ÖVP-Krise ist eine Chance, wenn die Linke sie nutzt

Auf den Höhenflug der ÖVP unter Kurz, folgt der Absturz. Umfragen auf Bundesebene zeigen die ÖVP aktuell bei gerade einmal 20% auf Platz 3, ein Minus von 17%. Wichtiger noch, die ÖVP muss in ihren historischen Hochburgen Niederösterreich und Tirol harte Verluste einstecken. Die Linke darf diese Chance die ÖVP weiter zu schwächen und selbst aufzubauen nicht verpassen.
12. September 2022 |

Aktuelle Umfragen für die Landtagswahlen in Tirol zeigen die ÖVP bei gerade einmal 25%, ein Minus von 20% gegenüber den Wahlen 2018. Das wäre das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Tiroler ÖVP. Der neue Tiroler Obmann versucht sogar das ÖVP-Erbe zu vertuschen, und lässt als Liste Mattle antreten, nicht als ÖVP an, so schlecht ist es um die Liftbetreiber-Partei bestellt. In Niederösterreich liegt die ÖVP bei gerade einmal 32%. Dies würde ein Minus von 18% gegenüber den letzten Landtagswahlen von 2018 bedeuten. Vor der Machtübernahme von Kurz lag die ÖVP in Umfragen 2016 auf Bundesebene ebenfalls bei unter 20%. Während sich auf Bundesebene die Zeit nur um sechs Jahre zurückgedreht hat, sind die massiven prognostizierten Verluste in den Ländern neu. Sie sind Ausdruck des steigenden Misstrauens in die Politik, welches nicht zuletzt von Kurz und Co. als völlig berechtigt bestätigt wurde.

Der Parteiapparat bröckelt

Doch nicht nur an der Wahlfront steckt die ÖVP schwere Verluste ein. Auch der Parteiapparat bröckelt: Zwei neue Bundeskanzler, die Auswechslung der gesamten Regierungsmannschaft, die Rücktritte des Tiroler Landeshauptmanns Platter und des steirischen Landeshauptmanns Schützenhöfer, die Absetzung des ÖVP-Generalsekretärs Axel Melchior, weitere Rücktritte von Funktionären und Kurz Vertrauten wie Lisa Wieser (Büroleiterin von Kurz),  Bernhard Bonelli, Thomas Schmid, ÖVP-Generalsekretärin Laura Sachslehner, Bernadette Arnoldner (Parteimanagerin ÖVP-Wien) und das alles binnen eines Jahres. Es sieht endlich wirklich schlecht aus für „die Schwarzen“.

Die völlige Desorientierung der ÖVP zeigte sich bei Nehammers Auftritt in den ORF Sommergesprächen. Dem konservativen Drehbuch folgend, antwortete er auf Krise mit Ruck nach rechts. Im Unterschied zu Kurz gelang es ihm jedoch nicht im geringsten Aufbruchsstimmung auszustrahlen. Seit Auftritt war nicht der eines selbstbewussten Kanzlers der stärksten Partei, sondern glich eher einem Roboter der die einprogrammierten Floskeln Flüchtlinge, böse Rote, Eigenverantwortung, usw. runterratterte.

SPÖ-Hass als Lebenselixier

Das politische Projekt von Kurz beruhte darauf, sich vom herkömmlichen Politik-Stil abzugrenzen. Inspiriert vom französischen Präsidenten Macron spielte er 2017 mit dem Begriff der Bewegung, änderte die Farbe von Schwarz auf Türkis und blies zum Generalangriff auf die Sozialdemokratie. Endlich ein Konservativer, der nicht auf Ausgleich mit den Roten setzt, sondern ihnen ins Gesicht spuckt, war die Botschaft. So konnte er die alten konservativen „Sozifresser“, das klassenbewusste Bürgertum, mobilisieren und gleichzeitig als rebellischer Anti-Systemkandidat wahrgenommen werden.

Dieses zutiefst widersprüchliche Phänomen, konservative, denen es mit offenem Rassismus und Linken-Hass gelingt, sich als Anti-System-Politiker darzustellen, war in den letzten Jahren regelmäßig zu beobachten. Trump, Orbán, Macron oder Boris Johnson – im Unterschied zur reformistischen Linken hat der Konservatismus verstanden, dass mit dem Bewahren des Bestehenden kein Blumentopf zu gewinnen ist. Kurz’ Strategie funktionierte. Sowohl 2017 als auch 2019 stellte sich bei den Nachwahlbefragungen heraus, dass die ÖVP primär aufgrund ihres Spitzenkandidaten gewählt wurde. Die Glaubwürdigkeit der Partei war kein Wahlmotiv.

Während das rebellische Image nur Show war, den Roten ins Gesicht spucken wollte Kurz bei jeder Gelegenheit. Aus den Chatprotokollen von Thomas Schmid geht hervor, dass die ÖVP Prestigeprojekte mit der Kürzung des Budgets für Arbeiter-Bezirke finanzieren wollte. Thomas Schmid an den Kurz-Vertrauten Bernhard Bonelli: „Politik finanzieren wir mit Politik, Änderungen in SPÖ Hochburgen, wo viel zu holen ist und es niemandem weh tut“.

