„Mein Bauch gehört mir“: Der Kampf für das Recht auf Abtreibung
Jährlich veranstalten christliche Fundamentalisten in Berlin Umzüge mit tausenden Teilnehmern. Sie sind die radikalsten Vertreter der Auffassung, wonach bereits ein befruchtetes Ei einem Menschen gleichzustellen sei. Für sie ist Schwangerschaftsabbruch Mord, da bei der Empfängnis eine „Beseelung durch Gott“ stattfinde. Deshalb fordern sie das völlige Verbot von Abtreibung.
Mit ihrer Kampagne erinnern diese „Lebensschützer“ nachdrücklich daran, dass Selbstbestimmung von Frauen über ihren Körper und ihr Leben immer noch kein selbstverständliches Recht ist. Die Formen, die diese besondere Unterdrückung annahm, und die sie begleitenden Ideologien wandelten sich im Laufe der Jahrtausende erheblich. Erst mit der Entstehung des modernen Kapitalismus und der Arbeiterklasse, als die alte Form der Familie gesprengt wurde und Frauen langsam ökonomische Unabhängigkeit gewannen, entstand schließlich auch eine Bewegung für Selbstbestimmung über den eigenen Körper.
Mittel der Geburtenkontrolle sind schon sehr alt
Bezogen auf die Menschheitsgeschichte ist die Vorstellung, dass eine Zellvereinigung oder ein Fötus aus moralischen und rechtlichen Gründen wie ausgebildete Menschen unter Lebensschutz gestellt werden sollte, eher jüngeren Datums. Mittel der Geburtenkontrolle wie Verhütung, Abtreibung und Kindstötung sind hingegen sehr alt. Bereits die oft als urkommunistisch bezeichneten Gesellschaften, in denen es noch keine Klassen und keine Unterdrückung gab, kannten sie.
Einen Hinweis hierauf geben jene „primitiven“ Gesellschaften, die noch zur Zeit der Kolonialisierung außerhalb Europas existierten. Jesuitenmissionare, die ab dem 18. Jahrhundert zur Unterstützung der Landnahme nach Amerika entsandt wurden, berichteten von Kindstötung bei der Geburt von Zwillingen: Einer der Säuglinge wurde „aufgeopfert, indem sie glauben, daß eine Mutter vor zwey Kinder nicht gnugsam Narung habe“. Zugleich betonten sie den liebevollen Umgang, den die Eltern mit den Kindern pflegten. „Uebrigens unterstehet sich niemand sie zu schlagen, oder an ihrer Besserung mit Nachdruck zu arbeiten“, berichtete der Jesuit Lafitau aus dem heutigen Kanada. Auf Inseln Neuguineas wurde die Abtreibung „mit einer kleinen Mahlzeit gefeiert“, schrieb der Anthropologe Nieboer im Jahr 1904.
Abtreibung galt nicht als verwerflich
Wie die Methoden der Geburtenkontrolle in diesen „primitiven“ Gesellschaften aussahen, erforschte die frisch entstandene Völkerkunde schon um 1900. Die Wissenschaftler waren oft beeinflusst von Thomas Malthus und seiner einhundert Jahre zuvor entwickelten Bevölkerungstheorie, wonach die natürlichen Ressourcen nicht zur Ernährung einer sich wild vermehrenden Bevölkerung reichten (und kinderreiche arme Familien kein Lebensrecht hätten). Sie fanden Verhütung, Abtreibung und Kindstötung vor. Abtreibung wurde mechanisch, beispielsweise durch Klopfen des Bauchs, und mithilfe von Pflanzen vorgenommen. Die Forscher sprachen gar mit einiger Begeisterung von „malthusianistischen Pflanzen“, die der Geburtenkontrolle dienten.
Abtreibung und Kindstötung waren meist eine Notwendigkeit, um das Überleben der Sippe zu sichern. „Primitive Frauen“ gaben dabei „überraschend moderne Gründe“ für die Geburtenkontrolle an. Zum Beispiel nannten sie mehrere Totgeburten oder Schwierigkeiten, noch mehr Kinder aufzubringen, stellte der Soziologe Norman E. Himes fest. Weder Abtreibung noch Kindstötung galt als verwerflich, weil das Kind erst mit der Geschlechtsreife als vollwertig angesehen wurde.
