Film Murer: „Hand in Hand mit alten Nazis“
Im Rahmen des Filmfestivals Diagonale (Graz) wurde Murer. Anatomie eines Prozesses am 13. März als Eröffnungsfilm gezeigt und als bester Spielfilm ausgezeichnet. Nach der Vorlage originaler Dokumente beschreibt die österreichisch-luxemburgische Produktion des Regisseurs und Drehbuchautors Christian Frosch den Fall des Nazi-Kriegsverbrechers Franz Murer, gespielt von Karl Fischer.
Der Schlächter von Vilnius
Franz Murer – ein steirischer Großbauer und Lokalpolitiker – war in den Jahren 1941-1943 Leiter des jüdischen Ghettos in Wilna, bei den Bewohnern nur bekannt als „Der Schlächter von Vilnius“. 1948 wird er in Vilnius zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, jedoch bereits 1955 gemäß dem Staatsvertag an Österreich übergeben, wo er sofort auf freien Fuß kommt.
Erst 1962/63 muss er sich aufgrund der Bemühungen von Simon Wiesenthal in Graz vor Gericht verantworten. Trotz der erdrückenden Beweislage wird Murer freigesprochen. 1974 wurde sein Fall endgültig ad acta gelegt. Er lebte bis an sein Lebensende (1994) in der Steiermark, zuletzt war er Bezirksbauernvertreter der ÖVP.
80.000 Juden und Jüdinnen lebten im Ghetto in Vilnius, während der Zuständigkeit Murers werden alle bis auf 600 ermordet. Hinter diesen Zahlen stehen unfassbare menschliche Tragödien und unvorstellbares Leid. Und hinter diesen Verbrechen, ausgeführt mit sadistischer Freude, steht der Österreicher Franz Murer. Der im Ort angesehene Landwirt und Familienvater.
Skandalöser Freispruch
In minutiöser Genauigkeit beschreibt der Film den Verlauf des Prozesses und versucht aus verschiedenen Blickwinkeln zu erklären, wie es zu diesem skandalösen Freispruch kommen konnte. Hauptschauplatz ist der Gerichtssaal. Durch die Kameraeinstellungen hat man das Gefühl, inmitten der Zuschauer zu sitzen und muss mit ansehen, wie die Hoffnung auf Gerechtigkeit mehr und mehr schwindet.
Die Überlebenden des Ghettos, die widerwärtigste Gräueltaten von Murer berichten, müssen es ertragen, von den Kindern des Verbrechers ausgelacht und vom Verteidiger vorgeführt zu werden. Als Beweis für Murers Unschuld wird immer wieder die Farbe seiner Uniform angeführt, bei der sich nicht alle Zeugen einig sind.
Doch welche Bedeutung hat das, wenn ein Vater schildert, wie er zusehen musste, wie Murer den Sohn vor den eigenen Augen erschießt? Es verwundert nicht, dass dieser Vater den Plan fasst, Murer vor den Augen der eigenen Kinder umzubringen. Aus falschem Vertrauen in die Justiz nimmt er jedoch Abstand von dem Plan.
Justiz und Politik
Wie ein Puzzle aus unterschiedlichen Perspektiven wird die Geschichte nach und nach zusammengesetzt. Vom Gericht wechselt die Darstellung immer wieder ins private Umfeld. Zum Wirtshaus, wo Jüdinnen und Juden ihr Wiedersehen feiern und jiddische Lieder singen. Oder an den Tisch der Dorfbewohner, die sich über den Verlauf der Verhandlung freuen. Immer wieder behaupten Zeugen, die im Prozess zugunsten Murers aussagen, es würde eine „Verwechslung“ vorliegen oder man hätte von den Massenermordungen erst nach dem Krieg erfahren.
Letztlich scheitert eine Verurteilung an der Verschränkung von Justiz und Politik. Zu wichtig sind die Wählerstimmen ehemaliger Nazis, die Zweite Republik wird „Hand in Hand mit alten Nazis“ aufgebaut, wie SPÖ-Justizminister Christian Broda in einer Szene zugibt. Viele Holocaust-Überlebende konnten nicht als Zeugen aussagen, da sie zu spät benachrichtigt wurden oder keine Mittel für die Anreise zur Verfügung gestellt bekamen.
Bewusste Lügen
Dem Regisseur ist es wichtig, nicht einfach die NS-Verbrechen nachzuerzählen, das sei schon „wiederholt“ geschehen. Vielmehr will er auf das bewusste Lügen aufmerksam machen, auf dem der österreichische „Nationalnarrativ“ basiert.
Frosch richtet das Augenmerk besonders auf die vertauschten Rollen: aus Tätern werden Opfer und umgekehrt. Unwillkürlich denkt man an Hannah Arendts Banalität des Bösen, wonach der pflichtbewusste „kleine Mann“ hilflos sei gegenüber dem Gesetz.
Durch akribische Recherchen liefert Frosch ein authentisches Bild der Nachkriegszeit in Österreich. Er beschäftigte sich intensiv mit den originalen Prozessprotokollen und reiste nach Israel, wo er mit den Kindern damaliger Zeug_innen sprach. Außerdem versuchte er vergeblich, Kontakt mit einem Sohn Murers – ein FPÖ-Politiker – aufzunehmen.
Erschreckend aktuell
Das Ende des Prozesses: Man sitzt während der Urteilsverkündung zwischen den Zuschauern. Wie die niedergeschlagen auf ihre Sitze zurückgesunkenen Ghetto-Überlebenden muss man der jubelnden Menge, die lachend den Saal verlässt, zusehen. Die Chance ist vertan, Murer ist frei.
Wahrheit und Gerechtigkeit konnten letztlich nicht über das politische Lügengeflecht jenseits von Moral und Mitgefühl siegen. Sehr emotional auch der Abspann, der untermalt ist mit einem Lied und Fotos aus dem Ghetto. Sowohl die Menschen auf den Bildern als auch Komponist und Texter des Liedes wurden dort ermordet.
Das Thema ist erschreckend aktuell. Nach Aussage des Regisseurs veränderte sich der Film parallel zum Rechtsruck in Österreich, wurde dadurch politischer. Gerade im Gedenkjahr ist der Film ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen und gegen das Relativieren, das heute wie damals eine immense Rolle spielt. Es bleiben eben nur die Geschichten, die man erzählt. Diese Geschichte muss definitiv eine davon sein.
Buchtipp: Rosen für den Mörder. Johannes Sachslehner. Das Sachbuch fasst die Geschichte des NS-Mörders Franz Murer zusammen. Molden Verlag, 288 S., 2017