Die Frage nach dem Eigentum
Der deutsche Juso-Vorsitzende (Jugendorganisation SPD) Kevin Kühnert hat in den letzten Wochen für Aufregung unter Medien und etablierten Parteien weit über die deutschen Landesgrenzen hinweg gesorgt, als er öffentlich angedacht hatte, kapitalistische Riesen, wie beispielsweise BMW oder Deutsche Wohnen, zu enteignen. Die Reaktionen waren zu einem großen Teil von emotional geladenen Angstbildern des kapitalistischen Systems – wie Lenin oder Kommunismus – besetzt, anstatt sich inhaltlich mit Kühnerts Forderungen auseinanderzusetzen.
Begonnen hat der mediale Aufschrei rund um das Thema Enteignung Anfang Mai, als Kühnert sich in einem Zeit-Interview hinter eine 77.000 Stimmen starke Petition stellte, die forderte, dass deutsche Immobilienriesen, allen voran Deutsche Wohnen, enteignet werden müssen und rund 200.000 Wohnungen vom Staat zurückGEKAUFT (nicht einmal enteignet) werden sollen. Deutsche Wohnen besitzt mehr als 100.000 Wohnungen im Großraum Berlin und war in der Vergangenheit durch wiederholte Mieterhöhungen aufgefallen.
Durch ihren großen Marktanteil am Wohnungsmarkt in Berlin war es ihnen möglich, ihre Gewinne 2018 bis auf 1,8 Milliarden Euro zu treiben. Und das in einer Stadt, die konsequent mit Wohnraummangel zu kämpfen hat. Während es naheliegt, dass diese Situation ein Problem darstellt, wurde Kühnert heftig kritisiert, als er meinte, dass Profit mit dem Wohnraum anderer Menschen zu machen, kein „legitimes Geschäftsmodell“ sei.
Dabei steht der Großteil der Berliner Bevölkerung laut Umfragen hinter ihm, und sieht die Enteignung der Besitzer von mehr als 3.000 Wohnungen durchaus als probates Mittel, auf die Wohnungsknappheit und steigenden Mieten zu reagieren. Kühnert selbst reagiert auf Kritik mit der Feststellung, wie eng die Grenzen des Vorstellbaren nach 25 Jahren neoliberaler Beschallung geworden seien.
Kapitalistische Auswüchse
Im weiteren Verlauf des Interviews ließ sich Kühnert, wenn auch nur nach mehrmaligem Nachbohren durch seinen Gesprächspartner, sogar dazu hinreißen anzumerken, dass es für den Wandel zu einer sozialeren und gerechteren post-kapitalistischen Gesellschaft nötig ist, Großunternehmen wie etwa BMW, auf demokratischem Weg zu vergemeinschaften.
Kühnert stellt hier die Frage, wie es gerecht sein könne, dass in diesem Betrieb zwei glückliche Erben mit jeweils einer Milliarde Euro mehr verdienen können als 20.000 Beschäftigte zusammen, beinahe ein Viertel des Konzerns, und spricht sich für eine demokratische Verteilung von Profiten aus. Zusätzlich hat BMW wiederholt Hilfen des Steuerzahlers in Anspruch genommen, die sich zusammen auf mehrere Milliarden Euro belaufen.
Ein sehr erfolgreiches Beispiel der Privatwirtschaft scheint BMW demnach nicht zu sein, was Kühnerts Ansätze weiter bestärkt. Doch obwohl er seine Aussagen in diesem Interview als vorsichtige Gedankenspiele formuliert und auch komplett offen lässt, ob die Lösung des Problems in einer Übernahme des Konzerns durch Staat oder Arbeiter liegen soll, wird das Gesagte in vielen Medien und Reaktionen als Forderungen nach Verstaatlichung uminterpretiert.
Es wird versucht, mit den übrig gebliebenen Ressentiments des Kalten Krieges von den eigentlichen Vorstellungen des Juso-Chefs abzulenken, der stets auf demokratische Legitimation pocht um seine Vorstellung von Sozialismus umzusetzen, und sich von bisherigen Formen des Staatskapitalismus klar distanziert.
Trotz des erheblichen Widerstands auch innerhalb der eigenen Partei bleibt Kühnert dabei: „Der Kapitalismus ist in viel zu viele Lebensbereiche vorgedrungen. So können wir nicht weitermachen“. Und auch wenn die Parteispitze der SPD ihrer Linie treu bleibt, und sich ängstlich von allen Visionen einer sozial gerechteren Welt weg duckt, melden sich einige Stimmen, die ihm zustimmen und neue Wirtschaftsmodelle fordern, die nach Jahrzehnten von wachsender Ungleichheit im Neoliberalismus wieder für Umverteilung nach unten sorgen können.
Vergemeinschaftung
Jegliche Diskussion über Enteignungen zum Allgemeinwohl wird aber oft abgeschmettert, indem das Schreckensbild von staatskapitalistischen Diktaturen – wie der UdSSR – heraufbeschworen wird, auch wenn die Sozialisten, die dafür argumentieren, längst aus den Verfehlungen dieser Systeme gelernt haben und ganz andere Ansätze fordern.