Die „weltgeschichtliche Niederlage der Frau“
Diese Art der von der Gemeinschaft getragenen Geburtenkontrolle ging unter mit der Entstehung von Privateigentum und Klassengesellschaften. Neue Produktionsmittel wie der Ochsenpflug oder Fischerboote, mit denen weit auf das Meer gefahren werden konnte, ermöglichten es, einen Überschuss an Nahrungsmitteln zu erzeugen. Gleichzeitig war es Frauen aufgrund von Schwangerschaft und Versorgung der Kleinkinder schwerer möglich, an solchen Arbeiten teilzunehmen. Das erzeugte Mehrprodukt konzentrierte sich nun zunehmend in den Händen der Männer und schließlich nur noch in den Händen weniger Männer. An die Stelle der egalitären Sippe, in der alle Tätigkeiten als gleich wichtig galten, trat die Familie mit dem Mann, dem Vater oder Gatten, als Vorstand – die „patriarchale“ Gewalt.
Um in männlicher Linie den erwirtschafteten Überschuss vererben zu können und sicherzugehen, dass die Frau nicht „fremdging“, wurde sie unter das Diktat der Monogamie gestellt, was notwendigerweise auch Kontrolle über ihren Körper bedeutete. Friedrich Engels nannte dies die „weltgeschichtliche Niederlage der Frau“, in der „die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche“ zusammenfällt.
Abtreibung als Eigentumsschaden
Schon an den frühen Schriftzeugnissen der vor über 5.000 Jahren entstehenden Stadtstaaten Mesopotamiens lässt sich die Minderstellung der Frauen ablesen. Die keilschriftlichen Kodizes (Rechtssätze) benennen vor allem Rechte des Manns. Die erste Erwähnung einer Abtreibung findet sich in dem Kodex der Stadt Ur von vor rund 4.000 Jahren: Schlägt ein Mann die Tochter eines anderen Mannes und erleidet sie eine Fehlgeburt, muss er dreißig Schekel Silber (vergleichbar 9.000 Litern Gerste) zahlen, bei der Tochter eines Armen fünf, bei der eines Sklaven zwei Schekel, was zugleich die Klassennatur der Gesetze belegt. Diese Regelungen unterfallen dem, was mit Patriarchat gemeint ist: Gegen den Willen des Haushaltsvorstands (des Vaters oder Gatten) vorgenommene Abtreibungen galten als Eigentumsschaden, für die ein Ausgleich zu leisten war.
Eine ähnliche Regelung geht später in das Alte Testament ein (Exodus 21,22): Hier geht es darum, dass sich zwei Männer raufen, eine schwangere Frau dazwischengerät und eine Fehlgeburt erleidet. Der Schuldige muss eine vom Gatten festgesetzte Geldbuße leisten. Dies ist die einzige Erwähnung von Abtreibung in der Bibel. Dass sie obendrein nur als ein Sachschaden gilt, ist christlichen Fundamentalisten ein großes Ärgernis.
Staat und patriarchale Gewalt
Erst nach dem mittelassyrischen Recht um das Jahr 1200 vor unserer Zeitrechnung wird die Selbstabtreibung geahndet und zwar mit Pfählen, einer Strafe, die anfangs nur über Frauen verhängt wurde. Die öffentliche Bestrafung ist zugleich ein frühes Zeichen dafür, dass der Staat die patriarchale Gewalt abzulösen versucht und Abtreibung als Verletzung von Staatsinteressen sieht. Allerdings dauert es noch über 2000 Jahre, bis sich ein solches System entwickelt.
Eine moralische Bewertung von Abtreibung gab es nicht, auch nicht in den folgenden griechischen und römischen Staaten. Dem griechischen Philosophen Platon schwebte eine elitäre Zuchtauswahl gleich der Zucht edler Jagdhunde vor, bei der die „besten Männer den besten Weibern möglichst oft beiwohnen“, während die Kinder der „schlechtesten Männer und Frauen“ auszusetzen waren. Sein Schüler Aristoteles befürwortete zwecks Bevölkerungsoptimierung die Abtreibung, „wenn Eheleute durch die Beiwohnung noch weiteren Nachwuchs über diese Grenze hinaus erzielen“. Er führte aber auch die Spekulation ein, dass der Fötus ab einem bestimmten Zeitpunkt (der männliche Fötus ab dem vierzigsten Tag, der weibliche ab dem neunzigsten Tag) Empfindung und Leben besäße und entsprechend nur bis dahin abgetrieben werden könne.
Im Rom der Antike war Abtreibung bei Frauen der Oberschicht so üblich, dass der Dichter Juvenal ihnen den Beischlaf mit zeugungsunfähigen Männern (Eunuchen) empfahl. Abtreibung blieb nach der noch patriarchal verfassten Gesellschaft straflos, solange der Gatte einverstanden war.
