Warum Linke die EU ablehnen müssen
Während in Italien tausende am Coronavirus erkrankte Menschen nicht behandelt werden konnten, weil die Spitäler überfüllt waren, standen in Österreich oder Deutschland reihenweise Betten leer. Solidarische Zusammenarbeit, wie es sich die Europäische Union gerne auf die Fahnen schreibt, sieht anders aus.
Wir sehen Flüchtlinge, die – wenn sie nicht zuvor in von der EU finanzierten Konzentrationslagern, wie etwa in Libyen, eingesperrt und versklavt werden – in überfüllten Lagern wie Moria auf der griechischen Insel Lesbos in katastrophalen Zuständen verharren müssen, weil kein europäisches Land sie einreisen lassen will. Selbst nach den verheerenden Bränden, die den Menschen in Moria auch noch das Letzte genommen haben, wird die Verantwortung von Land zu Land geschoben. Was sind die europäischen Werte, an die so gern appelliert wird?
Kritik an der EU kommt meist von rechts und zielt auf eine Rückkehr rein nationalistischer Politik. Als Linke müssen wir die EU aus einer antikapitalistischen und internationalistischen Warte kritisieren.
Die EU ist weit entfernt davon, ein Friedensprojekt zu sein. Vielmehr war die europäische Integration von Anfang an ein durch und durch imperialistisches Projekt: Es ging nicht um Gemeinschaft, sondern um Ausweitung von Macht und Einfluss. Den Regeln des Kapitalismus folgend werden Krisen nach Marktinteressen, nicht nach den Interessen der Menschen angegangen.
Konkurrenz am Weltmarkt
Ein wichtiges Argument für eine europäische Gemeinschaft war, dass Deutschland als einer der flächen- und einwohnermäßig größten Staaten in Europa in Schach gehalten werden sollte. Ein Wiedererstarken Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg sollte im Interesse aller verhindert werden. Vor allem Frankreich und Großbritannien wollten den mächtigen Konkurrenten Deutschland im Zaum halten.
Ein weiterer wichtiger Grund aber war ein finanzieller: Die europäische Wirtschaft wollte auf dem Weltmarkt mitmischen. Während in den USA die Unternehmen zunehmend multinational agierten, war die Wirtschaft der einzelnen europäischen Staaten zu schwach, um auf dem globalisierten Markt zu konkurrieren. Die Rolle Deutschlands wurde so jedoch nicht geschwächt, sondern gestärkt: Deutschland wurde zum Exportmeister Europas.
Erste Schritte zur „Integration“
Auf Vorschlag des französischen Außenministers, Robert Schuman, wurde beschlossen, die deutsche und die französische Stahlproduktion einer gemeinsamen Behörde zu unterstellen (Schuman-Erklärung 1950). Aus diesem ersten Vorstoß ging 1952 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) hervor. Die ersten Mitgliedstaaten waren Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg. Großbritannien hielt sich vorerst aus dem Vertrag heraus, da es seine Hoffnungen in den Commonwealth, und damit die Herrschaft über ein riesiges koloniales Reich, setzte. Doch der Traum, neben den USA und der Sowjetunion eine dritte Weltmacht zu bleiben, zerplatzte mit dem Suez-Krieg 1956.
Anti-Kommunismus
Die Führungsmacht des globalen Kapitalismus, die USA, unterstützten das Projekt einer europäischen Integration von Anfang an. Zum einen, weil sie Europa als starken Handelspartner und Absatzmarkt brauchten. Zum anderen, weil mit einem wirtschaftlich starken Europa ein weiterer kapitalistischer Block entstand, der den USA im Wettstreit mit der Sowjetunion den Rücken stärken sollte. Während des Kalten Krieges befanden sich die beiden Blöcke – USA und Sowjetunion – in einem Systemkampf. Durch die Festigung von Kapitalismus in Europa „eroberten“ die USA Territorien, die im Kampf gegen den verhassten Kommunismus an ihrer Seite standen. Außerdem nutzten die USA den Einfluss auf die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Besatzungszonen, um dort – in unmittelbarer Nähe der Grenze zum „Osten“ – militärische Stützpunkte aufzubauen.
