Zwei Jahre nach Ibiza: Munter dreht sich das Korruptionskarussell
Mit seinem Machtantritt 2017 verpasste Kurz der ÖVP ein pseudo-aufmüpfiges Image, die ÖVP wurde zur Bewegung Neue ÖVP. Die für Österreich so typischen Großen Koalitionen wurden beendet, die Sozialpartnerschaft wurde geschwächt und auch gegenüber der EU wurde ein konfrontativer Kurs eingeschlagen. Das bürgerliche Lager wurde durch diese Scheinrevolte aktiviert und konnte breitere Gesellschaftsschichten hinter Kurz mobilisieren. Rassismus gegen Muslime und Flüchtlinge dienen Kurz als mobilisierendes Element, wie auch zur Ablenkung von seinen eigenen Sauereien. Das neue Image der ÖVP erhält jetzt schwere Kratzer.
Kurz und Schmid
Die Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) gegen Kurz fußen auf seinen Aussagen im Ibiza Untersuchungsausschuss. In diesem hatte er erklärt, er wäre in die Bestellung von Thomas Schmid zum Vorstand der ÖBAG (Österreichische Beteiligungsgesellschaft) – sie verwaltet die Beteiligung des österreichischen Staates an Aktienunternehmen, bspw. der OMV, Post, Telekom usw. (insgesamt Unternehmenspapiere im Wert von ca. 20 Mrd. Euro) – nicht eingebunden gewesen. Er sei nur über die Bestellung informiert gewesen, habe sich aber nicht aktiv für Schmid ausgesprochen. Seit der Auswertung der SMS auf Schmids beschlagnahmten Handy wertet die WKSta diese Behauptung als Falschaussage. Aus den Chat-Protokollen geht hervor, dass Kurz und Schmid in regem Austausch über die Postenbesetzungen standen. Auf Lügen in Untersuchungsausschüssen steht eine Strafe von bis zu drei Jahren Gefängnis.
Schwarzes Netzwerk
Doch nicht nur gegen Kurz wird ermittelt. Langsam aber sicher verliert man den Überblick, gegen welche ÖVP-Politiker aktuell Ermittlungsverfahren eingeleitet werden. Eine kurze Auflistung: Finanzminister Blümel, Bernhard Bonelli, den Kabinettschef von Kurz, den ehemaligen Vizekanzler Joseph Pröll, den ehemaligen Finanzminister Hartwig Löger, den ehemaligen Justizminister Wolfgang Brandstetter und die ÖVP-Justizsprecherin Steinacker. Auch wenn bis jetzt in allen Fällen die Unschuldsvermutung gilt, die Ermittlungen zertrümmern das aufmüpfige Image der neuen ÖVP. Postenschacher, Parteibuchwirtschaft, illegale Parteispenden, Korruption: es sind dieselben Vorwürfe, die österreichische Politik seit Jahrzehnten prägen.
ÖVP will Justiz schwächen
In der ÖVP denkt niemand an Rücktritt, schon gar nicht Kurz. Die ÖVP sucht ihr Heil im Angriff und versucht die Glaubwürdigkeit der Justiz insbesondere der WKStA zu untergraben. Wolfgang Sobotka forderte die Wahrheitspflicht in U-Ausschüssen abzuschaffen. Ohne der Wahrheitspflicht gäbe es keine Ermittlungen gegen Kurz. Finanzminister Blümel weigerte sich bis zu einem Urteil des Verfassungsgerichtshofes dem U-Ausschuss wichtige Akten zur Verfügung zu stellen.
Sechs Tage nach Bekanntwerden des Ibiza-Videos schredderte ein Mitarbeiter von Kurz unter falschen Namen Festplatten. Der Gipfel dieser Verschleierungsversuche ist die Weigerung der ÖVP – mit Unterstützung der Grünen – den Ibiza-Untersuchungsausschuss zu verlängern. Die Rechtfertigung der Grünen, es könnte jederzeit ein neuer Ausschuss von der Opposition verlangt werden, ist pure Heuchelei. Die Opposition kann zwar einen neuen Ausschuss starten, doch alle Akten des bisherigen U-Ausschusses würden vernichtet werden und die Arbeit müsste von Neuem beginnen.
