Riesige Empörung über „Obergrenzen“: Breite Front widersetzt sich Unmenschlichkeit der Regierung

Die Regierung hat am Vorabend des „Asylgipfels“ in Wien die Einführung von „Obergrenzen für Flüchtlinge“ beschlossen und knallt schutzbedürftigen Menschen die Tür vor der Nase zu. Damit fahren SPÖ und ÖVP einfach über sämtliche Hilfsorganisationen, die eigene Parteibasis und Menschenrechte drüber. Jetzt ist sichtbarer Widerstand auf der Straße nötig.
20. Januar 2016 |

Das Flüchtlings-Thema besitzt für die Regierung eine Sprengkraft, wie keine anderes Thema. Schon im Vorfeld des „Asylgipfels“ der Regierung im Bundeskanzleramt mit den Ländern spitzte die ÖVP die Frage um Obergrenzen für Flüchtlinge zu. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner verlangte, die SPÖ müsse sich „von der Willkommenskultur verabschieden“ und anerkennen, dass es „eine faktische Obergrenze“ gebe. Außenminister Sebastian Kurz verlangte eine „Trendwende“ weg von der „Einladungspolitik“, die „der absolut falsche Ansatz war“. Am Vorabend des „Asylgipfels“ gab die SPÖ-Regierungsmannschaft klein bei. Die Koalition hat eine Obergrenze beschlossen, die sich gewaschen hat: Nur mehr 37.500 Flüchtlinge sollen 2016 in Österreich um Asyl ansuchen dürfen – 2019 gar nur mehr 25.000.

Mit dem jüngsten Einknicken des SPÖ-Parteipräsidiums ist aber der Zwist in der Koalition nicht beendet. Die ÖVP weiß, dass sie den Flüchtlingsstrom nur bis zum „Nullpunkt“ abdrehen kann, wenn man massive militärische Gewalt einsetzen würde. Einig ist man sich einzig darin, die „Attraktivität als Zielland“ für Schutzsuchende zu senken – durch Kürzung der Mindestsicherung für Asylwerber_innen, Zerschlagung des Rechts auf Familiennachzug („Asyl auf Zeit“), „Wartezentren“ an der Grenze, Obergrenzen und verstärkte Abschiebungen. Faymann gesteht selbst, dass dies alles „nur Notlösungen“ seien und spricht nur von „Richtwerten“.

Menschenrechte außer Kraft

Menschenrechte sollen ab sofort nur mehr jenen gewährt werden, die die Regierung für würdig erachtet. Die Rechtslage ist eindeutig: Obergrenzen widersprechen dem universellen Menschenrecht auf Asyl und geltendem EU-Recht. „Immer wenn jemand asylberechtigt ist, hat er nach dem Unionsrecht das Anrecht darauf, als Flüchtling anerkannt zu werden“, erklärte der Präsident des Europäischen Gerichtshof der Europäischen Union (CVRIA), Koen Lenaerts. „Das ist schwer vereinbar mit irgendeiner Zahl oder Obergrenze.“

Die deutsche Flüchtlingsinitiative „Pro Asyl“ stellte fest, dass mit Obergrenzen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) außer Kraft gesetzt werden. Schutzsuchende würden an der Grenze abgewiesen werden – ohne Chance auf ein faires Verfahren – und „zwischen den EU-Mitgliedstaaten hin- und hergeschoben werden“, warnte der Rechtsexperte des Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR), Hendrik Cremer: Die EMRK verbiete „ausdrücklich die Zurückweisung oder Abschiebung von Menschen, bei denen das Risiko besteht, dass sie dadurch einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Folter ausgesetzt werden.“

Empörung ist riesig

Die Front gegen Obergrenzen zieht sich durch alle demokratischen Parteien, Initiativen und NGOs. SPÖ-Stadträtin Sonja Wehsely meint, eine Obergrenze stehe „Haltung, Anstand und Solidarität“ diametral entgegen. „Wer Obergrenzen einführt“, schreibt die Sozialistische Jugend (SJ), „wird schon bald hilfsbedürftige Menschen abweisen und ihrer Not und dem möglichen Tod überlassen.“ In dieselbe Kerbe schlägt der Verband Sozialistischer Student_innen (VSStÖ): „Obergrenzen töten! … Es kann nicht sein, dass die SPÖ blind dem asylpolitischen Irrweg der ÖVP folgt.“

Die Vorsitzende der Fraktion Sozialdemokratischer GewerkschafterInnen (FSG), Carina Köpf, fordert stattdessen Obergrenzen für Vermögenszuwächse: „Wenn die 62 reichsten Menschen der Welt mehr Geld haben als der Rest der Weltbevölkerung, dann braucht man sich nicht wundern, dass der ärmere Rest sich auf den Weg macht.“ Faika El-Nagashi, Intergrationssprecherin der Wiener Grünen, sagt: „Wir müssen die Fluchtursachen bekämpfen, nicht die Flüchtlinge.“ Die Plattform für eine menschliche Asylpolitik fordert ein klares Bekenntnis zur Willkommenskultur und ein Nein zu Obergrenzen.

