasste ein hoher britischer Beamter in Brüssel zusammen, der das Chaos mit der Suezkrise von 1956 verglich (der verlorene Krieg gegen Nassers Ägypten besiegelte das Ende des britischen Imperiums). Aber gespalten waren die Herrschenden in der Brexit-Frage nie (sie standen bis auf wenige Hedgefonds geschlossen hinter dem „Remain“-Lager). Dafür aber hat der scheidende Premier Cameron in ihrer politischen Vertretung, den konservativen „Tories“, einen Scherbenhaufen hinterlassen.
Im Rennen um Camerons Nachfolge schieden sogleich seine Gegenspieler im Referendum, Boris Johnsons und Michael Gove, aus. Die ideologisch völlig irren Geister, die Cameron heraufbeschworen hat, machen eine Versöhnung der Parteiflügel äußerst schwierig – und in dieser Situation muss seine Nachfolgerin Theresa May nun den Austritt verhandeln.
Überhaupt glich das britische politische Establishment nach dem Brexit einem Shakespeare-Stück, in dem alle bis zum letzten Mann niedergemetzelt werden: der Chef der rassistischen UKIP, Nigel Farage, musste seinen Posten räumen, und die Labour-Abgeordneten versuchen die Situation zu nutzen, den aufrechten Sozialisten und Parteichef Jeremy Corbyn zu stürzen.
Gespaltene Arbeiterbewegung
Brexit hätte ohne die Unterstützung von vor allem ärmeren Hilfsarbeiter_innen niemals gewonnen. Die Labour-Parlamentsfraktion beschuldigte ihren Parteichef Corbyn, nicht genug für ein „Remain“ geworben zu haben (dieselben Blair-Anhänger, die Großbritannien in den entsetzlichen Irakkrieg geführt und das Land mit Austeritätsmaßnahmen zerstört haben). Corbyns Fehler war ein anderer – nämlich, dass er jenen Niedrigverdienern, die aus der EU wollten, keine progressive Führung angeboten hat. Es grenzt daher fast schon an ein Wunder, dass nicht mehr als ein Drittel der Austrittsbefürworter rassistische Beweggründe bei der Wahl angegeben haben.
Und die Frage des Rassismus steht jetzt nach dem Brexit in den Austrittsverhandlungen noch mehr im Zentrum der Debatte. Die Tories beraten, zu welchen Konzessionen sie im Gegenzug für den Zugang zum europäischen Binnenmarkt bereit sind. Die EU wird sagen, Großbritannien müsse die Arbeitnehmerfreizügigkeit wahren, und die Tories werden dagegenhalten. Führende Gewerkschafter hatten schon vor der Abstimmung angekündigt, selbst bei einem Gewinn von „Remain“ müsse man den Zugang zum heimischen Arbeitsmarkt einschränken. Corbyn hat diesen Stimmen bislang widerstehen können.
Radikale Linke vereinigen
Die radikale Linke, jetzt vor diese riesigen Chancen und Herausforderungen gestellt, war so gespalten wie schon lange nicht mehr. Sie hatte sich das Referendum nicht gewünscht, aber einmal damit konfrontiert, musste man aussprechen, was die EU ist – eine neoliberale, imperialistische Festung – und für einen linken Austritt (Lexit) argumentieren, wie es die Socialist Workers Party (SWP, Schwesternorganisation der Neuen Linkswende) getan hat.
Lexit gelang es zumindest im kleinen Rahmen, eine internationalistische, antirassistische und gegen Austerität gerichtete Perspektive anzubieten. Aber auch die Motive der linken EU-Befürworter_innen waren verständlich. Die Schwierigkeit liegt jetzt darin, die tief gespaltenen Lager nach einer teilweise erbarmungslos geführten Debatte zwischen Brexit und Remain in einen vereinten Kampf gegen die brutale Sparpolitik, gegen Krieg und gegen Rassismus zusammenzubringen und die Schwäche der herrschenden Klasse auszunutzen.