Die Arbeiterklasse im 21. Jahrhundert

Wenn Marxist_innen heutzutage von der Arbeiter_innenklasse als revolutionärem Subjekt sprechen, ernten sie oft nicht mehr als ein müdes Lächeln. „Die Welt ist viel komplexer geworden, als das simple marxistische Klassenschema“, heißt es oft. Aber Marx’ Analyse ist heute noch aktuell und nötig, um die kapitalistische Gesellschaft zu verstehen und zu überwinden.
24. September 2018 |

Die Arbeiter_innenklasse gäbe es nicht mehr, revolutionär sei an ihr schon gar nichts, darin sind sich beinahe alle Sozialwissenschaftler_innen einig. Der viel gefeierte und politisch rechts stehende Soziologe Helmut Schelsky argumentierte schon 1953: von Klassen und Klassenkonflikten zu sprechen sei vollkommen veraltet. Wir würden in einer „nivellierten (sich angleichenden) Mittelstandsgesellschaft“ leben, in dieser sei sozialer Aufstieg für alle möglich. Anstatt Klassenkampf würden Arbeitnehmer_innen und Unternehmer zusammenarbeiten und ganz im Sinne des CDU Politikers Ludwig Erhard „Wohlstand für alle schaffen“. Schelsky verwirft den Begriff der Klasse und spricht von dynamischen Schichten, die sich über das Einkommen definieren.

Um einiges klüger aber inhaltlich relativ ähnlich argumentiert der linke Soziologe Ulrich Beck in seinen Büchern Risikogesellschaft (1986) und Jenseits von Stand und Klasse (1994): Wir würden die Auflösung der Industriegesellschaft erleben. Der „Wohlfahrtsstaat“, der die 1960er-Jahre prägte, öffnete Universitäten für Arbeiterkinder, die dank des wirtschaftlichen Aufschwungs die Möglichkeit hatten, in bessere Berufe (bspw. Dienstleistungsberufe) als ihre Eltern aufzusteigen.

Auf Frankreichs Straßen tobt der Klassenkampf: Ein Hintergrundbericht

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Deshalb hätten sich die Arbeiter_innen nicht mehr als Teil einer kollektiven Klasse begriffen, sondern würden darauf vertrauen, dass jeder für sich mithilfe des Staates sozialen Aufstieg schaffen könnte. Diesen Prozess beschrieb Beck als „Individualisierung“. Mit dem Einsetzen des neoliberalen Kapitalismus würde diese „Individualisierung“ den Menschen zum Verhängnis werden, denn wir würden „eine Rückkehr sozialer Unsicherheit auf individueller wie auf struktureller Ebene“ erleben.

Während die Hoffnung auf sozialen Aufstieg in den 1960er-Jahren noch begründet war, ist sie ab den 1980er-Jahren zum nicht erfüllbaren Traum geworden. Beck sieht keine Möglichkeit, diese Individualisierung umzukehren, sondern sie verstärkt sich weiter.

Marx und Klasse

Marx definiert im Gegensatz zu den oben zitierten Soziologen die Arbeiter_innenklasse weder über das Einkommen, noch unterscheidet er juristische Definitionen wie in Arbeiter und Angestellte. Genauso wenig geht es ihm darum, ob Arbeiter_innen materielle Waren herstellen. Klasse ist für Marx eine soziale Beziehung, die sich aus der Stellung zu den Produktionsmitteln (Maschinen, Fabriksgebäude, usw.) ergibt.

Die Arbeiter_innen besitzen keine Produktionsmittel und haben auch keine anderen Möglichkeiten, Profite zu erwirtschaften, bspw. durch geerbtes Geld, das in Aktien investiert wird. Darum sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen. Arbeit ist ihre einzige Möglichkeit nicht zu verelenden!