Internationale Solidarität statt Obergrenzen

„Haben wir die vielen toten Menschen im Mittelmeer schon vergessen, die erstickten Flüchtlinge auf der Autobahn in Österreich?“

(Erich Fenninger, Volkshilfe)

Der von der ÖVP ernannte Flüchtlingskoordinator Christian Konrad erteilt Obergrenzen eine Absage: „Es kann nicht sein, dass wir ab einer bestimmten Grenze keine Asylbewerber mehr aufnehmen.“ Wer jetzt nach Obergrenzen und Zäunen verlangen würde, meint Caritas-Präsident Michael Landau, „dem sei gesagt: Es gibt nur ein Maß, die Maßeinheit Mensch“. Als „völlig verfehlt, um nicht zu sagen geschmacklos“, bezeichnete Volkshilfe-Geschäftsführer Erich Fenninger die Debatten um Obergrenzen: „Haben wir die vielen toten Menschen im Mittelmeer schon vergessen, die erstickten Flüchtlinge auf der Autobahn in Österreich?“

Das Rote Kreuz forderte die Regierungsparteien auf, die Auseinandersetzung um Obergrenzen zu beenden und kritisierte, dass die Zivilgesellschaft – die bislang ehrenamtlich mit riesiger Opferbereitschaft die Versorgung von Flüchtlingen sichergestellt hat – gar nicht in die Vorbereitungen des Asylgipfels mit eingebunden war. Vor dem Gipfel erteilte auch eine Bürgermeister-Konferenz der größten Landeshauptstädte „Obergrenzen“ eine Abfuhr. Dieter Posch, SPÖ-Bürgermeister in Neudörfl im Burgenland, dazu: „Die Stimmung, die mit Obergrenzen erzeugt wird, führt nicht gerade dazu, dass man jetzt solidarisch herangeht und sagt, wir tragen unseren Teil dazu bei.“

SPÖ-Führung unter Druck setzen

Die rote Parteijugend ist wütend auf die SPÖ-Regierungstruppe, die laufend Versprechungen bricht und Parteibeschlüsse ignoriert. „Es kommt weder ein Zaun zu Ungarn noch ein Zaun zu Slowenien“, erklärte Bundeskanzler Werner Faymann Ende Oktober. Zwei Wochen später beschloss die Regierung den Bau eines Grenzzauns zu Slowenien. Und jetzt: „Eine konkrete Obergrenze für Flüchtlinge kann es nicht geben“, erklärte Faymann Ende Dezember. Noch vor zwei Wochen sprach sich SPÖ-Bundesgeschäftsführer Gerhard Schmid gegen Obergrenzen aus und meinte, dass man „auf unsere Grundrechte achten“ müsse. Jetzt beschließt die Regierung Obergrenzen.

Offen werden Prinzipien gebrochen. Anfang Juni bildete Burgenlands SPÖ-Chef Hans Niessl eine Koalition mit der FPÖ und fuhr über einen Bundesparteitagsbeschluss, der jegliche Regierungszusammenarbeit mit der FPÖ ausschließt, drüber. Mit der Einführung von Obergrenzen hebelt die SPÖ-Führung jetzt sogar das Parteiprogramm aus. Darin heißt es: „Außerdem treten wir für die Wahrung der Menschenrechte einschließlich des Rechtes auf Asyl im Falle der Verfolgung aus politischen, religiösen, rassischen oder sonstigen Gründen ein.“

Sichtbarer Widerstand nötig

SPÖ und ÖVP heucheln Einigkeit –  nicht zuletzt nach katastrophalen Umfragewerten, die die FPÖ mit Abstand an erster Stelle sehen. Der Zwist in der Regierung wird sich zuspitzen, wenn es der Bewegung gelingt, in die Streitigkeiten einzuhaken und den Widerspruch der Basis auf der Straße sichtbar zu machen.

Syrien: Die tiefen Wurzeln der Katastrophe

Syrien: Die tiefen Wurzeln der Katastrophe

Der Beschluss einer Obergrenze wird einfach umgeworfen, wenn sich im Frühjahr erneut hunderttausende Menschen aus Syrien und anderen Ländern auf den Weg nach Europa machen werden. Alleine letztes Jahr haben 90.000 Menschen in Österreich um Asyl angesucht – und der seither eskalierende Bombenkrieg in Syrien wird weitere Flüchtlinge erzeugen. Die vielen Menschen, die bereits geflohen sind und in den riesigen Flüchtlingslagern in Jordanien und im Libanon seit Jahren auf eine Rückkehr warten, werden versuchen sich eine neue Zukunft in Europa aufzubauen. Sorgen wir dafür, dass sie herzlich willkommen geheißen werden und organisieren wir Widerstand gegen die Unmenschlichkeit der Regierung.

Hinweis: Am 19. März finden im Rahmen des internationalen Tages gegen Rassismus in ganz Europa Solidaritätsdemonstrationen für Flüchtlinge statt. Die Plattform für eine menschliche Asylpolitik will sich an den Aktionen beteiligen und plant eine nächste Großdemonstration (nähere Infos folgen).
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.