Blue Velvet
Die Gewalt und das Verbrechen sind nur die andere Seite des „American Way of Life“. Hinter der Fassade der braven Bürger, im dunklen „Unterbauch“ der Stadt, regieren Korruption und Brutalität. Eine Kamerafahrt bis unter die Erde, die unter dem gepflegten Rasen eine Welt ekeliger Insekten entdeckt, ist eines der vielen surrealistischen, symbolhaften Bilder, mit denen „Blue Velvet“ die Zuseher_innen richtiggehend attackiert.
„Blue Velvet“ (1986) hat nach so vielen Jahren immer noch die Kraft, das Publikum zu beunruhigen und in unangenehme und ungewohnte emotionale Zustände zu versetzen.
Ein Film wie ein Albtraum
David Lynchs Bildsprache wirkt auf verschiedenen Ebenen und drängt sich aggressiv ins Unterbewusstsein, ein Film wie ein wirklich böser Traum, der einen auch mit den eigenen Gewaltfantasien, dem eigenen Voyeurismus konfrontiert. Als die Hauptfigur, der junge und neugierige Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) aus einem Versteck in einem Wandschrank heraus ein sadistisches Sex-Ritual beobachtet, wird den Zuseher_innen der eigene Voyeurismus quasi um die Ohren geschlagen.
MacLachlans Gesicht wird vielleicht einigen noch aus Lynchs TV-Serie „Twin Peaks“ bekannt sein, die „Blue Velvet“ zumindest athmosphärisch nahe kommt und die als Großmutter von „anspruchsvollen“ Serien gilt, für die inzwischen vor allem der Sender HBO bekannt ist.
Sadismus in der Kleinstadtidylle
Nach einer Eröffnungssequenz, in der in Zeitlupe die Kleinstadtidylle gezeigt wird, mit fröhlich winkenden Feuerwehrmännern auf ihrem schönen roten Feuerwehrauto, Schülerlotsen und Leuten, die ihren Rasen sprengen, beginnt die eigentliche Story damit, dass Beaumont auf einem (akkurat geschnittenen) Rasen ein menschliches Ohr findet. Er beginnt selbst nachzuforschen und findet heraus, dass das Ohr einem Mann gehört, der gemeinsam mit seinem Kind entführt wurde.
Die Ehefrau des Entführten, die Nachtclubsängerin Dorothy Vallens (Isabella Rosselini), ist das Opfer des Sex-Rituals, das Beaumont beobachtet. Der sadistische Kriminelle Frank (beängstigend irre dargestellt von Dennis Hopper) ist der Entführer, dem Dorothy gehorchen muss, soll ihr Mann nicht sterben. Frank saugt den ganzen Film hindurch gierig an einer Sauerstoffmaske, die er sich immer wieder ans Gesicht presst. Wie er damit vor Isabella Rosselini kniet und dabei „Baby wants to fuck“ stöhnt, brennt sich auch abgebrühten Gemütern unangenehm ins Gedächtnis.
Ein seltsamer Protagonist
„Blue Velvet“ ist ein Film wie eine abendfüllende Halluzination: schön, erotisch, schrecklich, aber auch durchzogen von Lynchs Humor. Fast könnte man lachen, wenn man beobachtet, wie Jeffrey Beaumont hin- und hergerissen ist zwischen seinem „American Girl“ (Laura Dern) und der verführerischen, aber offensichtlich perversen Sängerin Dorothy. Er fürchtet sich vor seiner eigenen dunklen Seite und ist dennoch faszniert von ihr.
Lynch war bis dahin nur als Regisseur von Arthouse-Filmen bekannt, besonders der äußerst sehenswerte „Eraserhead“ (1977) war ein früher Kultfilm von Cineast_innen. Ein breiteres Publikum erreichte der verstörende „The Elephantman“ (1980), seine „Dune – Der Wüstenplanet“-Adaption (1984) enttäuschte die Fans, doch „Blue Velvet“ rollte wie eine Flutwelle in die amerikanische Popkultur und war praktisch von der Premiere an ein Kultfilm.
Schlag gegen Konservative
Der Film kam am Höhepunkt der Reagan-Ära in die Kinos, als vom Weißen Haus abwärts eine reaktionäre, patriotische Ideologie verbreitet wurde, die an die Illusion des „sauberen“ Amerikas aus den 1950er-Jahren anknüpfte. Dieses naive USA-Bild war die Begleitmusik zu Sozialabbau und der Zerschlagung der Gewerkschaftsbewegung. „Blue Velvet“ riss eine tiefe Bresche in dieses Konstrukt. Die Nachbarn im hübschen Häuschen nebenan könnten korrupt, kriminell oder auch sexuell „abartig“ sein.
Mehr als viele offensichtlich politische Filme war „Blue Velvet“ ein Schlag ins Gesicht der damals herrschenden Volksverblödung (die unter Trump wieder an Schwung gewinnt). Auf seine Art ist er eines der subversivsten Kino-Werke der 1980er-Jahre. Der Film dringt noch viel tiefer in eigentlich moralische Fragestellungen ein und vermittelt, dass Unschuld wertlos ist, ohne eine Ahnung der ganz dunklen Seiten der Gesellschaft. Um sein Ziel zu erreichen, überschreitet „Blue Velvet“ des öfteren die Grenzen des „guten Geschmacks“, doch wie ein Kritiker vermerkte, das tut das Leben auch.
Es kann hier leider nicht unerwähnt bleiben, dass David Lynch sich in den letzten Jahren für die Sekte „Trancendental Meditation“ begeistert, die höchst reaktionäre Ideen vertritt und diese ziemlich heftig bewirbt. Angeblich hat sie ihm den inneren Frieden gegeben – es ist zu hoffen, dass ihn das nicht hindern wird, weiterhin düstere Meisterwerke zu schaffen.