Wera Iwanowna Sassulitsch

Wera Sassulitsch war eine russische Revolutionärin, die ihr gesamtes Leben dem Kampf für die Überwindung des Kapitalismus und für eine bessere Welt widmete. Sie verfolgte ihre Ziele mit einer unverrückbaren Entschlossenheit und galt als imponierende intellektuelle Persönlichkeit.
9. Dezember 2015 |

Wera Iwanowna Sassulitsch wurde im August 1849 in Michailowka als eine von vier Töchtern in eine ärmere Adelsfamilie geboren. Nachdem ihr Vater starb, als sie drei Jahre alt war, schickte ihre Mutter sie zu Verwandten nach Bjakolow. Sie absolvierte eine Ausbildung als Lehrerin und zog nach ihrem Abschluss 1866 nach Sankt Petersburg, wo sie als Angestellte arbeitete und wo ihr Interesse für Politik und Aktivismus aufblühte.

Unter anderem unterrichtete sie Literatur für Fabrikarbeiter_innen. Bevor sie sich dem Marxismus zuwandte, war Sassulitschs Einstellung noch anarchistisch geprägt. Bereits mit 20 Jahren landete sie aufgrund ihrer Verbindungen mit dem russischen Revolutionär Sergej Netschajew und wegen „linksextremistischer“ Aktivitäten für zwei Jahre im Gefängnis. Nach ihrer Freilassung 1873 trat Sassulitsch in Kiew erstmals einer revolutionären Gruppe, den Kiewer Rebellen bei.

Die Trepow-Affäre

Ein Attentat im Jahr 1878 machte die Person Wera Sassulitsch für die Geschichte unsterblich. Als der politischer Gefangene Jemeljan Bogoljubow in der Gegenwart des St. Petersbürgermeister Alexander Trepow seine Mütze nicht abnahm, wurde über ihn die Prügelstrafe verhängt. Mehrere Revolutionäre beschlossen daraufhin, Trepow umzubringen, doch Sassulitsch kam ihnen zuvor.

Leo Trotzki: Mit dem Eispickel gegen den Stern der Revolution

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Trepow, der für die Niederschlagung der polnischen Revolution in 1830 und 1863 bekannt war, wurde von Sassulitsch angeschossen und schwer verwundet. Massive Sympathiekundgebungen haben erreicht, dass Sassulitsch von den Geschworenen freigesprochen wurde. Nichtsdestotrotz musste sie aufgrund einer Intervention des Zaren Alexander II. in die Schweiz fliehen, wo sie sich intensiv mit dem Marxismus auseinandersetzte, während sie in Russland zu einer Heldin der Arbeiter_innenbewegung wurde.

Abwendung vom Terrorismus

In der Schweiz traf Sassulitsch auf die marxistischen Theoretiker Peter Axelrod und Georgi Plechanow, mit denen sie die erste russische marxistische Gruppe, Befreiung der Arbeit, gründete. Sassulitsch kehrte ihrem bisherigem politischem Umfeld, den Narodniki, den Rücken zu. Die Narodniki setzten auf die Bauern und Bäuerinnen als revolutionäres Subjekt und auf Terrorismus als politisches Mittel den Staat zu destabilisieren.

Den Plan für einen Mordanschlag auf den russischen Zaren lehnte Sassulitsch trotz ihrer terroristischen Vergangenheit mittlerweile entschieden ab. Stattdessen konzentrierte sie sich gemeinsam mit ihren neuen Genoss_innen darauf, Werke von Marx und Engels ins Russische zu übersetzen und in ihrem Heimatland zu verbreiten. Lenin sagte einst über die Befreiung der Arbeit, dass sie „die theoretische Grundlage für die sozialdemokratische Bewegung legte und den ersten Schritt Richtung Arbeiterklassebewegung in Russland unternahm.”

Gespaltene Bewegung

Im Jahr 1899 lernte Sassulitsch Lenin kennen und schrieb gemeinsam mit Axelrod und Plechanow in der Iskra (der Funke) dem Zentralorgan der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands. Beim zweiten „Iskra-Kongress“ 1903 gingen die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Redaktion so weit auseinander, dass sie sich spaltete und Sassulitsch ausgeschlossen wurde.

Cartoon über Vera Sassulitsch: Sie erschießt den Stadthauptmann Trepov
Cartoon über Vera Sassulitsch: Sie erschießt den Stadthauptmann Trepov

Sie trat später den Menschewiki bei und war ab dann eine Gegnerin Lenins und der Bolschewiki. Nach der Revolution 1905 kehrte sie nach Russland zurück, ihr Interesse an revolutionärer Politik war jedoch mit der Zeit verschwunden.

Kein Stellvertretertum

Den Hauptteil ihres Lebens verbrachte Sassulitsch ohne Rücksicht auf ihr Privatleben einzig und allein mit dem Aufbau einer besseren Welt. Von Genoss_innen wird sie als bescheiden und schüchtern dargestellt, dafür war sie umso mehr eine entschlossene, ehrgeizige Frau. In seinen Memoiren schreibt Leo Trotzki: „Wera Iwanowna Sassulitsch stand nicht nur durch ihre heroische Vergangenheit in der vordersten Reihe. Sie besaß eine scharfsinnige Art zu denken, große, hauptsächlich historische Kenntnisse und eine seltene psychologische Intuition.“

Die internationale sozialistische Tradition

Die internationale sozialistische Tradition

Der Konflikt zwischen ihr und Lenin bestand darin, dass Sassulitsch die Arbeiter_innenklasse kaum als eigenständig agierende Gruppe ansah, kein Vertrauen in die Selbstaktivität der Arbeiter_innen entwickelte und so die Idee eines Sozialismus „von unten“ nie richtig annehmen konnte. In dieser Frage hat die russische Revolution Sassulitsch widerlegt.

 

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.