Riot im Schanzenviertel: Woher kommt der Zorn der Jugend?

Es ist falsch bei den Jugendlichen, die sich im Hamburger Schanzenviertel der Polizei entgegen gestellt haben, von „kriminellen Gewalttätern” zu sprechen. Sie haben politische und soziale Motive für den Aufstand.
18. Juli 2017 |

Während sich die Medien nun auf die Linken stürzen und, wie der Spiegel, vom „Mob schwarzgekleideter Gewalttäter“ schreiben, der die Anwohner „ängstigt“, nutzen Politiker_innen die Ausschreitungen als Vorwand, die Grundrechte der Bevölkerung weiter einzugrenzen. Der FPÖ-Sicherheitssprecher Walter Rosenkranz freut sich über die Forderungen des Innenministers Sobotka nach Verschärfung des Versammlungsrechts und spricht von „Unterbindung von linkem Terror“.

Dass es sich bei den G20-Gegnern aber eben nicht nur um Autonome handelte, wird einfach übergangen. Den Jugendlichen, die sich an den Straßenkämpfen mit der Polizei beteiligten, wird ihre Stimme genommen. Dabei hatten sie allen Grund, sich Gehör zu verschaffen.

Schlechte Jobs

Um die Wut der Jugendlichen zu verstehen, muss man sich ihre Situation ansehen. Seit der Wirtschaftskrise und der Sparpolitik der EU steigt europaweit die Jugendarbeitslosigkeit, vielfach ist von der „Verlorenen Generation“ die Rede. Der Standard beschreibt die Situation im April 2013 so: „Grob gesprochen ist rund ein Viertel der Jugend ohne Job. Der Negativrekord ist kein Ausrutscher, sondern liegt im Trend.“ Betroffen sind vor allem südeuropäische Länder wie Griechenland und Spanien. Doch auch in Deutschland und Österreich lässt sich ein drastischer Anstieg verzeichnen.

Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen nicht besorgniserregend (Deutschland: 6,7 %, Österreich: 10,1 %), aber die Arbeitsmarktsituation der Jugendlichen spitzt sich vehement zu: viele der Jugendlichen sind in atypischen Bereichen tätig, arbeiten in schlecht bezahlten Teilzeit- oder Leiharbeitsverhältnissen und können aufgrund befristeter Verträge keine geregelte Existenz aufbauen, wie die zwei Generationen vor ihnen. Nur ein kleiner Teil kann sich eine eigene Wohnung leisten, und der Weg in ein selbstbestimmtes Leben bleibt versperrt.

Leistungsdruck

Der Druck, der auf den Jugendlichen lastet, ist enorm. Der Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier, Vorsitzender des Wiener Instituts für Jugendkulturforschung, führte eine Studie mit dem Titel „Jugend unter Druck“ an 11- bis 29-Jährigen durch.

Das Ergebnis ist erschütternd: „Heute wächst eine Generation junger Menschen heran, die ihr Leben ganz auf eine erfolgreiche berufliche Karriere, viel Geld und hohes Ansehen hin trimmt – und dabei am ständig wachsenden Leistungsdruck der neoliberalen Gesellschaft zu zerbrechen droht.“ Wer sich nicht anpasst und ständig funktioniert, bleibt auf der Strecke.

In Hamburg bot sich nun die Gelegenheit, die angestaute Wut auf dieses System nach außen zu tragen. Und das in Anwesenheit der 20 mächtigsten und gleichzeitig skrupellosesten Politiker_innen der Welt, die millionenfaches Leid in Kauf nehmen.

Polizeischikanen

Schon Wochen vor dem Gipfel ärgerten sich die Bewohner der Stadt über die übertriebene Polizeipräsenz. Der Fotograf Tim Bruening sagte im Interview mit dem Magazin Intro: „Seit Wochen kann man keinen Schritt mehr machen, ohne von der Polizei beobachtet, befragt und belästigt zu werden. Überall in der Stadt sind Kameras installiert. Dutzende Helikopter fliegen. Es gibt 20 000 Bereitschaftspolizisten in der Stadt + LKA + BKA + SEK + ausländische Unterstützung und Geheimdienste.“

Die offensive und gewaltbereite Vorgehensweise der Polizei provozierte und verstärkte den Zorn der frustrierten Jugend auf die „herrschenden Klassen“. Und das nicht zum ersten Mal.

