Die internationale sozialistische Tradition
Für Marx, Engels, Lenin, Luxemburg und Gramsci war der Marxismus immer eine Theorie der Praxis. Er ist eine Handlungsanleitung zur Selbstbefreiung und geht davon aus, dass die Menschen durch bewusste Aktion ihre eigene Geschichte schreiben können. Die Neue Linkswende steht stolz in dieser Tradition des „Sozialismus von unten“.
Internationalismus
Der Kampf um Befreiung muss international ausgefochten werden. Diese Erkenntnis von Karl Marx und Friedrich Engels bestätigte sich in den Revolutionen von 1848. Die „Wiener Oktoberrevolution“ war der Höhepunkt der bürgerlichen Revolution in Österreich: Am 6. Oktober 1848 sollten von Wien aus kaiserliche österreichische Truppen nach Ungarn ziehen, um dort einen Aufstand niederzuschlagen. Die Wiener Arbeiter_innen und Studenten solidarisierten sich mit den Ungar_innen und wollten gemeinsam mit meuternden Truppen den Abmarsch verhindern. Es kam zu Straßenkämpfen bei welchen Kriegsminister Graf Theodor von Latour von den Demonstrant_innen gelyncht wurde.
Die Erfahrungen mit Rassismus als dem wichtigen Spaltungsmechanismus der herrschenden Klasse bestätigten, dass Sozialismus nur international umsetzbar ist. Mit der Entwicklung des Kapitalismus wuchs außerdem die gegenseitige globale Abhängigkeit. Nationale Unabhängigkeitsbewegungen begehrten gegen ihre Kolonialherren auf. Lenin forderte, dass Sozialist_innen auf der ganzen Welt die Unterdrückten unterstützen müssten. Der Kampf gegen imperialistische Unterdrückung kann dabei, argumentierte sein Weggefährte Leo Trotzki in der „Theorie der permanenten Revolution“, unter Führung der Arbeiter_innenklasse in eine sozialistische Revolution hinüberwachsen.
Arbeiter_innenklasse
Marx und Engels erkannten, dass nur die Arbeiter_innenklasse das revolutionäre Subjekt für Veränderung sein kann, nicht etwa die Bauern und Bäuerinnen, die zu jener Zeit die Bevölkerungsmehrheit bildeten und auf eine stolze revolutionäre Tradition zurückblickten. Die Bauern sind aufgrund ihrer Vereinzelung keine kohärente Kraft. Anfangs auf der Seite der Arbeiter_innen, wechselten sie 1848 ins konterrevolutionäre Lager, als sich das Kräfteverhältnis gegen die Lohnabhängigen verschob.
Nur die Werktätigen besitzen die Macht, das System zu stürzen, weil das System selbst sie zwingt, kollektiv gegen ihre Bosse vorzugehen. Die Arbeiter_innen sind es, die den Reichtum produzieren und die mit Streiks die grundlegende Dynamik des kapitalistischen Systems, die Produktion und damit den Fluss der Profite, zum Stillstand bringen können. Entscheidend ist also die Eigenaktivität, wie es in der zweiten Strophe der „Internationalen“ so schön heißt: „Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen können wir nur selber tun!“
Staat zerschlagen
In der „Pariser Kommune“ übernahmen Arbeiter_innen 1871 erstmals für 72 Tage die Kontrolle über eine Stadt und verjagten die Regierung. Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstands folgerten Marx und Engels, dass die Arbeiter_innenklasse „nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen“ kann. Revolutionen, die nur halb gemacht werden, werden in Blut ertränkt. So rächte sich die Konterrevolution nach der Russischen Revolution 1905, in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg oder jüngst in Ägypten. Der bestehende Staat mit seinen undemokratischen Strukturen in den Ministerien, Polizei, Armee und Geheimdiensten kann nicht einfach übernommen werden, sondern muss zerschlagen werden.
Die Werktätigen müssen ihn mit einem neuen Staat, mit bewaffneten Arbeiter_innen und jederzeit abwählbaren Politiker_innen, die nur einen durchschnittlichen Arbeiterlohn erhalten, ersetzen. Dieser Arbeiterstaat kann nicht „von oben“ geschaffen werden, sondern kann nur das Ergebnis des Kampfes mit den bestehenden Institutionen sein. Marx und Engels waren der Meinung, dass die werktätige Klasse „nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen“.
Bolschewiki
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs warf eine sozialdemokratische Partei nach der anderen ihre grundlegenden Prinzipien über Bord und unterstützte die eigene herrschende Klasse in einem barbarischen Krieg. Die Bolschewiki um Lenin und der revolutionäre Flügel in der deutschen SPD um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht bewahrten die Prinzipien des authentischen Marxismus.