Der bislang größte Streik der Weltgeschichte: am 2. September 2016 streikten in Indien 180 Millionen Menschen © IndustriALL

 

Sobald sie ihre Arbeitskraft verkaufen, werden sie ausgebeutet, das bedeutet sie erhalten weniger vom produzierten Wert als Lohn, als sie mit ihrer Arbeit für den Kapitalisten erzeugen. Die soziale Beziehung zwischen Arbeiter_innen und Bossen beruht auf einem systemimmanenten Konflikt, den wir als Klassenkampf bezeichnen, der auch unabhängig vom individuellen Bewusstsein der Beteiligten stattfindet. Die Konzernchefs versuchen permanent ihre Ausbeute am produzierten Wert zu erhöhen, die Arbeiter_innen hingegen, sich gegen das Mehr an Ausbeutung zu wehren.

In allen Klassengesellschaften mussten die unterdrückten Klassen für die herrschende arbeiten. Im Kapitalismus aber sind die Arbeiter_innen nach Marx doppelt frei: sie können, im Gegensatz zu leibeigenen Bauern im Feudalismus, frei darüber entscheiden, an wen sie ihre Arbeitskraft verkaufen. Dadurch, dass die Arbeiter_innen aber auch frei an Besitz von Produktionsmitteln sind, besteht die Freiheit der Arbeiter_innen darin, zu verelenden, wenn sie sich nicht ausbeuten lassen wollen.

Sowohl im Feudalismus als auch im Kapitalismus wird die unterdrückte Klasse ausgebeutet. Im Kapitalismus findet diese Ausbeutung aber verschleiert, vermittels Gesetzmäßigkeiten, an die sowohl Kapitalisten als auch Arbeiter_innen gebunden sind, statt.

Arbeiterklasse in Österreich

Vom internationalen Standpunkt aus betrachtet, ist die These vom Verschwinden der industriellen Arbeiter_innenklasse blanker Unsinn. Laut der International Labour Organization (ILO) war 2013 das erste Jahr in der Geschichte, in dem die Mehrheit der Menschen von Lohnarbeit abhängig war. Auch für Österreich lässt sich nicht sagen, dass die Industriearbeiter_innen irrelevant werden. Auch ein Verschwinden der Arbeiter_innenklasse lässt sich nicht feststellen.

71% der lohnabhängigen Österreicher_innen sind im Dienstleistungssektor beschäftigt, 25% im Produktionsbereich und gerade einmal 3,9% in der Landwirtschaft. Im Jahr 1973 waren der Dienstleistungssektor und der Produktionssektor noch ausgeglichen. Insoweit haben Beck und Co Recht.

Aber der Rückgang der industriellen Produktion ist nicht darauf zurückzuführen, dass industrielle Produktion unwichtig wird. In Österreich waren nie mehr als 40% der Beschäftigten im Produktionsbereich tätig. Laut dem britischen Marxisten Joseph Choonara waren zu keinem Zeitpunkt der kapitalistischen Entwicklung, in irgendeinem Land deutlich mehr als 50% in der Industrie beschäftigt!

Die österreichischen Industriearbeiter_innen sind heute viel produktiver als noch vor 50 Jahren. Das bedeutet, sie stellen in derselben Zeit mehr Produkte her. Alleine zwischen 2008 und 2017 stieg die Produktivität der Industriearbeiter_innen um 15%. Von 1993 bis 2013 stieg die Produktivität um gigantische 36%.

Daraus folgt, dass die Industriearbeiter_innen heute viel mächtiger sind als noch vor 20 Jahren. Einige wenige von ihnen können durch einen gezielten Streik ganze Produktionsketten lahmlegen. Im Jahr 2009 gelang es einigen Boeing-Arbeiter_innen, die gesamte Produktion lahmzulegen. Der Streik kostete das Unternehmen 100 Millionen Euro pro Tag!

Gegen Beck und Co müssen wir grundsätzlich einwenden, dass Marx die Arbeiter_innenklasse anhand ihrer Stellung zu den Produktionsmitteln definiert. Darum lässt sich die Unterscheidung in einen Dienstleistungs- und einen Produktionssektor nicht durchgehend aufrechterhalten.