Dass die Zusammenarbeit mit Deutschland direkt nach dem Ende des NS-Regimes aufgenommen wurde und führende Nazis ihre Posten in Staat und Wirtschaft behalten konnten, zeigt, dass die Europäische Integration alles andere als ein antifaschistisches Projekt ist.
Vielmehr ging es darum, die kapitalistische Ordnung vor Angriffen von links zu verteidigen. Zwar war die Sowjetunion seit Stalin bereits selbst ein staatskapitalistisches System und hatte wenig mit Kommunismus – also ein von Arbeiter_innen selbstverwaltetes Zusammenleben (ab S. 30 in Bezug auf die österreichische Revolution näher erklärt) – zu tun, ideologisch hielt man im Westen jedoch nur zu gerne am Feindbild Kommunismus fest.
„Osterweiterung“
Das gilt nicht nur für die Anfangszeit der EU, bzw. deren Vorläuferorgane, sondern zieht sich bis heute durch. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurden zahlreiche osteuropäische Länder des ehemaligen „Ostblocks“ unabhängig und brauchten neue Verbündete. Die Aufnahme in die EU war jedoch nur unter der Auflage, eine Marktwirtschaft nach westlichem Vorbild einzuführen, erreichbar. Im Zuge der sogenannten Osterweiterung traten 2004 Polen, Ungarn, Slowenien, Slowakei, Tschechien, Lettland, Litauen, Estland, Malta und Zypern bei; 2007 folgten Bulgarien und Rumänien; 2013 dann Kroatien.
Bezeichnenderweise waren all diese Staaten vor ihrem Beitritt zur EU Mitglieder des maßgeblich von den USA geprägten Militärbündnisses NATO.
Die EU wurde – wie die NATO – zu einem Instrument des US-Imperialismus. Es ist absurd, zu glauben, die EU könne mit den USA, China oder Russland mithalten, sie ist ganz einfach keine eigenständige imperialistische Macht. Im Falle einer militärischen Bedrohung – etwa durch Russland, wie es in der Ukraine der Fall war – ist die EU auf Hilfe aus den USA angewiesen, sie kann keine eigene Armee stellen.
Vormarsch des Neoliberalismus
Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg waren in Europa geprägt von einer keynesianischen Wirtschaft, benannt nach der Theorie des britischen Ökonomen John Maynard Keynes. Grob zusammengefasst: Im Keynesianismus sollen Krisen des auf privater Wirtschaft aufgebauten Kapitalismus durch staatliche Investitionsprogramme abgefedert werden. Diese Strategie kann diese Krisen aber nur kurzzeitig verschieben und nicht dauerhaft aufhalten.
Chris Harman (britischer Journalist und Marxist) fasst das so zusammen: „Der Keynesianismus als wirtschaftliche Praxis (und nicht als Ideologie) wurde erst auf die Probe gestellt, als Mitte der 1970er Jahre die erste schwere Wirtschaftskrise seit 40 Jahren ausbrach – und er erwies sich als unfähig, damit umzugehen. Die Kapitalisten waren mit einer Kombination aus Rezession und steigenden Preisen konfrontiert, die als ‚Stagflation‘ bekannt ist. Die Keynesianer waren ratlos.“
Als Ablösung setzte man auf den Neoliberalismus, wie Al Campbell (University of Utah) schreibt: „Im engeren Sinne kann man sagen, dass der Kapitalismus den keynesianischen Kompromiss angesichts sinkender Profitraten aufgegeben hat, unter der Annahme, dass der Neoliberalismus seine Profit- und Akkumulationsleistung verbessern könnte.“ Die Durchsetzung des Neoliberalismus konnte nur gelingen, indem die Arbeiter_innenbewegung demoralisiert wurde. Am radikalsten geschah das in Großbritannien mit der Niederschlagung der Streiks der Bergarbeiter unter Premierministerin Margaret Thatcher oder mit dem Sturz der ersten Mitterand-Regierung (Sozialistische Partei) in Frankreich. Der 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht diente den Europäischen Gemeinschaften (EG) als Rammbock zur Durchsetzung von Neoliberalismus.