Die Bolschewiki verhalfen dem russischen Proletariat in der Oktoberrevolution 1917 zum bisher größten demokratischen Gehversuch der Menschheitsgeschichte, als Arbeiter_innen, Bauern und Bäuerinnen in selbstverwalteten Räteversammlungen („Sowjets“) zum ersten Mal ihre eigenen Geschicke bestimmten und den alten Staat bezwangen. Sie wussten, dass die Revolution nur international überlebensfähig sein würde und taten was sie konnten, um die Revolution in Europa voranzubringen. Zu diesem Zweck wurde 1919 die Kommunistische Internationale gegründet.
Verratene Revolution
Der folgende Bürgerkrieg in Russland und die Invasion von 14 imperialistischen Armeen, die die Generäle in der Konterrevolution unterstützten, stellten den jungen Sowjetstaat auf eine harte Probe. Der Bürgerkrieg wurde unter furchtbaren Entbehrungen gewonnen, doch die Revolutionen in Europa, vor allem in Deutschland, waren nicht siegreich. Die Klasse, die die Revolution 1917 gemacht hatte, war völlig zerrüttet, die Räte, die Sowjets gingen mehr und mehr in die Hand einer konterrevolutionären Bürokratie über, die sich im Namen des „Sozialismus“ mit Stalin an ihrer Spitze als neue herrschende Klasse in einem staatskapitalistischen System etablierte.
Stalin kehrte der internationalen Revolution den Rücken zu, vertrat die These vom „Sozialismus in einem Land“ und begann die brutale Zwangsindustrialisierung Russlands. Er verriet den englischen Generalstreik 1926, die chinesische Revolution 1925-27 und die revolutionären Gelegenheiten in Frankreich 1936 und im Spanischen Bürgerkrieg. In Folge der Moskauer Prozesse ließ Stalin die Führer der Oktoberrevolution hinrichten und schickte Millionen weiterer Menschen in Gulags. Der Pakt mit Hitler 1939 setzte der Perversion der marxistischen Tradition die Krone auf. Dieser Verrat hat gezeigt, dass es keinen getrennten „österreichischen“, „griechischen“ oder „ägyptischen“ Weg zum Sozialismus gibt.
Trotzkis Verteidigung
Leo Trotzki, der Organisator der Oktoberrevolution, bewahrte in den 1920er-Jahren zuerst als Teil der „Linken Opposition“ und später in den 1930er-Jahren im Exil unter schwierigsten Umständen die Prinzipien des internationalen Sozialismus, ehe er 1940 von einem Agenten Stalins ermordet wurde.
Trotzki schrieb die Geschichte der Russischen Revolution, die jede marxistische Geschichtsdarstellung bei Weitem überragt. Er widmete sich der Bedrohung durch den aufsteigenden Faschismus und rief die deutschen Arbeiter_innen unermüdlich zum gemeinsamen Kampf auf. Die „Einheitsfronttaktik“, welche die Zusammenarbeit der Führungen von KPD und SPD verlangte, hätte Hitlers Aufstieg zur Macht verhindern können.
Revolutionäre Partei
Im Exil von der Arbeiter_innenbewegung abgeschnitten, warf Trotzki all seine Autorität in den Aufbau von neuen revolutionären Parteien und gründete 1938 in Paris die Vierte Internationale. Bereits in den Lehren des Oktober schrieb er nach der Niederlage der deutschen Revolution: „Wenn es bei Kriegsende keine siegreiche Revolution gegeben hat, so lag das daran, dass keine Partei vorhanden war … Ohne die Partei, unter Umgehung der Partei, durch [einen Ersatz] der Partei kann die proletarische Revolution nie siegen.“
„Revolutionäre Sozialist_innen müssen rechtzeitig unabhängige revolutionäre Organisationen aufbauen.“
Revolutionen sind der gewaltsame Einbruch der Massen auf die Bühne der Geschichte. Revolutionäre Sozialist_innen müssen rechtzeitig unabhängige revolutionäre Organisationen aufbauen, wenn sie die Revolution zum Sieg führen wollen. Das Fehlen revolutionärer Parteien in Deutschland 1918, in Frankreich 1968, Portugal 1974-75, Polen 1980-81, oder in der jüngeren Geschichte in Bolivien und Ägypten hatten zu Folge, dass diese einmaligen Gelegenheiten ungenutzt vorüber gingen.
Permanente Rüstungswirtschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg trat eine Reihe von Trotzkis Vorhersagen nicht ein. Er war bis zu seiner Ermordung 1940 der Meinung, der Kapitalismus befinde sich in seinem „Todeskampf“ und würde unter den Wirren des Kriegs endgültig zusammenbrechen. Stattdessen erlebten wir nach dem Krieg den längsten Wirtschaftsaufschwung in der Geschichte des Kapitalismus bis Anfang der 1970er-Jahre.