Wir verstehen das stalinistische Regime als Staatskapitalismus, angeführt von einer bürokratischen Diktatur. Verstaatlichung hat bedeutet, dass eine kleine Elite von Bürokraten die Kontrolle über die Produktionsmittel hatte. Aber nur ein von unten demokratisch legitimiertes System, in dem Arbeiter_innen den Arbeitsprozess kontrollieren, kann eine Umverteilung im Interesse der Arbeiter_innenklasse schaffen.
Dass die Kapitalisten, die ihre Profite aus der Ausbeutung von Arbeit schöpfen, dem Mehrwert, der von anderen geschaffen wird, darüber nicht erfreut sein werden, liegt auf der Hand. Doch auch wenn sie es uns schwer machen werden, dürfen wir nicht zögern in unserem Bestreben, ihnen „ihre“ Produktionsmittel zu entreißen und sie stattdessen für das allgemeine Interesse zu verwenden.
Enteignungen von Privatbesitz sind längst gang und gäbe, wenn beispielsweise Straßen oder Autobahnen gebaut werden sollen. Was man mit dem kleinen Mann machen darf, muss auch für Kapitalisten erlaubt sein.
Fahrlässige Privatisierungen
In ganz Europa, wenn auch oft still und heimlich, wird zunehmend anerkannt, dass der Neoliberalismus seine Versprechen vom Wohlstand durch unregulierte Privatwirtschaft nicht eingehalten hat, sondern nur ein paar wenige Privilegierte noch reicher gemacht hat, als sie es ohnehin schon waren.
Deswegen werden seit 10 Jahren europaweit wieder Privatisierungen rückgängig gemacht, weil sie statt zu mehr Effizienz nur zur Verteuerung von Dienstleistungen geführt haben. Die 700 Unternehmen, die zurück ins Eigentum von Staaten geführt wurden, stammten hierbei hauptsächlich aus dem Energie- und Wassersektor.
Während es erfreulich ist, dass Grundrechte wie ein freier Wasserzugang wieder zunehmend mehr vor privater Spekulation geschützt werden, gibt es gerade bei uns auch Kräfte, die das in Frage stellen wollen. So hatte beispielsweise Heinz-Christian Strache in dem geleakten „Ibiza-Video“ den Verkauf österreichischen Wassers in Aussicht gestellt, um seine politischen Machtfantasien aus Russland finanzieren zu lassen.
Die Bevölkerung reagierte auf die Finanzkrise in Argentinien 2001 mit der Gründung von Nachbarschaftsversammlungen quer über das ganze Land © unbekannt
Auch wenn im neoliberalen Dogma die Resultate solcher Privatisierungen gern verschwiegen oder umgedeutet werden, sind die negativen Folgen für den Großteil der Bevölkerung eindeutig. So vervierfachte sich beispielsweise der Wasserpreis in Frankreich nach der Privatisierung, was deshalb kurz darauf wieder zurückgenommen wurde.
Ein anderes imposantes Beispiel für die Fahrlässigkeit von profitorientierten Unternehmen, die mit der Verwaltung bisher staatlicher Einrichtungen vertraut werden, ist der britische Bahnverkehr. Dort wurde die Wartung der Bahngleise zwecks Profitmaximierung dermaßen vernachlässigt, dass es bereits zu 42 Toten und 700 Schwerverletzten gekommen ist.
Enteignen für Klimaschutz
Statt aus solchen Geschichten zu lernen, propagieren Neoliberale jedoch weiterhin den Wert des freien Markts, den sie mittlerweile inoffiziell in den Rang einer neuen Gottheit erhoben haben und stützen sich hierfür argumentativ auf vereinzelte unglückliche Verstaatlichungen oder den Vergleich zu autoritären Systemen.
Dabei ist der freie Markt längst so außer Kontrolle geraten, dass er neben dem beständigen Ausbau sozialer Ungerechtigkeit uns auch in eine globale Katastrophe nie dagewesenen Ausmaßes gestürzt hat: in die Klimakrise.
Während zunehmend mehr Menschen auf die Straße gehen und gegen die Praktiken eines unkontrolliert wachsenden Wirtschaftssystems demonstrieren, sieht sich die Privatwirtschaft nicht in der Lage, das Fortbestehen der Menschheit über die Profitgier zu stellen. Stattdessen wird versucht, dem Konsumenten einzureden, dass er die Verantwortung für die Klimawende tragen würde, auch wenn der Großteil von Emissionen aus der Wirtschaft, genauer genommen der globalen Energieproduktion stammt.
Wenn aber die Privatwirtschaft nicht willens oder wegen ihrer internen Konkurrenzlogik gar nicht fähig ist, ihre Produktionsweise umzustellen, wirkt Verstaatlichung wie ein letzter Ausweg, um die nötigen Veränderungen auf den Weg zu bringen. Bis dato stimmen aber leider wenige politische Parteien solcher Argumentation zu, selbst links der Mitte.
