Ein Jahr Kanzlerschaft: Was bleibt von der Kern-Mania?
Rund 88 Prozent der Befragten hatten bei einer SPÖ-Mitgliederumfrage gegen das Freihandelsabkommen CETA gestimmt. NGOs und Gewerkschaften organisierten riesige Proteste gegen das Abkommen. Die Zustimmung von Bundeskanzler Christian Kern zu CETA war für alle Gegner_innen des Freihandelsabkommens das sprichwörtliche „Hackl ins Kreuz“. Er selbst wirkte angesichts der Empörung der Basis völlig abgehoben: „Irgendwann kommt der Zeitpunkt, wo du halt Leute auch enttäuschen musst.“
Seit Mittwoch, den 19. April, liegt das CETA-Volksbegehren im Parlament auf. Bereits der erste SPÖ-Abgeordnete Jürgen Schabhüttl zeigt Widerstand und kündigte im Gespräch mit Österreich an, dass er im Parlament gegen CETA stimmen werde.
Katerstimmung
Kern verhielt sich als Bahn-Manager während der großen Flüchtlingsbewegung anständig. Seine pointierten Aussagen gaben Anlass zum Optimismus. In seiner Antrittsrede als Kanzler meinte er: „Menschen brennen nicht für Kompromisse, sie brennen für Grundsätze und Haltungen.“ Wenig später vollzog Kern in der Flüchtlingsfrage eine totale Kehrtwende: Per Brief an die EU-Kommission, ganz im Stile von Innenminister Sobotka, ließ er Brüssel die Weigerung Österreichs, Flüchtlinge aus dem Relocation-Programm zu übernehmen, ausrichten.
Wiens Bürgermeister Michael Häupl und Sozialstadträtin Sandra Frauenberger stellten sich gegen das rassistische Trauerspiel um die wenigen minderjährigen Flüchtlinge. Häupl: „Die 50 nehme ich sofort in Ottakring.“ Kern musste die Zusage schließlich einhalten, hat aber mit seiner Anbiederung an die FPÖ und ÖVP Scherben hinterlassen.
Kerns Selbstzerstörung
Anfang April meinte Robert Misik, „Kanzler-Berater“ und ein Freund Kerns auf seinem Blog: „Christian Kern hat in den vergangenen Wochen viel Kredit verspielt.“ Viele verstünden nicht mehr, worauf das hinaus solle und was er sich von einer hart rechten Linie erhoffe. Fände der Kanzler nicht in die Spur zurück, wäre das der Weg in die Selbstzerstörung der SPÖ.
Einen offenen Brief an den Kanzler verfassten auch Eva Maltschnig (Vorsitzende der Sektion Acht), Ilkim Erdost (Bildungsvorsitzende der SPÖ-Ottakring), Laura Schoch (Vorsitzende der Sektion Fünf) und Markus Netter (Vorsitzender der Sektion am Wasserturm): „Stopp der Kraftmeierei… Mit den 50 Jugendlichen, die auf würdige Unterbringung warten, hat das nichts zu tun. Auch nicht mit den 1.900 Menschen, die in Österreich ihren Platz finden sollten. Dahinter steht die Agenda innen- und europapolitische Verhältnisse weiter nach rechts zu rücken.“
SPÖ-interne Kritik
Eva Maltschnig kritisierte in einem Gastbeitrag für den Standard das neue Programm und vor allem das Sicherheitspaket scharf: „Die ÖVP hatte allen für sie formulierten Zuckerln im Plan A plus einigen SPÖ-Projekten zugestimmt und dazu ein Sicherheitskapitel angefügt, das wie immer auch die FPÖ hätte schreiben können.”
Im April 2017 startete die Petition „Nicht in unserem Namen – Sozialdemokratische Verantwortung wahrnehmen“ der SPÖ Sektion 19 (Wien-Margareten) an den Bundesparteivorstand der SPÖ. Auch linke Gewerkschafter_innen und besorgte Funktionär_innen unterschrieben den Text: „Als SozialdemokratInnen können wir diesen Kurs von schrittweisen Verschärfungen, Ausgrenzungen, der Abschaffung von Grund- und Arbeitsrechten und Ignoranz menschlichen Leids nicht mehr mittragen.“ Die Petition kann noch bis 3. Juli unterzeichnet werden.
Fehlendes Rückgrat
Anfangs kündigte Kern noch Widerstand gegen Sobotkas Pläne zur Einschränkung des Demonstrationsrechts an: Mit uns sicher nicht, „meine politische Partei und Vertreter meiner politischen Partei haben vor Jahren, vor Jahrzehnten, dieses Demonstrationsrecht mit Blut erkämpft“. Sozialdemokratische Basisorganisationen wie die Sozialistische Jugend (SJ) und die Volkshilfe Österreich riefen zum Protest. Die Regierung ignoriert sie, wie die zahlreichen Stellungsnahmen von wichtigen NGOs und Gewerkschaften. Aber die Proteste verstummen nicht.
Kern setzt in der Regierung FPÖ/ÖVP-Politik um: Demokratieabbau, rassistische Sondergesetze, Arbeitszeit-Flexibilisierung und konservative Bildungspolitik. Der Verband sozialistischer Student_innen (VSStÖ) ist während der ÖH-Wahlen mit rechten Plakaten konfrontiert, die Kerns Zustimmung zu Zugangsbeschränkungen thematisieren. Mit welchem „Plan A“ will Kern die Basis bei den bald zu erwartenden Wahlen mobilisieren und ihr vermitteln, dass rechte Politik nicht akzeptabel ist?
Kerns „Plan A“ gegen Flüchtlinge gescheitert
Österreich nimmt am EU-Programm „Relocation“ zur Umverteilung von Flüchtlingen in der EU teil. Im Rahmen des Programms hatte sich Österreich 2015 verpflichtet rund 1.900 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland zu übernehmen. Kanzler Kerns FPÖ-light-Kurs hat diesen beim ersten Anlassfall dazu verleitet, eingegangene Verpflichtungen öffentlich aufzukündigen. Es ging um nur 50 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Italien, Kinder und Jugendliche!
Sein Parteikollege, der Wiener Bürgermeister Michael Häupl, reagierte darauf im Gespräch mit dem Standard: „Die 50 nehme ich sofort in Ottakring.“ Nach dem peinlichen Versuch die ÖVP-Minister Kurz und Sobotka rechts zu überholen, musste auch Christian Kern der EU nachgeben. Die österreichische Regierung, die stets lautstark auf europäische Solidarität pochte, bekam ohnehin eine Ausnahme bis März 2017. Übrig blieb dem Kanzler nur Hohn von den rechten Rassismus-Profis der FPÖ und ÖVP. Ihnen hat er einen Gefallen getan.
Kerns „Plan B“: Lager
Der Bundeskanzler ist wieder einen Schritt weiter nach rechts gerückt, er will Flüchtlinge in Lagern außerhalb der EU, „in Ländern wie Libyen, Senegal, Mali, auch Afghanistan“ konzentrieren.
Anders als seine Minister dürfte Christian Kern diesen Schritt bis zu seinem unmenschlichen Ende durchgedacht haben. In einem Exklusiv-Interview mit der Presse am Sonntag gibt er zu, dass er die Idee, die Balkan- als auch die Mittelmeerroute zu schließen, gut findet. Kern will Millionenbeträge in die Hand nehmen, um außerhalb Europas Flüchtlingslager aufzubauen. Es sollen sogar junge Männer zur Verteidigung dieser Camps (oder eher zur militärischen Bewachung) geschickt werden. Seiner Meinung nach würden „Europa und die Welt das Problem anders nicht in den Griff kriegen“.