Vor der Demo gegen den 12-Stunden-Tag fanden in ganz Österreich Betriebsversammlungen statt. Hier bei der MA 48 in Wien © ÖGB

Das gesamte Transportwesen fällt in den Dienstleistungssektor, obwohl es industriell erzeugte Produkte sind, die transportiert werden. LKW-Fahrer_innen sind also sehr wohl produktive Arbeiter_innen. In seinem Hauptwerk, dem Kapital, stellt Marx fest, dass es dem Kapitalisten egal ist, ob er sein Geld in einer „Wurstfabrik“ oder einer „Lehrfabrik“ (Schule) anlegt – in beiden Fällen geht es ihm darum, Profit zu erwirtschaften. Ob er diesen erreicht, indem seine Arbeiter_innen Kinderköpfe oder Fleisch bearbeiten, ist komplett irrelevant.

Neue Mittelklasse

Der britische Marxist Alex Callinicos ergänzt diese Definition der doppelt freien Arbeiter_innen noch um eine dritte Kategorie, nämlich, dass die Arbeiter_innen im Kapitalismus der permanenten Kontrolle und Überwachung des Kapitals ausgesetzt sind. Diese permanente Kontrolle und Überwachung hat das Ziel, die Arbeiter_innen zu disziplinieren, ihnen wurde jede Macht über den Arbeitsprozess genommen.

Diese Disziplinierung wurde ursprünglich vom Kapitalisten selbst geleistet. Im Zuge der kapitalistischen Entwicklung wurden Unternehmen aber immer größer, darum benötigte der Kapitalist Menschen, welche die Überwachung für ihn leisten konnten. Heutzutage sind das Manager, Bereichsleiter, usw. Diese sind zwar auch lohnabhängig, aber sie kontrollieren den Arbeitsprozess im Auftrag der Kapitalisten, darum gehören sie nicht zur Arbeiter_innenklasse, aber auch nicht zur Bourgeoisie. Callinicos beschreibt sie als „neue Mittelklasse“.

Der Unterschied zwischen der neuen Mittelklasse und der Mittelschicht ist wichtig. Callinicos definiert die neue Mittelklasse über ihre Stellung im Produktionsprozess, Soziologen definieren Mittelschicht über hohe Bildung und gutes Einkommen! Objektiv betrachtet ist ein ausgebildeter Akademiker mit hohem Einkommen, der keinerlei Kontrolle über den Einsatz seiner Arbeitskraft hat (etwa ein Programmierer) Teil der Arbeiter_innenklasse. Ein Filialleiter mit Matura und mittlerem Einkommen, der die Arbeit anderer überwacht, ist Teil der neuen Mittelklasse. Für Beck und Co wären beide Mittelschicht.

Abhängig von Arbeitern

Marx beschreibt das Kapital als Vampir, der den Arbeiter_innen das Blut aus dem Körper saugt. Die Metapher ist treffend gewählt. Arbeiter_innen werden nicht nur ausgebeutet, sondern genauso wie der Vampir abhängig von Blut ist, sind die Kapitalisten abhängig von der Arbeitskraft. Das ist der entscheidende Punkt, wieso Marxist_innen die Arbeiter_innenklasse ins Zentrum ihrer Theorie rücken. Nicht weil Arbeiter_innen am meisten unter dem Kapitalismus leiden, sondern weil sie den Kapitalismus am Laufen halten und ihn auch zum Stillstand bringen können.

Das ist auch der Unterschied zwischen Ausbeutung und Unterdrückung. Menschen, die beispielsweise aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert werden, erwächst aus dieser Diskriminierung keine Macht. Arbeiter_innen aus ihrer Ausbeutung schon. Der Kapitalist ist von den Arbeiter_innen abhängig, der Rassist ist wirtschaftlich nicht von den Farbigen abhängig.

Wie wird Klasse revolutionär?

Die etwas gewitztere Form, die Arbeiter_innenklasse für irrelevant zu erklären, ist zu sagen, sie existiere zwar noch, aber sie habe kein revolutionäres Interesse mehr. So argumentiert etwa der radikale Theoretiker Herbert Marcuse in seinem Werk Versuch über die Befreiung (1969). In der entwickelten Industriegesellschaft, die er mit dem Wohlfahrtsstaat identifiziert, wäre die Arbeiter_innenklasse vollständig in das „Bestehende integriert“ worden.

Die Arbeiter_innenklasse blieb für ihn (zumindest in diesem Werk) die objektiv revolutionäre Klasse, ihre Selbstwahrnehmung als revolutionär bliebe aber an „Katalysatoren außerhalb ihrer Reihen gebunden“. Damit meint Marcuse, Kämpfe von diskriminierten Gruppen müssten die Arbeiter_innen aufwecken.