Mit der ÖVP kollabiert das politische System

Seit den 70er-Jahren erleben wir eine fortschreitende Krise der Politik. Sowohl die Mitgliedschaft in den beiden Großparteien als auch die Wahlbeteiligung geht kontinuierlich zurück. Der österreichische Demokratie-Monitor des Umfrageinstitutes Sora kommt zum Ergebnis: jedes Jahr steigt das Misstrauen in das politische System. Im ökonomisch schwächsten Drittel der Bevölkerung sind über 50 % der Meinung, dass das politische System in Österreich nicht gut funktioniert. Mit der Coronakrise erreichte das Misstrauen in die Politik einen Höchststand, der sich durch die explodierende Inflation nochmals erhöhen wird.

2021 kam eine OECD-Studie zum Ergebnis, dass das Vertrauen der Österreicher_innen in ihre Politik quasi nicht vorhanden ist. Gerade einmal ein Viertel der Österreicher_innen vertraut der Politik, im europäischen Durchschnitt liegt der Wert bei 41%. Mitte Juli 2022 erreichte der APA/OGM-Vertrauensindex einen historischen Tiefstand, das Vertrauen in die Politiker verschlechterten sich nochmals gegenüber März 2022. Gerade einmal fünf Politiker erreichen einen positiven Wert, das bedeutet, dass ihnen mehr Menschen vertrauen als misstrauen.

Mit dem Niedergang von Kurz, der alle klassischen Erwartungen in Politiker bestätigt – sie scheren sich nur um die eigenen Leute, auch in einer nie dagewesen sozialen Krisensituation – verstärkt sich die Anti-Politik Stimmung nochmals. Objektiv gesehen eine ideale Möglichkeit für eine Offensive der radikalen Linken.

Rassismus als Ausweg

Ihres Anti-System-Images beraubt, muss sich die ÖVP auf ein uraltes Kernthema zurückziehen: Anti-Wien-Propaganda, Stichwort Wien Energie, und Rassismus, Stichwort (Ex-) Generalsekretärin Laura Sachslehner. Auf Twitter hetzte Sachslehner gegen die „Entwertung der Staatsbürgerschaft“ falls diese Menschen mit einem geringeren Einkommen zur Verfügung gestellt wird. Gleichzeitig spielte Sachslehner Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gegen Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen Osten aus, gegen letztere gelte es den „effektiven Außengrenzschutz“ voranzutreiben. Übersetzt bedeutet das Ausweitung der europäischen Vernichtungspolitik gegenüber Flüchtlingen. 2021 starben mindestens 3.100 Menschen bei der Überfahrt nach Europa. Die von der ÖVP geforderte Rekrutierungsoffensive für die Polizei fällt ins dasselbe Muster. Doch auch die rassistische Karte wird die ÖVP nicht retten. Wer militanten Rassismus sucht, wird eher bei der FPÖ fündig, die sich von ihrem Umfragetief nach Ibiza wieder erholt hat und auf Bundesebene auf Platz 2 liegt.

Regierung stoßen

Von alleine wird die Regierung nicht zerbrechen. Die Koalition hält, weil die ÖVP aus offensichtlichen Gründen kein Interesse an Neuwahlen hat und die Grünen sich nicht trauen Neuwahlen zu fordern. Sie haben jede Schandtat der Regierung, ob Abschiebungen, Pushbacks an den Außengrenzen, Steuergeschenke für Reiche oder das Wiederaufsperren des Kohlekraftwerks in Mellach, mitgetragen. Dazu kommt noch, dass sie aus Neuwahlen aktuell nicht gestärkt hervorgehen würden, sie schwanken zwischen 12 und 9%, 2019 erreichten sie 13,9%. Insofern haben weder ÖVP noch Grüne ein direktes Interesse an Neuwahlen.

Die SPÖ liegt bei allen Umfragen bei um die 30%, das würde ein Plus von 9% bedeuten. Die Strategie „einfach nichts tun und nach Möglichkeit nicht auffallen“, kann auf parlamentarischer Ebene für einen Wahlsieg ausreichen. Einen echten politischen Umschwung erreicht die SPÖ so natürlich nicht. Mit Ausnahmen von personellen Wechseln an der Parteispitze führten die aufgezwungenen Jahre der Opposition zu keinerlei ideologischer Neuaufstellung der Sozialdemokratie. Sobald sie wieder regieren darf, wird sie dieselbe versöhnlerische Politik gegenüber der Rechten fahren, die sie seit Gründung der Zweiten Republik auszeichnet. Auch die schüchternen Lohnforderungen des ÖGB lassen nicht mit einer groß angelegten Offensive der Arbeiter_innenbewegung rechnen. Darum müssen wir uns auf den Aufbau von Straßenbewegung sowohl gegen Rassismus als auch Klimawandel und die sich anbahnende soziale Katastrophe durch die Inflation fokussieren. Dafür braucht es eine offensive und geeinte Linke.