Die „Theorie der permanenten Rüstungswirtschaft“ von Michael Kidron und Tony Cliff konnte erklären, wie die gigantischen Investitionen in Panzer, Waffen und Kampfflugzeuge einen stabilisierenden Effekt auf die Wirtschaft hatten – abgesehen von der Bedrohung der Menschheit durch tausende Atom- und Wasserstoffbomben im Kalten Krieg. Die grundlegende Krisenhaftigkeit des Systems war von Marx eindrucksvoll im „Kapital“ dargestellt worden, die marxistische Ökonomie wurde entscheidend weiterentwickelt.
Staatskapitalismus
Bei nüchterner Betrachtung war klar, dass Russland längst kein Arbeiterstaat mehr war, sondern ein kapitalistischer Staat mit einer bürokratischer Diktatur. Trotzki ging jedoch bis zuletzt davon aus, dass die „bonapartistische Bürokratie“ des „degenerierten Arbeiterstaats“ in Russland im Krieg durch eine politische Revolution hinweggefegt werden würde. Die Sowjetunion brach nicht zusammen, im Gegenteil, Stalin konnte sein Imperium ausdehnen und festigen.
„Keine sowjetischen Panzer und keine Parteisoldaten können anstelle der Werktätigen den Sozialismus erkämpfen.“
Tony Cliff verwarf die Einschätzung Trotzkis von Russland als einen „degeneriertem Arbeiterstaat“ und erklärte in seiner Staatskapitalismus-Theorie, wie die neue herrschende Klasse aus Bürokraten unter dem Druck des Weltkapitalismus die Arbeiter_innen von den Produktionsmitteln trennte. Sie pumpte aus den LohnabhängigenMehrwert für die Reinvestition in die Rüstungs- und Schwerindustrie. Cliff hob hervor, was Marx immer wieder betont hat, dass die „Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk der Arbeiter selbst sein“ kann. Keine sowjetischen Panzer und keine Parteisoldaten können anstelle der Werktätigen den Sozialismus erkämpfen.
„Umgelenkte“ Revolutionen
In manchen unterdrücken Kolonien spielte die Arbeiter_innenklasse in den Befreiungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg keine große Rolle, sondern radikale Intellektuelle, wie Maos Kommunistische Partei in China 1949, Nassers „Freie Offiziere“ in Ägypten 1952 und Fidel Castros Guerillabewegung in Kuba 1959. Sie erkämpften die nationale Unabhängigkeit und krempelten ihre Länder zu Formen des totalitären Staatskapitalismus, nach Vorbild der Sowjetunion, um. Das war möglich, weil in diesen Ländern die Werktätigen schwach oder schlecht organisiert waren und die Supermächte, gelähmt im Kalten Krieg, nicht eingriffen.
Trotzki ging in seiner „Theorie der permanenten Revolution“ allerdings davon aus, dass diese Bewegungen nur unter der Führung der Arbeiter_innenklasse die Unabhängigkeit erlangen könnten. Tony Cliff entwickelte die Theorie weiter. Eine Reihe von permanenten Revolutionen wurden von der Intelligenz „umgelenkt“, daher gab man der neuen Theorie mangels Alternativen den Namen „Theorie der umgelenkten permanenten Revolution“.
Sozialismus von unten
Eine Tradition entwickelt sich, wenn man originelle Theorien zur Lösung konkreter politischer Probleme innerhalb des Rahmens dieser Tradition anwendet. Der authentische Marxismus ist, so der marxistische Theoretiker Georg Lukács, „nicht ein kritikloses Anerkennen der Resultate von Marx’ Forschung, bedeutet nicht einen ‚Glauben‘ an diese oder jene These, nicht die Auslegung eines ‚heiligen‘ Buches“, sondern bezieht sich „ausschließlich auf die Methode.“
Revolutionäre Sozialist_innen greifen auf das unglaublich wertvolle Werk von Marx, Engels, Lenin, Trotzki, Luxemburg und Gramsci zurück. Offenbar bedeutete das nicht, alles auf Punkt und Komma zu wiederholen, sondern die Prinzipien des internationalen Sozialismus in der Realität anzuwenden. Wie Tony Cliff mit Bezug auf Leo Trotzki selbst sagte: „Wenn wir auf den Schultern eines Riesen stehen, können wir weit voraus sehen. Aber wenn wir unsere Augen verschließen, sehen wir gar nichts.“
David Albrich spricht am antikapitalistischen Kongress „Marx is Muss“ über die internationale sozialistische Tradition. Weitere Infos auf: www.marxismuss.at