Lasst die Denkmäler stürzen! Eine neue Geschichtsschreibung ist möglich
Der Sturz der Statue des Sklavenhändlers Edward Colston in Bristol war ein sprichwörtlich weltbewegendes Ereignis. Unmittelbar danach forderten Demonstrant_innen die Entfernung des Denkmals von König Leopold II. von Belgien, des Südstaatengenerals Robert Lee in Virginia und von Christoph Kolumbus in der Stadt Columbus in Ohio, in der sonst jährlich Feierlichkeiten in seinem Namen zelebriert werden.
Trump schwört Rache
Die Proteste haben auf diese Weise ein grelles Licht auf die koloniale Geschichtsschreibung Europas und der USA geworfen. In einem verzweifelten Versuch das Unaufhaltsame zu verhindern, lässt Präsident Trump die Nationalgarde aufmarschieren, und Denkmäler von weiteren Vertretern aus der besonders finsteren Ära der Sklaverei beschützen. Er bezeichnet die Denkmalstürmer als Terroristen und kündigt Vergeltung an für die Demütigung, die die herrschende Klasse der USA durch sie erfahren hat. Die Black Lives Matter-Bewegung hatte den Mord an George Floyd durch Polizisten zum unmittelbaren Anlass. Daraus ist aber eine explizite Herausforderung der Klassenherrschaft geworden und ein Streit darüber, wer unsere Vergangenheit definiert und damit unsere Gegenwart und Zukunft. Unzufriedenheit mit der Darstellung der Geschichte dominiert seither die Öffentlichkeit.
Wissen ist Macht
Denkmäler von Helden der Geschichte sind nicht dazu da, uns unserer Geschichte zu erinnern, sie dienen vielmehr dazu, Geschichte zu verschleiern und zu verfälschen. Es sind Denkmäler einer nationalen Geschichtsschreibung, in der die Eliten sich oder ihre Helden als die Macher von Geschichte feiern. Die Werktätigen bekommen dabei nur eine passive Rolle zugeschrieben, als Masse, die sich den Herrschenden unterworfen und in die historischen Entwicklungen eingefügt hat. Dabei ist Wissen über unsere Geschichte wichtig! Das Studium der Geschichte ist ein revolutionäres Studium. Wenn die Dinge nicht immer so waren, wie sie jetzt sind, dann können sie auch in der Zukunft anders sein. Sie könnten sogar besser sein.
Falsche Geschichte
Geschichte verläuft natürlich ganz anders als sie uns präsentiert wird, sie ist nicht einfach eine Aneinanderreihung von großen Taten wichtiger Männer (viel seltener Frauen). Beispielsweise war die Abschaffung der Leibeigenschaft im Habsburgerreich nicht dem Großmut von Kaiserin Maria Theresia und ihres Sohnes Kaiser Joseph II zu verdanken. Sie war das Ergebnis jahrhundertelanger Kämpfe, von Bauernkriegen, von Bürgerkriegen und Kriegen zwischen Großreichen, der Konkurrenz mit fortschrittlicheren Reichen, wie den Niederlanden und Großbritannien, und vielem mehr. Aber Geschichte wird so geschrieben, dass wir so gut wie nichts über die Rolle, die unsere Vorfahren, die einfachen Menschen, darin gespielt haben, erfahren sollen.
Beispiel Sklaverei
Edward Colston war ein reicher Kaufmann aus Bristol, einer Hafenstadt, die ihren Aufstieg zur britischen Metropole zu einem Großteil dem Handel mit afrikanischen Sklaven für die britischen Kolonien in Übersee zu verdanken hatte. Colston soll über 40 Schiffe besessen haben und für die Versklavung von 84.000 Menschen aus Afrika verantwortlich sein. Ungefähr 19.000 Menschen starben bei der Überfahrt auf seinen Schiffen. Die Ausbeutung von Sklaven auf den Plantagen wurde zeitgleich mit der Ausbeutung von Kindern in England eingeführt, wie Karl Marx im ersten Band des Kapitals beschreibt. Die Geburt von Kapitalismus war eine „von Kopf bis Zeh, aus allen Poren, blut- und schmutztriefende“ Angelegenheit. Schiffe aus England nahmen in Ostafrika gefangene Menschen als Sklaven an Bord, und verschifften sie in die Karibik und Nordamerika. Dort kauften sie vor allem Zucker und Baumwolle ein, um es nach Großbritannien zu bringen, wo unter diesem Anstoß die Industrialisierung vorangetrieben wurde. Schließlich nahmen sie in Großbritannien wieder Waren auf, die sie in Ostafrika gegen Sklaven handelten.
Dieser „atlantische Dreieckshandel“ war die Grundlage der Entstehung des britischen Kapitalismus und gleichzeitig des britischen Weltreichs, des größten Imperiums der Geschichte. Begonnen hat den transatlantischen Sklavenhandel Portugal. Papst Nikolaus V. stellte dem portugiesischen König Heinrich ein Monopol über Westafrika aus, inklusive dem verbrieften Recht seine „Bewohner zu vertreiben, zu unterjochen und in die ewige Knechtschaft zu zwingen“. Die Niederlande, England, Frankreich und Dänemark mischten bald kräftig mit.