Die Angriffe der ÖVP schwächen gleichzeitig die Justiz und mobilisieren die konservative Basis gegen die SPÖ. Ein „rotes Netzwerk“ von Staatsanwälten hätte sich gegen Kurz verschworen. Es könne ihm egal sein, ob er angeklagt oder verurteilt würde, dahinter stecke eine rote Verschwörung. Gerade in Zeiten zunehmender Skepsis gegen politische Parteien und staatliche Institutionen kann diese Gleichsetzung von „Rot“ und „Korruption“ seine Anhängerschaft mobilisieren.
Krise der Politik
Seit Ende der 70er-Jahre erleben wir einen Trend des zunehmenden Vertrauensverlustes in politische Parteien. Besonders krass lässt sich dies anhand der Mitgliederzahlen von SPÖ und ÖVP rekonstruieren. 1970 erreichten SPÖ und ÖVP ihren Höchststand an Parteimitgliedern mit jeweils 720.000 Mitglieder. 2017 verfügt die ÖVP noch über 500.000 Mitglieder, die SPÖ über 180.000. Auch die Wahlbeteiligung sinkt konstant. 1970 lag sie noch bei 91%, mittlerweile zwischen 70 und 80% . Bestätigt werden diese Trends durch einen fortwährenden Vertrauensverlust in politische Parteien. Aktuell geben beindruckende 65% der Bevölkerung an, dass sie politischen Parteien generell nicht trauen.
In die 70er-Jahre fällt die zunehmende Auflösung des österreichischen Wohlfahrtsstaats und die schrittweise Durchsetzung neoliberaler Politik. Der Neoliberalismus bildet die politische und ökonomische Grundlage für das sinkende Vertrauen in die Politik. Die reformistische Vorstellung, dass politische Gesetzgebung das Leben der einfachen Menschen verbessern könne, wird immer weniger geteilt.
Der österreichische Demokratie Monitor 2020 des Umfrageinstitutes Sora zeigt ebenfalls: das Misstrauen ins politische System ist riesig. Im ökonomisch schwächsten Drittel der Bevölkerung sind über 50% der Meinung, dass das politische System in Österreich nicht gut funktioniert. Im oberen ökonomischen Drittel glauben noch 78%, das politische System funktioniere gut. Noch massiver kommt der Vertrauensverlust bei der Frage „Politik behandelt mich als Mensch zweiter Klasse“ zum Ausdruck. 73% des unteren Drittels stimmen dieser Aussage zu. An dieser Frage kann man sehen, dass nicht nur ausbleibende ökonomische Verbesserungen das Misstrauen in die Politik schüren, sondern auch gesellschaftliche Diskriminierungen. Gerade Migrant_innen werden von Staat und Politik tagtäglich als Menschen zweiter Klasse behandelt.
Das gerade ökonomisch schlechter gestellten Menschen dem politischen System misstrauen ist nicht überraschend. Zentraler linker Kritikpunkt an der parlamentarischen Demokratie ist, dass ihr politisches Gleichheitsversprechen eine Lüge ist, solange ökonomische Ungleichheit regiert.
Systempartei gegen das System
Charakteristisch am Aufstieg von Sebastian Kurz 2017 war, dass er sich von seiner Partei abgrenzte. Inspiriert hatte ihn dazu der französische Präsident Macron, der ebenfalls als Führer einer „Bewegung“ antrat und in seinen Reihen Konservative, „Experten“ und abtrünnige Sozialdemokraten versammelte. Amüsanterweise ist auch Macrons Amtszeit von unterschiedlichsten Korruptionsskandalen überschattet.
Auch Sebastian Kurz spielte mit den Begriff der Bewegung, änderte die Farbe der ÖVP von Schwarz zu Türkis und verpasste sich ein aufmüpfiges Image gegen die Altparteien. Anziehend wurde er mit dieser Strategie gerade für die überzeugten Gegner der Sozialdemokratie. Endlich wieder ein Konservativer, der nicht auf Ausgleich mit den Roten setzt, sondern sie zerstören will. Sowohl 2017 als auch 2019 stellte sich bei den Nachwahlbefragungen heraus, dass die ÖVP primär aufgrund ihres Spitzenkandidaten gewählt wurde. Die Glaubwürdigkeit der Partei war kein Wahlmotiv.