Kirche übernahm Kontrolle
Abtreibungsverbote oder -beschränkungen, „Beseelungs“-Vorstellungen und Kontrolle über die Frau finden sich in allen Weltreligionen. Hier und heute müssen wir uns bei der Frage der Abtreibung aufgrund der historischen Entwicklung aber vor allem mit der christlichen Kirche auseinandersetzen. In Europa überlebte das Christentum mit seinem in viele Länder reichenden bürokratischen Apparat aus hierarchisch organisierten Hauptamtlichen den Zerfall des Römischen Reichs, zu dessen herrschender Ideologie es sich hatte aufschwingen können. Als wachsende, gut vernetzte wirtschaftliche Macht, gestützt auf Klöster, Bauernausbeutung und Kolonisierung, wurde es auch zur politischen Macht in der zersplitterten Feudalgesellschaft.
Die Beanspruchung des „Vaterrechts“ für den Gott des Christentums mitsamt Frauenunterdrückung als einem starken Instrument der Spaltung war eine Kampfansage an das uneingeschränkte Patriarchenrecht. Mit der irdischen Gewalt seines Machtapparats übernahm die Kirche die soziale Kontrolle über die Mitglieder der Gesellschaft, auch über ihr Sexualverhalten, das ausschließlich der Fortpflanzung dienen sollte. Soziale Kontrolle hieß Erzeugung von Scham, Schuld und Angst, Inquisition und Denunziantentum.
Auch die Empfängnisverhütung galt als Totschlag
Bis es zu einem generellen Abtreibungsverbot ab dem Zeitpunkt der „Empfängnis“ kam, debattierten die „Kirchenväter“ des Mittelalters hin und her über den Zeitpunkt der „Beseelung“ eines Fötus (anknüpfend an Aristoteles), ab dem ein Abort als Todsünde galt (was immerhin einer Art Fristenregelung entsprach!). Schließlich ging im Hochmittelalter vor rund 800 Jahren selbst die Empfängnisverhütung als Totschlag in das Kirchenrecht ein – ohne aber die „Fristenregelung“ aufzuheben. Die von der Kirche verhängten Strafen konnten mehrjährige „Buße“ bei Wasser und Brot bedeuten. Die Festigung der Kirchenposition war auch eine Reaktion auf die breite, blutig niedergeschlagene Ketzerbewegung der Katharer, die die Macht und den Reichtum der römischen Kirche angriff und großen Zulauf von Frauen hatte. Sie sahen Fortpflanzung, wenn auch nicht unbedingt Sex, als sündhaft an, da die Welt dem Teufel gehörte.
In der Praxis gab es jedoch auch im Mittelalter Verhütung, Abtreibung und Kindstötung – und jede Menge Handbücher und überliefertes Wissen hierzu. Selbst ein Papst des 13. Jahrhunderts hatte früher als Mediziner Rezepte vor allem für arme Leute verfasst. Nonnen in Straßburg beschwerten sich im 14. Jahrhundert darüber, dass in ihren Anlagen gelegentlich getötete Kinder gefunden wurden, Mönche des Dominikanerordens sich Zugang zu ihrem Kloster verschafften und nun schon wieder eine Nonne schwanger sei.
In Kriminalakten des 16. und 17. Jahrhunderts finden sich vor allem Dienst- und Bauernmägde, die abgetrieben hatten (und erwischt wurden). Zu den Abtreibungsmitteln gehörten auch die Früchte des Sadebaums, über den der Sozialist August Bebel noch Ende des 19. Jahrhunderts schrieb, er wachse wegen seiner abortiv wirkenden Bestandteile in Südwestdeutschland „im Garten eines jeden Bauernhofs“. In Frankreich gab es im 19. Jahrhundert auf dem Land noch Kindstötung, während Frauen in den Städten Zugang zu Abtreibungsmitteln hatten.
Abtreibung und der moderne bürgerliche Staat
Mit dem Aufstieg des Kapitalismus und des modernen bürgerlichen Staats schwand die wirtschaftliche und politische Macht der Kirche. Doch die weltliche Gerichtsbarkeit knüpfte an den christlichen Ideologien als nützliche Instrumente zur Unterdrückung und sozialen Kontrolle an. Während im Jahr 1869 Papst Pius IX. die „Beseelung“ des Fötus von der Zeugung an verkündete (und die Unfehlbarkeit des Papstes), erließ zwei Jahre später der soeben gegründete preußische Nationalstaat den Strafrechtsparagrafen 218 (in dem Abschnitt „Verbrechen wider das Leben“). Er sah Zuchthaus bis zu fünf Jahre für eine Selbstabtreibung vor, bis zu zehn Jahre für Helfer.
Weil Verhütungsmittel verboten waren, griffen arme Frauen zu schweren Giften, während reiche Frauen ihren Hausarzt bemühten.