Die Blockade der Raffinerie am Port 8 in Gonfreville-L’Orcher in Le Havre zeigt die Macht der Werktätigen. Während der Streikwelle in Frankreich 2016 wurden alle acht Öl-Raffinerien bestreikt bis den Autos der Sprit ausging. © CGT

 

Marcuse hat insofern Recht: wenn wir heute zum Generalstreik, bewaffneten Aufstand und zur Herrschaft der Arbeiter_innenklasse aufrufen, würden wir ignoriert werden. Die herrschende Klasse betreibt vermittels Ideologie einen gigantischen Aufwand, um zu verhindern, dass Arbeiter_innen ihre revolutionären Interessen wahrnehmen.

Am offensichtlichsten sind Diskriminierungsformen wie Rassismus und Sexismus, die den Zweck erfüllen, die Arbeiter_innenklasse zu spalten. Aber die Ideen, die Menschen im Kopf haben, sind nichts Unveränderliches. Angelehnt an Marx sollten wir die Arbeiter_innen als „Klasse an sich“ und als „Klasse für sich“ unterscheiden.

Die „Klasse an sich“ definiert sich, wie oben gezeigt, anhand der Stellung im Produktionsprozess. Zur „Klasse für sich“ entwickeln Arbeiter_innen sich, wenn ihnen durch die Erfahrung aus Massenstreiks bewusst wird, dass die Ausbeutung nicht einfach eine Ungerechtigkeit ist, sondern kollektiv bekämpft werden kann.

Zum 200. Geburtstag von Karl Marx: Der wichtigste Revolutionär aller Zeiten!

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Im Kapitalismus sind die „herrschenden Ideen die Ideen der herrschenden Klasse“, sagt Marx. Diese Ideen können auf zwei Arten ins Wanken kommen. Einerseits führen ökonomische Krisen zur Hinterfragung alter Ideen, andererseits und entscheidender werden diese in sozialen Kämpfen und Streiks hinterfragt.

Auf diese Art und Weise kann die „Individualisierung“ überwunden werden. Die deutsche Sozialistin Rosa Luxemburg beschrieb diesen Prozess in ihrem Text Massenstreik, Partei und Gewerkschaften anhand der russischen Streikbewegung von 1905. Ein kleiner Streik gegen die Entlassung zweier Arbeiter führte dazu, dass sich in ganz Russland Menschen mit dem Streik solidarisierten und in den Streik traten.

Sie alle kannten aus ihrer alltäglichen Erfahrung die Angst vor Kündigung. Die russischen Arbeiter_innen begriffen sich nicht mehr als vereinzelte Individuen, sondern als eine kollektive Klasse, die das gesamte Land lahmlegen kann. Durch dieses Erleben der eigenen Kraft wurden sie zu einer revolutionären Klasse, die sich nicht mehr auf Gewerkschaftsbürokratie oder Reformismus verlassen wollte.

Klasse und Unterdrückung: Schwule und Lesben solidarisierten sich mit dem britischen Minenarbeiterstreik 1984-85 © Commons

 

In der Geschichte kommt es immer wieder zu Momenten, in denen Arbeiter_innen mit den Ideen der Herrschenden brechen. Während des englischen Bergarbeiterstreiks 1984-85 solidarisierten sich etwa Arbeiter_innen mit den Kämpfen der Schwulen- und Lesbenbewegung. Während Marcuse die „Integrierung“ der Arbeiter_innenklasse überbetonte (er schrieb im Angesicht von Wohlfahrtsstaat – nicht Neoliberalismus und Krise wie heute), und den Arbeiter_innen ein revolutionäres Bewusstsein vermittels studentischer Kämpfe beibringen wollte.

Dagegen sollten wir betonen: Kämpfe gegen Diskriminierung sind immer auch Kämpfe der Arbeiter_innenklasse.
Eine „Klasse für sich“ kann nur aus den eigenen Erfahrungen der Arbeiter_innen entstehen und nicht von außen geschaffen werden. Oder wie Marx es formuliert: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“