Brexit: „Nicht alle EU-Gegner als ignorante Rassisten abtun“
Etwa 52 Prozent der Wähler_innen haben für einen Austritt aus der EU gestimmt, bei einer hohen Wahlbeteiligung von 72 Prozent. Sie trotzten drei Viertel aller Abgeordneten, der Führung der drei größten Parlamentsparteien – der herrschenden Tories (Konservative), der Labour-Partei und der Schottischen Nationalpartei (SNP) –, dem Großteil der britischen Unternehmerschaft und fast jeder kapitalistischen Institution von Rang, angefangen mit der Bank of England bis hin zum Weltwährungsfonds.
Premierminister David Cameron, der das Referendum selbstbewusst zur Befriedung des innerparteilichen Streits um Europa in die Wege geleitet hatte, kündigte seinen Rücktritt für diesen Herbst an. Er hinterlässt eine geschwächte und gespaltene Partei. Das Pfund sackte auf seinen tiefsten Wert seit drei Jahrzehnten und Märkte weltweit gerieten in Turbulenzen.
Größte Niederlage in EU-Geschichte
Die EU, bislang ein defekter Juniorpartner des US-Imperialismus zur Kontrolle des Weltsystems, hat nun ihren zweitgrößten Mitgliedsstaat verloren. Dieses Ereignis wiegt in mancherlei Hinsicht schwerer als der seit einigen Jahren drohende Austritt Griechenlands.
Nun wird ein zweites Referendum über die Unabhängigkeit Schottlands gefordert, das sich mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat. Sollte dieses stattfinden, würde das sehr wahrscheinlich das Auseinanderbrechen des britischen Staats bedeuten.
Eine neoliberale Organisation, die stets im Interesse des europäischen Kapitals agiert, das griechische Volk mit Austerität zermürbt, François Hollandes Anschlag auf die französischen Arbeiter_innen nach Kräften unterstützt und die breite Opposition gegen das Freihandelsabkommen TTIP mit den USA mit Füßen tritt, hat nun die größte Niederlage ihrer Geschichte erlebt.
Nationalismus und Rassismus
Teile der britischen Linken sind jedoch niedergeschlagen. Sie sehen im Referendum den Ausdruck von Nationalismus und Rassismus gegen Zuwanderung aus der EU. Das Referendum auf Rassismus zu reduzieren, greift allerdings zu kurz. Die Abstimmung war in aller erster Linie eine Rebellion der Werktätigen, die ihr Leben von der herrschenden Elite zugrunde gerichtet sahen.
Zwei Drittel all jener, die der Kategorie Fach-, gelernte und ungelernte Arbeiter zugerechnet werden, stimmten für den Austritt, verglichen mit 43 Prozent der Menschen im „mittleren“ oder „höheren“ Management, der Fachleiter und der Führungskräfte. Ein Drittel aller Asiat_innen und ein Viertel aller Schwarzen, die sich am Referendum beteiligten, stimmten für den Austritt. Ethnisch gemischte Städte im Norden Englands stimmten für den Austritt, darunter Sheffield, Birmingham und Bradford.
Warum sollten diese Menschen, unter ihnen viele traditionell Labour-Anhänger, ihre Stimme für den Erhalt einer undemokratischen und neoliberalen Institution geben, die sie wachsender Ungleichheit und Austerität schutzlos ausgeliefert hat?
Rassismus nicht kleinreden
Damit soll der Rassismus, der die Kampagne um das Referendum begleitete, keinesfalls kleingeredet werden. Das betraf ganz offenkundig die Seite der Austrittsbefürworter, auf der die Argumente der rassistischen UKIP sowie konservativer Politiker_innen eine große Rolle spielten. Aber die Austrittskampagne hat Rassismus nicht erfunden.
Die Abstimmung fand im Gefolge eines Sperrfeuers von Ausländerfeindlichkeit und Sündenbockpolitik statt – die seit Jahrzehnten von Medien und Politiker_innen vorangetrieben werden, um die Wut über Austerität und Privatisierungen abzulenken oder Kriege im Ausland zu rechtfertigen. Im Lager der EU-Befürworter wurden die gleichen Töne angestimmt.
Die Lösung liegt nicht darin, die Austritts-Befürworter allesamt als ignorante Rassisten abzutun.
Es war Cameron, der die islamfeindliche Kampagne gegen den neuen Londoner Bürgermeister Sadiq Khan (Labour) zu Beginn des Jahres losgetreten hatte und in Verbindung mit dem „Islamischen Staat“ (IS) bringen wollte. Und es war seine Regierung, die die drakonischsten Einwanderungsgesetze seit Generationen durch das Parlament peitschte.
Es überrascht deshalb nicht, wenn sich die breitere Unzufriedenheit der Arbeiterklasse einen rassistischen Ausdruck findet. Während wir unter keinen Umständen dem Argument, dass Zuwanderung das Problem sei, nachgeben dürfen, so liegt die Lösung auch nicht darin, die Austritts-Befürworter allesamt als ignorante Rassisten abzutun.
Der Brexit und die Linke
Wenn wir eine radikale Linke aufbauen wollen, die den Namen verdient, müssen wir Kämpfe gegen Rassismus mit den Kämpfen gegen die allgemeinen Angriffe auf die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse verbinden. Wir müssen aufzeigen, dass es die herrschende Elite und die Bosse sind, die Schuld an der Misere sind, und nicht die Einwanderer. Das wird uns aber nicht gelingen, wenn wir uns aus Angst vor der rassistischen Rechten auf die Seite der Mainstream-Politiker_innen und Institutionen des neoliberalen Kapitalismus wie die EU schlagen, die in der Praxis keinen Schutz vor wachsender Ungerechtigkeit oder Rassismus bieten.
Der Niedergang der etablierten Politik ist kein Sondermerkmal Großbritanniens. In Griechenland befindet sich das traditionelle Parteiensystem schon seit langem in Auflösung. In Irland haben die drei größten Parteien seit 2007 rund 25 Prozent Stimmanteil verloren. Wir sollten unsere Kritik an Institutionen wie die EU nicht der UKIP, dem französischen Front National oder der AfD überlassen. Der Brexit sollte Anlass für eine europaweite Erneuerung des Arguments für eine Zerschlagung der EU sein.
Eine vereinte Linke kann gewinnen
Jetzt ist der richtige Augenblick für Sozialist_innen, einschließlich Linker, die aus progressiven Motiven für einen Verbleib in der EU stimmten, sich um die Forderung nach Neuwahlen zusammenzuschließen und gemeinsam den Kampf gegen Austerität und Rassismus mit erneuten Kräften aufzunehmen.
Der Prozess der Entflechtung Großbritanniens von der EU wird langwierig und komplex sein und wird von einer kapitalistischen Klasse und Politikern beaufsichtigt werden, die durch ihre Niederlage im Referendum geschwächt sind. Es wird sich der Linken Gelegenheiten bieten, die Ereignisse zu beeinflussen, wenn wir zusammenkommen und sie wahrnehmen.
Der Artikel ist zuerst in ungekürzter Form in Socialist Review erschienen. Redaktionelle Bearbeitung von David Albrich. Aus dem Englischen von Dave Paenson.