Auf Frankreichs Straßen tobt der Klassenkampf: Ein Hintergrundbericht

Jugendliche, Arbeiter_innen und Studierende rebellieren gegen ein neues Arbeitsgesetz der sozialdemokratischen Regierung von François Hollande. Es ist die massivste Protestbewegung seit Jahren: Über eine Million Menschen demonstrierten, in hunderten Fabriken wird gestreikt, Plätze werden besetzt und gegen die Polizei verteidigt.
31. Mai 2016 |

Das geplante Gesetz ist ein Frontalangriff auf alle von der Arbeiter_innenklasse erkämpften Rechte. Es bedeutet faktisch die Aufhebung des Kündigungsschutzes, der normale Arbeitstag soll von sieben auf zwölf Stunden verlängert werden und der Überstundenzuschlag soll von 25% auf 10% gekürzt werden.

Präsident Hollande wollte das neue Gesetz unter dem Schutz des Ausnahmezustandes, der seit den Anschlägen vom 13. November 2015 herrscht, rasch einführen. Durch den Ausnahmezustand kann jede Form von öffentlichem Protest verboten werden. Die französische Regierung nützte den Ausnahmezustand bereits, um die Proteste gegen den Weltklimagipfel klein zu halten. Wohnungen von linken Aktivist_innen wurden mit vorgehaltener Waffe gestürmt und hunderte Linke wurden unter Hausarrest gestellt.

Arbeiter und Studierende

Wenige Stunden nach Bekanntwerden des neuen Gesetzesvorschlags verbreitete sich in den sozialen Netzwerken unter dem Hashtag #OnVautMieuxQueÇa („Wir sind mehr wert als das“) eine Welle der Empörung. Auch die führenden Gewerkschaften in Frankreich begannen gegen das Gesetz zu mobilisieren.

Für den 31. März wurde in ganz Frankreich zu Streiks und Demonstrationen aufgerufen. In hunderten Fabriken wurde gestreikt und 1,2 Millionen Menschen marschierten gegen das neue Arbeitsgesetz. Zu der Demonstration hatten die führenden Gewerkschaften und Studierendenorganisationen aufgerufen.

Im Anschluss gingen die Menschen nicht einfach nach Hause, sondern besetzten unter dem Slogan Nuit Debout („Die Nacht, in der wir aufstehen“) Plätze in Frankreich. Das Zentrum der Proteste ist Paris mit dem Platz der Republik, oder Platz der Kommune, wie sie von den Besetzer_innen in Anlehnung an die Pariser Kommune 1871 genannt wird.

Nuit Debout

Die Besetzungen passierten relativ spontan. Zwar  hatte die linke Zeitung Fakir dazu aufgerufen, nach der Demonstration Plätze zu besetzen, doch niemand hatte erwartet, dass so viele Menschen dies auch tun würden. Mittlerweile finden auf mehr als sechzig Plätzen in ganz Frankreich Nuit Debout-Meetings statt.

Auf den Plätzen werden nächtelange Diskussionen über unterschiedlichste Themen abgehalten: von konkreten Fragen, wie es weiter gehen soll über feministische und ökologische Themen bis hin zur Frage, wie man die Arbeiter_innenklasse stärker in die Bewegung einbinden kann. Über alles wird diskutiert. Das alles passiert basisdemokratisch, jede kann eine gewisse Zeit lang reden und Vorschläge unterbreiten, über die dann abgestimmt wird.

Den ersten großen Auftritt hatte Nuit Debout am 42. März (nachdem die Protestbewegung am 30. März entstanden ist, wurde beschlossen, einfach den Monat März weiter zu zählen) als hunderte Demonstrant_innen ein Picknick vorm Präsidentenpalast abhalten wollten. Der Polizei war das aber gar nicht recht, weshalb es zu Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstrant_innen kam.

Klare antirassistische Haltung

Im Gegensatz zu Protestbewegungen wie Occupy oder M15 (die spanische Protestbewegung) ist Nuit Debout aus Massendemonstrationen der Arbeiter_innenklasse entstanden. Das spiegelt sich im unglaublich hohen politischen Bewusstsein der Bewegung wieder. Genauso offen wie die Bewegung für linke Themen ist, genauso klar grenzt sie sich von rechtem Gedankengut ab.

Als sich der reaktionäre Front National-„Intellektuelle“ Alain Finkielkraut die Bewegung anschauen wollte, wurde er sehr unsanft des Platzes verwiesen. Seitdem heulen er und seine Front National-Kameraden bei jeder Gelegenheit über den „Zustand der Anarchie, der auf Frankreichs Plätzen ausgebrochen ist“. Ähnlich erging es auch verschiedenen Verschwörungstheoretikern, die davon schwafeln, dass hinter den neuen Gesetzten die jüdische Finanzlobby stecke.

Auch die Versuche der Regierung, die altbekannte Islamfeindlichkeit der französischen Linken gegen die Bewegung auszuspielen, scheiterten kläglich. Premierminister Valls forderte ein Kopftuchverbot an Universitäten. Die Besetzer_innen reagierten mit der Gründung einer Kommission, die sich gegen Islamfeindlichkeit engagiert und versuchten ihren Protest auf die Vororte auszudehnen.

Das gelang auch: Im Pariser Banlieue Saint Denis gibt es seit dem 14. April eine lokale Nuit Debout-Bewegung. Dort sind die hohe Arbeitslosigkeit und die rassistische Polizei die Hauptthemen. Im Lyoner Banlieue Vauly-en-Velin blockierten Aktivist_innen den „Périphérique“, die Autobahn, die die Banlieues vom Stadtzentrum trennt. Außerdem gab es schon mehrere Nuit Debout Meetings an denen sich Flüchtlinge beteiligten.

Bewegung trotzt Repression

Einen weiteren Höhepunkt erreichte die Bewegung am 29. April, als sich mehr als eine halbe Million Menschen an rund 200 Demonstrationszügen beteiligte. Hunderte Betriebe wurden bestreikt, unter anderem Druckereien und der öffentliche Nahverkehr. Tausende Schüler_innen blockierten ihre Schulen.

Die Polizei ging mit massiver Gewalt, unter Einsatz von Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstrationen vor. Der 20-jährige Geologie-Student Jean-Francois verlor ein Auge als ihn ein Gummigeschoss im Gesicht traf. Die Polizei zielt ganz bewusst auf die Köpfe der Menschen. Der Ausnahmezustand legitimiert jede Form der Gewaltanwendung, willkürlich werden Menschen verhaftet und in Gefängnisse gesteckt. Doch auch davon lassen sich die Demonstrant_innen nicht aufhalten und wehren sich. Immer wieder werden Barrikaden errichtet und Polizeistationen mit Steinen regelrecht bombardiert.

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Die Bewegung lässt sich von der Repression kein bisschen abschrecken. Philippe Martine, Sprecher des mächtigen Gewerkschaftsbundes CGT, beteiligte sich an einer Nuit Debout-Versammlung am 29. April. Dort fragte er: „Wie können wir unsere Bewegungen zusammenbringen und wie können wir den Widerstand gemeinsam vergrößern?“ Die Zuhörer_innen riefen zu tausenden „Generalstreik!“. Genau diesen Generalstreik braucht es, um die Klassenkämpfe weiter zu eskalieren und das Arbeitsgesetz und Präsident Hollande zu Fall zu bringen. Wenn es gelingt, den Generalstreik nicht nur auf einen Tag zu befristen, haben die Eliten in Frankreich ein wirkliches Problem. Die Rücknahme des Gesetzes wird ihre geringste Sorge sein.

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.