Nach Anschlag in Suruç: Erdoğan will am imperialistischen Spiel teilnehmen

Der Friedensprozess zwischen Kurd_innen und der türkischen Regierung ist nach dem Anschlag in Suruç abrupt zu Ende gegangen. „Neue Linkswende“ hat mit Ozan Tekin (DSİP, Türkei) über Erdoğan, die HDP und das Anti-IS-Bündnis mit den USA gesprochen.
3. August 2015 |

Neue Linkswende: Der Selbstmordanschlag in Suruç am 20. Juli war schrecklich. Was ist dort passiert?

Ozan Tekin: Die Jugendorganisation SGDF einer linken Partei organisierte von dort aus Solidarität mit der syrischen Grenzstadt Kobanê. Sie wollten beim Wiederaufbau der Stadt helfen und planten über die Grenze zu gehen. Die Stadt war nach monatelangen Angriffen durch den „Islamischen Staat“ (IS) völlig zerstört worden.

Mehr als 30 junge Aktivist_innen wurden bei dem Selbstmordanschlag getötet. Zu dem Zeitpunkt des Anschlags waren fast 300 Menschen in Suruç, einer kleinen Stadt auf der türkischen Seite der Grenze, versammelt.

Wie reagierte die türkische Regierung darauf? Kurd_innen werfen Präsident Erdoğan vor, mit dem IS zusammenzuarbeiten, um die kurdische Bewegung zu brechen.

Erdoğan und Ministerpräsident Davutoğlu haben die Morde nur widerwillig verurteilt. Ein paar Tage später haben IS-Kämpfer eine türkische Armeeeinheit an der syrischen Grenze angegriffen und einen Soldaten getötet. Die türkische Regierung ergriff dann Maßnahmen und ließ einige IS-Regionen bombardieren.

Allerdings änderte sich die allgemeine Lage sofort wieder. Nach ein paar Bomben auf IS-Stellungen begannen türkische Kampfflieger Angriffe auf Ziele in den Kandil-Bergen (die wichtigste Basis der PKK) und in den umliegenden Regionen im Nordirak zu fliegen. Das ist entscheidend, denn dort herrschte seit dem Beginn der Friedensverhandlungen 2013 ein Waffenstillstand – nicht offiziell, aber in der Praxis – zwischen der türkischen Armee und der PKK. Die jüngsten Entwicklungen haben diesen Waffenstillstand offiziell beendet.

Was bedeutet das für den Friedensprozess zwischen der Türkei und den Kurd_innen, insbesondere nach dem großen Erfolg für die HDP (Demokratische Partei der Völker) bei den letzten Wahlen?

Die Regierung ließ auch eine Serie von Verhaftungen und „Sicherheits“-Razzien in der Türkei durchführen. In vier Tagen wurden 1.350 Menschen festgenommen. Die Regierungspartei AKP behauptet, sie würde gegen „terroristische Organisationen“ vorgehen: Den IS, die PKK und die DHKP/C (eine linke Narodniki-mäßige Partei). In Wirklichkeit waren die Inhaftierten kurdische Aktivist_innen. Die Angriffe der Regierung nehmen mit den Drohungen von Erdoğan  und Davutoğlu gegen den stellvertretenden HDP-Vorsitzenden Demirtaş und andere HDP-Mitglieder zu.

In den frühen 1990er-Jahren zogen kurdische Abgeordnete erstmals in das türkische Parlament ein. Nach ein paar Jahren wurden einige führende Köpfe angeklagt und manche ins Gefängnis gesteckt. Dies war von einem schmutzigen Krieg gegen die Kurd_innen begleitet. Was die Regierung jetzt tut, erinnert an damals. All das hängt mit dem Wahlergebnis bei den Parlamentswahlen im Juni zusammen. Es ist ein Angriff auf den Aufstieg der HDP, der Koalition der Kurd_innen und radikalen Linken, die 13 Prozent erreichen konnte.