Eine Ausnahme hierbei stellt die britische Labour-Partei dar, die sich dafür ausgesprochen hat, wichtige Wirtschaftssektoren, wie bspw. die Energieproduktion, in öffentlichen Besitz zu überführen und zu dezentralisieren. Während sie hoffen, die Übernahme durch Kaufen von Anteilen an Unternehmen erreichen zu können, dürfen demokratische Gesellschaften nicht davor zurückschrecken, zur Sicherstellung der Klimawende auf Enteignungen zurückzugreifen.
Angst um Jobs
Das am häufigsten verwendete Angst-Argument, um die notwendige Energiewende abzuwehren, sind zumeist Arbeitsplätze, die in Kohleförderung und Verbrennung verloren gehen würden. Dies ignoriert aber einerseits völlig die Arbeitsplätze, die momentan wegen zu geringer staatlicher Förderung in erneuerbaren Energien gefährdet sind.
In Deutschland beispielsweise sind durch den Rückgang an Förderungen für den Ausbau der Windenergie mehr als doppelt so viele Arbeitsplätze gefährdet, wie im Kohleabbau insgesamt vorhanden sind.
Auf der anderen Seite ignoriert es das Potential, das Klimaforscher und Ökonomen im Umsetzen vorliegender Pläne für die Klimawende sehen. So rechnet beispielsweise der Report „Global Climate Jobs“, ein Zusammenschluss von Klimaschutz-Organisationen, weltweit mit insgesamt 70 Millionen Jobs, die allein durch die nötigen Umstellungen im Energie- und Transportwesen entstehen würden.
Doch solange unsere Regierungen die Verbrennung fossiler Brennstoffe subventionieren, wird nicht nur die Zukunft des Planeten verspielt, sondern es werden auch Arbeitsplätze mit Ablaufdatum gefördert, anstatt auf nachhaltige Beschäftigungen zu setzen. Wenn Staaten also bereit wären, die nötigen Investitionen in die Klimawende zu tätigen, anstatt einige wenige durch Sparpolitik reich zu machen, gäbe es mehr Jobs, nicht weniger.
Die Besetzung und Selbsverwaltung der Textilfabrik Brukman in Buenos Aires 2001 durch die Belegschaft hat Geschichte geschrieben © Marcus Vetter
Eine neue Wirtschaftsordnung
Doch selbst wenn wir die größte Katastrophe der Menschheitsgeschichte abwenden können, stellen andere Entwicklungen große Herausforderungen für unser Wirtschaftssystem dar. Die Automatisierung ist im Kommen und sorgt berechtigterweise für Angst um Arbeitsplätze und soziale Existenzen.
Es ist ein trauriges Resultat einer spätkapitalistischen Gesellschaftsform, dass wir uns vor technologischen Errungenschaften fürchten müssen, die eigentlich die benötigte menschliche Arbeitsleistung reduzieren und uns Zeit für Selbstentfaltung und kreative Beschäftigung verschaffen sollten. Aber in kapitalistisch geführten Betrieben, die nur auf Maximierung von Profiten für die besitzende Klasse ausgerichtet sind, wirken solche Ansprüche leider verträumt.
Schätzungen zufolge bedroht die Automatisierung 50-75% der momentan bestehenden Arbeitsplätze und auch wenn mit der Entstehung neuer Beschäftigungen zu rechnen ist, bestehen große Zweifel, ob die das aufwiegen können oder ob unser Bildungssystem fähig ist, uns auf deren Komplexität vorzubereiten.
Um uns auf solche Entwicklungen vorzubereiten, ist es wichtig, dass Leute wie Kühnert öffentlich Ideen wie Vergemeinschaftung andenken, denn Neoliberalismus hat keine Antworten auf diese Fragen. Wir müssen die Grenzen des Vorstellbaren wieder weiter spannen und unsere Aufmerksamkeit auf die vielen Beispiele lenken, an denen man sieht, wie kollektive Besitzverhältnisse funktionieren können.
Ein von Arbeiter_innen geführter Betrieb würde nie auf die Idee kommen, die Produktion in Billiglohnländer zu verlegen. Dort ist es klar, dass effizientere Technologien zu Arbeitszeit- und nicht zu Arbeiterreduktion führen sollten, und dass mit jeder Profiterhöhung durch Stellenabbau soziale Kosten durch Arbeitslosigkeit entstehen.
Eine moderne Welt braucht neue Ideen, damit wir uns über technologische Neuerungen freuen können, anstatt uns vor ihnen fürchten zu müssen.
Während der „Biennio Rosso“, der zwei roten Jahre, kam es in Italien von 1919 bis 1920 zu zahlreichen Fabriksbesetzungen mit Selbstverwaltung von Arbeitern. Im Bild Turin 1020 © gemeinfrei