Der Vertrag von Maastricht
Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte noch eine weitere einschneidende Folge für das Wesen der EU: die Wiedervereinigung Deutschlands (bzw. die Annexion der ehemaligen DDR-Bundesländer durch die BRD). Dadurch wurde Deutschland mit Abstand zum größten Staat innerhalb der EG-Staaten und die ohnehin ständig schwelende Debatte, wie Deutschland am besten unter Kontrolle gehalten werden könne, bekam einen neuen Anstoß. Vor allem die starke DM (Deutsche Mark) war den übrigen Mitgliedsländern ein Dorn im Auge.
Es wurde daher eine gemeinsame Währung – der Euro – beschlossen. Im Vertrag von Maastricht (der gleichzeitig der Gründungsvertrag der EU als übergeordnetem Verbund der EG ist) ist die Finanzpolitik der EU-Mitgliedstaaten geregelt. Er legt ein jährliches Budgetdefizit von 3% des BIPs und eine Höchstverschuldungsquote von maximal 60% des BIPs fest – mit diesen Kriterien ist es den Staaten unmöglich, größere Kredite aufzunehmen, um z.B. Investitionsprojekte zu fördern. Der damit erzwungene Sozialabbau schaffte den idealen Rahmen für Unternehmen der EU-Staaten, die sich so leichter gegen die Gewerkschaften durchsetzen können.
Beispiel Griechenland
Dass die Durchsetzung der Maastricht-Kriterien in der Praxis höchst undemokratisch funktioniert, zeigt das Beispiel Griechenland. Der Staat wurde hart von der Finanzkrise von 2008/09 getroffen, und musste die EU (bzw. die Europäische Zentralbank, EZB) um Kredite bitten. Die EU machte jedoch drastische Sparmaßnahmen, v.a. im Sozialbereich und bei Lohnzahlungen, zur Bedingung. Diese Auflagen wurden, als die sozialistische Bündnispartei Syriza an die Regierung kam, im Vergleich zur konservativen Vorgängerregierung noch höher angesetzt. Syriza setzte eine Volksabstimmung an, bei der sich 61,3% der griechischen Bevölkerung gegen die Einhaltung des EU-Spardiktats aussprachen.
Aber demokratische Entscheidungen haben in der EU keinen hohen Stellenwert – man denke nur an den Ausspruch des damaligen deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble: „Wir können nicht zulassen, dass die Wahlen etwas ändern.“ Als Strafe und als Signal, dass der Wille der einfachen Menschen in der EU-Politik nichts zählt, wurden die Auflagen noch einmal erhöht. Die griechische Regierung lenkte schließlich ein.
Dieser Hass auf linke Politik wurde auch am Umgang mit Jeremy Corbyn nach dessen Wahl zum Vorsitzenden der Labour-Partei (Sozialdemokraten) in Großbritannien deutlich. Internationale Unternehmen drohten, im Falle einer Labour-Regierung unter Corbyn ihr Kapital aus Großbritannien abzuziehen.
Brutales Grenzregime
Während innerhalb der EU die Reisefreiheit als größte Errungenschaft gefeiert wird, schließt sie umso mehr alle Nicht-EU-Bürger_innen aus. Am grausamen Vorgehen gegen Flüchtlinge offenbart sich die menschenverachtende Politik der EU am deutlichsten.
Über Bosnien – entlang der sogenannten Balkanroute, deren Schließung sich Kanzler Kurz so rühmt – versuchen Flüchtlinge, nach Kroatien und damit in die EU zu kommen.