Obwohl die ÖVP/FPÖ-Koalitionsregierung alle althergebrachten Klischees über Politiker, die bestechlich sind und die Medien kaufen wollen, bestätigte, konnte er 2019 erneut mit dem Anti-Establishment Image antreten. Die Wahlkampfslogans von Kurz 2019 „Rot-Blau hat bestimmt. Das Volk wird entscheiden. Unser Weg hat erst begonnen“ oder „Die Veränderung hat erst begonnen“, spiegeln den Wunsch nach politischer Veränderung.
Das Kunststück der Kurzschen Politik ist zu suggerieren, er wäre eine andere Art von Politiker. Die Korruptionsermittlungen bestätigen aber, Kurz ist nicht eine andere Form von Politiker, sondern einfach ein besonders widerlicher klassischer Politiker. Kurz verdankt seinen Erfolge nicht irgendwelchen rhetorischen Zaubertricks, sondern der Schwäche der Sozialdemokratie.
Schwäche der Gegner
Seit ihrem Bestehen hat die Sozialdemokratie das zwanghafte Bedürfnis, sich Bürgertum und Staatsapparat als vertrauensvoller Partner, der zwischen den Interessen von Arbeiter_innen- und Kapitalistenklasse vermitteln kann, anzubiedern. Diese unbedingte Treue der Sozialdemokratie zum System und ihre standhafte Weigerung die ÖVP und ihre Unterstützer, die Kapitalisten, zu konfrontieren, erklären das „Phänomen Sebastian Kurz“.
Kurz muss nicht mehr tun, als seine Gegner vorzuführen und erreicht so zweierlei: Er demobilisiert die Wähler der Sozialdemokratie, die sich für die Zahnlosigkeit ihrer Partei genieren, und seine Basis dankt ihm jeden Triumph über den Gegner. Seit dem 12-Stunden-Tag, dem Ibiza-Skandal und jetzt den Korruptionsermittlungen verpasste die SPÖ Chance um Chance, sich als harte Oppositionspartei gegen die Regierung darzustellen. Was der SPÖ schadet, ist nicht die viel beschworene Differenz zwischen sozialen (Löhne, Mieten, Arbeitszeit usw.) und gesellschaftlichen Themen (Antirassismus, Flüchtlingssolidarität, Frauenrechte usw.), sondern dass sie bei keinem dieser Themen mehr Kampfeswillen aufbringt, als Presseaussendungen zu schreiben.
Solange die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften in solch einer passiven Haltung verharren, kann es Kurz weiterhin gelingen, sich als Anti-System-Alternative darzustellen.
Kann sich Kurz halten?
Es ist damit zu rechnen, dass die aktuellen Ermittlungen zu einer Anklage und einem Gerichtsprozess gegen Kurz führen. Jedoch: Wenn wir ehrlich sind, dann ist niemand davon überrascht, dass Posten in der Politik nicht aufgrund von Qualifikationen, sondern aufgrund persönlicher Bekanntschaften vergeben werden. Gerade die konservativen Gegner der SPÖ werden auf das „es war schon immer so“ Argument setzen. Wenn Kurz seine Erzählung – die Altparteien können mich demokratisch nicht besiegen, darum müssen sie jetzt auf die Justiz zurückgreifen – weiterspielt, ist es möglich, dass er Anklage und Gerichtsverfahren unbeschadet überlebt. Beispielsweise gelingt es dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu trotz reihenweiser Korruptionsskandale wiedergewählt zu werden und auch Berlusconi überlebte mehre Verurteilungen. Wie Kurz sprach auch er davon, dass die Justiz von Linken unterwandert sei und ihn deshalb stürzen wollte, während das Volk zu ihm steht.
Zwei Wege
Die entscheidende Frage für die kommende Zeit wird sein, ob es der Linken gelingt, das vorhandene Misstrauen ins System für sich zu nutzen. Dieses Misstrauen ist überwiegend gerechtfertigt, wie die Korruptionsskandale zeigen. Es reicht aber nicht, dieses Misstrauen nur zu bestätigen, sondern es muss auch gelingen, eine glaubhafte Alternative zum Status quo aufzubauen. Für diese Alternative wird es nicht reichen, sich nur als weniger korrupt und gerechter darzustellen. Was es vor allem braucht, ist eine kämpferische Politik, eine Ende des Zurückweichens gegenüber rechten Angriffen. Ob bei Sozialfragen oder der Solidarität mit Flüchtlingen: nur durch eine konsequente Opposition gegen die ÖVP, und einem aktiven Kampf gegen Staat und Kapitalismus, wird die Linke zu einer glaubhaften Alternative werden.
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