Angesichts des durch die Industrialisierung erzeugten Elends in den Städten stieg in Deutschland die jährliche Zahl der Aborte rasant auf mehrere Hunderttausend an. Weil Verhütungsmittel verboten waren, griffen arme Frauen zu schweren Giften oder ließen den Abgang durch Tritte und Stockschläge herbeiführen, während reiche Frauen ihren Hausarzt bemühten. Aufgrund dieser Verhältnisse wurde der Paragraf 218 sowohl als Mittel der Frauenunterdrückung als auch als Klassenparagraf begriffen, der einen gemeinsamen Kampf von Frauen wie Männern erforderte.
Bewegung für das Selbstbestimmungsrecht der Frau
In der Weimarer Republik (1918 bis 1933) entstand die bisher wohl größte Bewegung für die Freigabe von Abtreibung und das Selbstbestimmungsrecht der Frau unter dem Motto „Dein Bauch gehört dir“. In ihr kam die Bewegung gegen den ebenfalls im Jahr 1871 erlassenen „Homosexuellenparagrafen“ 175 mit den Bewegungen der Sexualreformer, der radikalen Frauenrechtlerinnen und der Kommunistischen Partei zusammen. Befeuert wurde sie durch die (kurzlebige) völlige Aufhebung des Abtreibungsverbots im nachrevolutionären Sowjetrussland im Jahr 1920. Ihren Höhepunkt erreichte sie, als Papst Pius XI., der sich in Italien mit dem Faschismus unter Mussolini verbündet hatte, im Jahr 1930 verkündete, Sex habe in der Ehe und ausschließlich zur Fortpflanzung zu erfolgen, andernfalls müsse der Staat hart durchgreifen.
Unter der Naziherrschaft wurde dann jede fortschrittliche Bewegung ausgelöscht. Die Faschisten betrachteten Abtreibung als „Rassenverrat“ und Gefährdung des „deutschen Volks“, während zugleich Jüdinnen Zwangsabtreibungen unterzogen wurden.
Barbarei im Namen des Lebensschutzes
Im Nachkriegswestdeutschland nahm die aus der linken 68er-Bewegung entstehende Frauenbewegung den Kampf gegen den Paragrafen 218 erneut auf und das Gesetz wurde schließlich gelockert. Seitdem versuchen reaktionär-religiöse „Lebensschützer“ das Blatt wieder zu wenden. Auf ihren Druck hin wurde in den 1990er Jahren – nach der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR – bei einer neuerlichen Reform zum ersten Mal in der über hundertjährigen Geschichte des Paragrafen ein „Schutz des Ungeborenen“ aufgenommen – und somit ein höheres Lebensrecht für den Fötus als für die schwangere Frau.
Die wachsenden Aufmärsche der christlichen Fundamentalisten müssen uns eine Warnung sein. Diese pflegen enge Beziehungen zur rechtsradikalen AfD, die schon mit der Forderung nach einer Verschärfung des Paragrafen 218 Wahlkampf geführt hat. Wo diese Kräfte sich durchsetzen können, drohen wahre Barbareien im Namen des Lebensschutzes. In El Salvador, wo auf Betreiben der katholischen Kirche Ende der 1990er-Jahre ein totales Abtreibungsverbot verhängt wurde, sitzen Frauen bis zu vierzig Jahre lang für eine illegale Abtreibung ein. Die Verurteilten sind überwiegend arme Indigenas, während die reichen Frauen für einen Abort ins Ausland reisen.
AfD und „Lebensschützer“ stoppen
Aber auch hierzulande steigt der Einfluss christlicher Fundamentalisten, wie sich an dem Fall einer Ende 2013 vergewaltigten Studentin in Nordrhein-Westfalen gezeigt hat. Gleich zwei katholische Krankenhäuser verweigerten ihr die Untersuchung und Spurensicherung, weil sie dann die „Pille danach“ hätten verschreiben müssen, was gegen ihr „christliches Gedankengut“ verstoße. Wir stehen deshalb vor der Aufgabe, den Marsch der „Lebensschützer“ wie auch die AfD zu stoppen und die erkämpften Rechte zu verteidigen.
Die Geschichte zeigt aber auch, dass Frauenunterdrückung und Klassengesellschaft Hand in Hand gehen. Und es sind Frauen der Arbeiterklasse, ihre Partner oder ihre Familie, die am meisten unter der Beschränkung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch oder gar einem totalen Verbot zu leiden haben. Deshalb muss es letztendlich auch um einen gemeinsamen Kampf für eine andere, eine sozialistische Gesellschaft gehen.
Der Artikel ist zuerst auf marx21 erschienen und redaktionell bearbeitet worden.