Kapitalismus und Rassismus
Zu Beginn der Kolonialwirtschaft in Übersee wurden auch weiße Europäer_innen versklavt. Ungefähr eine halbe Million weiße Zwangsarbeiter landeten in Nordamerika und eine weitere halbe Million auf den karibischen Inseln. Sie waren entweder in Europa gekidnappt worden, waren Kriegsgefangene, Häftlinge, Schuldsklaven oder leisteten die Kosten für die Flucht nach Amerika ab. Sie wurden meist nach einer gewissen Zeit wieder frei gelassen, aber viele erlebten die Freilassung nicht. Aus Indien wurden ungefähr 3,5 Millionen Menschen zwangsweise in die britischen Kolonien transportiert, Großteils nach 1833, dem offiziellen Ende des westafrikanischen Sklavenhandels. Es waren europäische Eliten, die so ihren Reichtum vermehrten. Rassismus ist in die Textur von Kapitalismus eingewoben. Kapitalismus ist rassistischer Kapitalismus, anders kann er nicht existieren. Aber wenn es um den heute noch immer grassierenden Rassismus geht, dann redet man um den heißen Brei herum, die Rolle von Kapitalismus wird meistens ignoriert.
Widerstand von Anfang an
Ungefähr 12,5 Millionen Menschen wurden in Afrika gefangen genommen (meist durch lokale afrikanische Sklavenjäger) und all ihrer Rechte beraubt, aber sie gingen nicht freiwillig und nicht als passive Opfer. Etwa jedes zehnte Sklavenschiff erlebte Widerstand, der von Selbstmord durch Verweigerung des Essens oder dem Sprung über Bord bis zu ausgewachsenen Meutereien reichte. Selbstmordversuche waren so häufig, dass viele Kapitäne Netze um ihre Schiffe legten, um den Verlust von menschlicher Ladung und damit Profit zu verhindern. Auch weiße Mannschaftsmitglieder begingen Selbstmord oder ergriffen in den Häfen die Flucht, um der Brutalität zu entgehen. Die überlebenden Sklaven haben ihre Erinnerung an ein Leben in Freiheit nicht vergessen und hielten ihre Freiheitsliebe über viele Generationen am Leben. Sie organisierten Sklavenaufstände, flohen, bewaffneten sich, schlossen sich mit der indigenen Bevölkerung und armen Weißen zusammen und gründeten unabhängige Gemeinschaften. Das Festhalten an der afrikanischen Kultur und ihre Weiterentwicklung gehört zu dem breiten Spektrum an Widerstand, der die Verschleppten und ihre Nachfahren bis heute auszeichnet.
Wer beendete Sklaverei?
Laut offizieller Geschichtsschreibung hat das britische Empire die Sklaverei aus freien Stücken beendet. Über Jahrzehnte betrieben die Gegner der Sklaverei (Abolitionisten) hartnäckige politische Arbeit, die 1833 zu der Entscheidung beitrug, die Sklaverei zu verbieten. Über den entscheidenden Anstoß, die Sklaverei abzuschaffen, schweigt die offizielle Geschichtsschreibung sehr erfolgreich. Der kam durch eines der großartigsten Ereignisse der Geschichte, dem erfolgreichen Sklavenaufstand von Haiti. 1789 brach dieser, inspiriert durch die französische Revolution, aus, führte 1794 unter der Führung Toussaint Louvertures zur offiziellen Abschaffung der Sklaverei mit Unterstützung der Jakobiner in Paris und mündete als Reaktion auf die Konterrevolution und Wiedereinführung der Sklaverei in einen Bürgerkrieg und die erfolgreiche Unabhängigkeit Haitis von Frankreich. Es war dieses Schreckgespenst des totalen Verlusts der Kolonien, der die Briten zu einem „geordneten Rückzug“ aus dem Sklavenhandel gezwungen hatte. Unter den Plantagenbesitzern der amerikanischen Südstaaten führte diese Bedrohung allerdings zur gegenteiligen Reaktion. Sie wollten das Sklavensystem noch weiter ausbauen und traten deshalb aus der Union aus, was schließlich im amerikanischen Bürgerkrieg und dem Ende der Sklaverei in Amerika mündete.
Keine Abrechnung
Frankreich fand sich nie mit diesem Verlust ab und erpresst von Haiti bis heute Wiedergutmachung für den Verlust. Genauso bekamen die ehemaligen Sklavenbesitzer in Großbritannien nach 1833 für den Verlust der Menschen, die sie als ihr Eigentum verstanden, Reparationszahlungen – und zwar im Gegenwert von 18 Milliarden Euro. Unter den Entschädigten waren auch Familienmitglieder des letzten britischen Premierministers David Cameron. Anstatt einer revolutionären Abrechnung mit den ehemaligen Sklavenhaltern nach dem Ende der Sklaverei wurden diese also beschwichtigt und ermutigt, von ihrem rassistischen System fortzuführen, was sie in die neue Zeit hinüberretten konnten. Deshalb hat Rassismus in den USA wenig von seiner Grausamkeit verloren. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Sturm auf die Denkmäler und der Kampf gegen die Geschichtsschreibung der herrschenden Eliten als historisches Ereignis zu feiern. Angela Davis meinte treffend: „Wir tun heute, was wir in den späten 1800er-Jahren hätten tun sollen!“