Aber die kroatische Grenze wird strengstens bewacht: Der Wiener Rapper Kid Pex, der regelmäßig mit SOS Balkanroute in Bosnien im Einsatz ist, erzählte gegenüber Linkswende jetzt: „Die Flüchtlinge kamen immer wieder von der kroatischen Grenze zurück, von der Polizei geschlagen, mit gebrochenen Armen und anderen Verletzungen. Wir waren sehr, sehr geschockt über das Erlebte – nur fünfeinhalb Autostunden von Wien weg.“
Die überfüllten Lager, wie etwa Moria auf der griechischen Insel Lesbos, sind ein weiteres Armutszeugnis. Kein europäisches Land ist bereit, jenseits von scheinheiliger Symbolpolitik, wie der geplanten Aufnahme von 100 Kindern in Wien, ernsthaft zu helfen – und sie berufen sich dabei auf ein extra von der EU erlassenes Gesetz: Das Schengener Abkommen besagt, dass Einreisende nur in dem zuerst betretenen Land einen Asylantrag stellen dürfen. Praktisch, wenn man nicht unmittelbar an der EU-Außengrenze gelegen ist. Zusätzlich hat die EU jede Rettungsmission im Mittelmeer eingestellt, und sie durch die militärische Abwehrorganisation Frontex ersetzt.
Lösung: offene Grenzen
Es gibt verschiedene Gründe, wieso die EU gegen Flüchtlinge hetzt und so Rassismus schürt. Dazu gehören die Spaltung der arbeitenden Bevölkerung und der Einsatz zugewanderter Arbeitskräfte als Lohndrücker: Menschen, die aus Not in ein anderes Land fliehen mussten, sind eher bereit, ihre Arbeitskraft billiger zu verkaufen. Das ist für einzelne Kapitalisten genauso wie für Staaten – da diese Interesse daran haben, für die Unternehmen ihrer Nation günstige Bedingungen zu schaffen – natürlich von Vorteil.
Der (eigentlich) linke Autor Hannes Hofbauer verdreht diesen Punkt in seinem Buch Kritik der Migration gegen die Migration an sich und gegen diejenigen, die sich für jene von den Rechten so verhasste „Willkommenskultur“ einsetzen. Sein Argument, dass – neben den im Ankunftsland gedrückten Löhnen – die abgewanderten Arbeits- und Fachkräfte in den Herkunftsländern fehlen, ist an sich nicht falsch. Aber das heißt nicht, dass Linke sich gegen Migration stellen sollen, sondern genau das Gegenteil. Linke müssen für offene Grenzen und für die aktive Solidarität aller Lohnabhängigen, unabhängig ihrer Herkunft, kämpfen.
Die „unbedarft wirkenden Ideologen der Willkommenskultur“, wie Hofbauer ziemlich herablassend schreibt, setzen sich für eine Gesellschaft ein, welche die EU vorgibt, zu sein – und in keinster Weise ist. Einer echten Gemeinschaft, oder Union, würde entsprechen: offene Grenzen; ein gemeinsames Gesundheitssystem, das tatsächlich für die Gesundheit der Menschen da ist; sofortige Maßnahmen gegen die Klimakatastrophe; Produktions- und Konsumverhältnisse, die auf die Bedürfnisse der Menschen und nicht auf Profit ausgerichtet sind… All das lässt sich innerhalb der EU nicht umsetzen. Syrizas Scheitern hat gezeigt, dass die EU nicht reformierbar ist. Es braucht eine grundlegend andere Organisierung, und die kann nur internationalistisch sein und von unten durchgesetzt werden.
Migrationspolitik der EU in Afrika Der "Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika" verspricht 1,8 Mrd. Euro für Entwicklungshilfe – in Wirklichkeit bezahlt die EU Diktatoren für die Abwehr von Flüchtlingen: • 150 Mio. Euro an den Sudan, davon 40 Mio. Euro für „besseres Management der Flüchtlingsströme“ (Bau von Internierungslagern, Geräte zur Personenerkennung usw.) • 4 Mio. Euro an Eritrea unter Diktator Isayas Afewerki • 300 Mio. Euro für die Rückführung und Rücknahme von Migrant_innen aus Europa • mehrere Mio. an international agierende Unternehmen, z.B. Civipol, eine Beratungsfirma des französischen Innenministeriums und Hersteller von Technologie für Polizei, Grenzschutz usw. • 61,5 Mio. Euro an Nordafrika, v.a. für Lager in Libyen, wo Flüchtlinge gefoltert, getötet und als Sklaven verkauft werden Quellen: Heinrich-Böll-Stiftung, Europäische Kommission