Erdoğan  versucht aus der Niederlage herauszukommen und eine niedergeschlagene Stimmung in den eigenen Rängen zu überspielen.

Aber es gibt noch einen Aspekt. Die AKP hat ein Fünftel ihrer bisherigen Unterstützung bei den Wahlen verloren. Sie müssen nun eine Koalition mit den kemalistischen Nationalisten und Faschisten bilden. Erdoğan  versucht aus der Niederlage herauszukommen und eine niedergeschlagene Stimmung in den eigenen Rängen zu überspielen. Alle regierungstreuen Medien und die Führer der AKP wollen ein Klima der „nationalen Einheit“ gegen den „Terrorismus“ erzeugen.

Allerdings war es Erdoğan, der sich bereits im Februar einer angekündigten inoffiziellen Einigung entgegenstellte. Seither hat die AKP die Friedensverhandlungen mit den Führern der HDP und Abdullah Öcalan, dem Verhandlungsführer auf der kurdischen Seite, eingestellt.

Die Türkei hat angekündigt, dass die USA türkische Luftwaffenstützpunkte für Luftschläge gegen IS-Ziele in Syrien  nutzen können. Besteht die Gefahr, dass die Türkei in den Krieg in Syrien hineingezogen wird?

Die Türkei ist bereits durch vielerlei Hinsicht in den Krieg in Syrien verwickelt. Die AKP ist eine der ausländischen Kräfte, die die syrische Revolution in einen sektiererischen Bürgerkrieg verwandelt hat. Sie intervenierte in Syrien aus ihrem eigenen Interesse heraus und unterstützte einige der Rebellengruppen, um den türkischen Einfluss in der Region zu erhöhen.

Die AKP gab ein wenig nach und trat dem Kampf gegen den IS bei. Obama räumte ebenfalls ein paar Zugeständnisse ein und lässt Erdoğan die PKK bombardieren.

Die türkische Regierung war letztes Jahr nicht besonders begeistert, der internationalen Koalition gegen den IS unter Führung der USA beizutreten. Die Linie der USA legte den Schwerpunkt auf die Bekämpfung des IS und nicht auf das Assad-Regime. Auf der anderen Seite hat die AKP dagegen argumentiert, dass der Kampf gegen Assad Priorität haben sollte. Die letzten Bombenangriffe folgten einer Übereinkunft zwischen Obama und Erdoğan. Die AKP gab ein wenig nach und trat dem Kampf gegen den IS bei. Obama räumte ebenfalls ein paar Zugeständnisse ein und lässt Erdoğan die PKK bombardieren.

Die AKP war außerdem in einem „Train and Equip“-Projekt (Trainieren und Ausrüsten) mit den USA beteiligt. Dieses Projekt zielte auf die Stärkung „moderater“ (also die US-Interessen dienender) Rebellengruppen ab. Es endete in einer demütigenden Niederlage, nachdem diese Rebellen unverzüglich nach ihrem Übertritt über die syrische Grenze von Al-Nusra gefangengenommen und getötet wurden.

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Die Türkei ist eine untergeordnete imperialistische Macht im Nahen Osten und versucht daher im politischen Prozess mitzumischen. Aber sie hat nicht die Kraft, allein in einem Land wie Syrien einzugreifen. Als die USA 2003 die Invasion des Irak planten, verhinderte die türkische Antikriegsbewegung eine Beteiligung der Türkei. Erdoğan war sehr verärgert und meinte, dass man die Türkei nicht „am Spiel teilnehmen“ lasse. Er will nicht, dass das noch einmal passiert.

Ozan Tekin ist Herausgeber der Website www.marksist.org und führendes Mitglied der Revolutionär-Sozialistischen Arbeiterpartei (DSİP), der Schwesternorganisation der „Neuen Linkswende“ in der Türkei. DSIP ist Teil des radikal linken Parteibündnisses HDP (Demokratische Partei der Völker).
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.