Paris und London

Nachdem am 27. Oktober 2005 in Paris zwei Jugendliche bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei ums Leben kamen, entzündete sich ein Massenprotest. In heftigen Straßenschlachten mit der Polizei lehnte sich die junge, meist aus ehemaligen französischen Kolonien stammende Bevölkerung der Pariser Vororte, der Banlieues, über drei Wochen hinweg gegen die soziale Benachteiligung durch den Staat, gegen Rassismus und Perspektivenlosigkeit auf. Rasch breiteten sich die Ausschreitungen auch in andere Städte Frankreichs aus.

Ähnliches trug sich 2011 auch in London zu. Auslöser war die Ermordung eines schwarzen jungen Mannes, Mark Duggan, durch Polizisten. Nachdem seitens der Polizei keine Erklärungen gegeben wurden, eskalierte eine zuvor friedliche Demonstration vor dem Polizierevier. Es beteiligten sich zahlreiche Bewohner vor allem der östlichen Stadtteile Londons, welche, ähnlich wie das Hamburger Schanzenviertel, von Gentrifizierung geprägt sind. Es folgten wochenlange Aufstände.

Der Tod von Florian P.

Auch in Österreich haben die Jugendlichen tagtäglich mit solchen Missständen zu kämpfen. Einen traurigen Höhepunkt erreichten die Auswirkungen sozialer Ungleichheiten im Fall Florian P. 2009 wurde der 14-Jährige bei einem Einbruch auf eine Merkur-Filiale in Krems von der Polizei erschossen. Sein Heimat-Stadtteil Lerchenfeld ist schon lange vom ehemaligen Arbeiterviertel zum sozialen Brennpunkt geworden.

Zwei seiner Freunde gaben nach Florians Ermordung im Gespräch mit News einen Einblick in den Alltag der Jugendlichen: „Wer es sich leisten konnte, zog weg. Armut, mangelnde Bildung und zum Greifen nah die schmucke Altstadt mit den schicken Lokalen und Boutiquen. Der Zündstoff für Hass. Auf die Welt außerhalb. Die logische Folge: Lerchenfeld wurde nach und nach zu einem eigenen Mikrokosmos. Und Florian war ein Teil davon…“

Ausgeschlossen

So wie Florian P. geht es vielen Jugendlichen. Oft aus sozial benachteiligten Schichten stammend, sind die Zukunftsaussichten der Jugendlichen großteils vorbestimmt. Im Viertel, im Freundeskreis herrschen ähnliche Voraussetzungen. Dazu kamen in Florians Fall gezielte Polizeischikanen gegen ihn und seine Freunde aus Lerchenfeld. So entsteht eine Auseinandersetzung von „wir gegen die Anderen“. Die Politik nimmt die Probleme dieser sozialen Gruppe auf die leichte Schulter.

Die Erfahrung der Menschen, dass auch Wahlen nichts an ihrer Situation ändern und Wahlversprechen in der tatsächlichen Amtszeit keinerlei Bedeutung mehr zu haben scheinen, hat logischerweise die Ablehnung des Staates und des Systems zur Folge.

Deutsche Jugend ist nicht lahm

Es ist falsch, den Hamburger Kids ihre politische Motivation abzusprechen. Sie haben einfach die Gelegenheit genutzt, ihre Wut auf das kapitalistische System, in dem sie gefangen sind, auszudrücken. Und sie sind nicht die einzigen: Die Studie Generation What vom April 2017 zeigt, dass sich 39% der Österreicher zwischen 18 und 34 Jahren an Aufständen gegen die Regierung beteiligen würden. In Griechenland sind es sogar 67%.

Die Hamburger Kids, die die Schlacht gegen die Polizei gewannen

Die Hamburger Kids, die die Schlacht gegen die Polizei gewannen

Der Gastgeber des Gipfels, Deutschland, belegt in der Studie mit 37% den vorletzten Platz (vor den Niederlanden). Diese Schlusslichtposition dürfte wohl nach den Ereignissen in Hamburg noch einmal näher zu beleuchten sein. Es ist klar, die Menschen suchen nach Möglichkeiten, ihren Forderungen nachdrücklich Gehör zu verschaffen und aus der politischen Ohnmacht auszubrechen. Genau da muss die Linke jetzt anknüpfen und diesen Menschen endlich eine laute Stimme geben.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.