Frankreich erlebt Frühling im Kampf gegen die Regierung
Repression, Rassismus und der Aufstieg des faschistischen Front National haben die französische Politik der letzten vier Jahre dominiert. Letzten Donnerstag jedoch wurden Frankreichs Straßen von über eine Million Menschen geflutet. Arbeiter_innen und Studierende streikten gegen das neue Arbeitsgesetz des sozialdemokratischen Präsidenten François Hollande. Oliver, der an den Barrikaden vor seiner Universität in Paris steht, meinte gegenüber der britischen Zeitung Socialist Worker (Schwesternzeitung der Neuen Linkswende): „Damit ermöglichen wir der Linken einen frischen Start und können den jungen Leuten und Arbeitern, die den Front National wählen, Hoffnung geben.“
Die Bewegung hat den Zorn und die Verbitterung entfesselt, die schon länger unter der Oberfläche von Hollandes Präsidentschaft geköchelt haben. Hundertausende Menschen marschierten alleine in Paris. Die Universitätsstudentin Marine stimmte das optimistisch: „Es gibt zu viele von uns, als dass sie uns ignorieren könnten. Und sie mussten bereits jetzt stark zurückrudern! Die Botschaft ist klar: Wir wollen mit dem Arbeitsgesetz aufräumen und wir wollen außerdem eine neue Regierung! Anstatt einer Regierung, die sich bloß sozialistisch nennt, wollen wir eine echte sozialistische Regierung. Eine, die sich um Menschen kümmert, nicht um die Konzerne.“
Enorme Wut auf Regierung
Die Menschenmassen stimmten revolutionäre Lieder an, unter anderem auch ein paar des französischen Widerstands. Sie sangen: „Nein, nein, nein zum Gesetz der Bosse – Ja, ja, ja zur Revolution!“ Viele Städte erlebten Aufmärsche mit zehntausenden Teilnehmer_innen. Die Organisator_innen sprachen von mehr als 100.000 Menschen alleine in Toulouse. Die Beteiligung in Marseille war „enorm“, berichtete der Student Pierre Ciavarella.
Die Bewegung hat den Zorn und die Verbitterung entfesselt, die schon länger unter der Oberfläche von Hollandes Präsidentschaft geköchelt haben.
In der nördlichen Hafenstatt Le Havre organisierten Hafenarbeiter_innen und ihre Gewerkschaften Straßenblockaden und Streiks, um die Stadt stillzulegen. „Es war ein kolossaler Erfolg“, sagte Gael Pasquier, Aktivist der Gewerkschaft CGT. Das Arbeitsgesetz würde die Bosse viel zu einfach davonkommen lassen, in Zeiten von steigender Arbeitslosigkeit und einer stagnierenden Wirtschaft.
Auf der Pariser Demonstration erzählte Arbeiter Georges Bondo: „Wir wollen nicht, dass die Bosse die Möglichkeit haben uns so mir nichts, dir nichts zu entlassen. Entlassen zu werden bedeutet keine Zukunft zu haben.“ Studentin Aicha meinte: „Wenn sie hinter der Jugend her sind, dann wird die Jugend sich zu erkennen geben! Die wollen von uns, dass wir länger arbeiten für einen noch niedrigeren Lohn! Die Uni ist geschlossen, wir sind alle hier um zu streiken!“
Unterstützende Organisationen forderten eine Reduktion der Arbeitszeiten auf 32 Stunden pro Woche – und manche der Protestierenden trugen selbstgemachte Schilder mit sich, die sogar 20 Stunden verlangten. Für sie geht die Forderung nach einer Umverteilung der Arbeitszeit Hand in Hand mit einer Umverteilung des Wohlstands.
Chance für Offensive
Das neue Arbeitsgesetz würde das alte Arbeitsgesetz „Code du travail“, das hart erkämpft wurde, aushöhlen. David Ammar, Vizebürgermeister von Morsang in der Nähe von Paris, protestierte als Teil einer Delegation der Linkspartei. Er sagte: „Der ‚Code du travail‘ ist ein mächtiges Symbol in Frankreich. Jetzt will die Regierung sich daran vergreifen, darum all der Zorn! Die Menschen haben Hollande und seine Politik satt!“
Auf einer Vollversammlung von Studierenden auf dem Campus der Pariser Universität Sorbonne, stimmte Sebastian dem zu. Er meinte: „Ich bin gegen das neue Arbeitsgesetz, weil es die Errungenschaften rückgängig macht, für die frühere Generationen gekämpft haben. Wir können das nicht zulassen, sonst gleiten wir immer tiefer in den Neoliberalismus ab.“
Sebastian ergänzt: „Aber es hat es auch die Menschen näher zusammenrücken lassen. Es gab einige Defensivkämpfe gegen eine Serie von anderen Attacken, doch nichts hat zu einem echten Gegenangriff geführt. Nun haben wir etwas begonnen und wir hoffen, es weitet sich aus. Ich habe mich voll in die Proteste geworfen und bin zu Demonstrationen und Versammlungen gegangen. Vielleicht werden wir nicht den Kapitalismus stürzen, aber irgendwo muss man anfangen.“
Schlagkraft erhöhen
Die Universität Tolbiac ist eine Hochburg der Bewegung, gemeinsam mit den Universitäten in den nördlichen Vorstädten St. Denis und Rennes im Westen. Doch die Studierenden wissen, dass ihre Bewegung noch breiter werden muss – besonders die Arbeiterschaft gilt es ins Boot zu holen. Auf der Versammlung, argumentiert eine junge Frau, dass der Kampf aus mehr bestehen müsse, als nur einer Jugendbewegung: „Werktätige und Junge sitzen im selben Boot“.
„Wir kämpfen bis zum Schluss. Das bedeutet mehr Streiks, mehr Konfrontation. Wir werden die Regierung, und auch den Präsidenten zu Fall bringen, wenn wir müssen.“
Studierende der Tolbiac verbrüderten sich mit der Eisenbahngewerkschaft am nahegelegenen Bahnhof Austerlitz. Die Teilnahme der Gewerkschaften an den Demonstrationen vergangene Woche war ein großer Schritt nach vorne für eine Bewegung, die bisher nur von Studierenden getragen wurde.
Bruno Wable, Sekretär der CGT-Gewerkschaft im Reifenwerk in Bethune, meinte gegenüber Socialist Worker: „Wir haben bereits gekämpft, um die ‚Goodyear 8‘ zu verteidigen. Jetzt geht es auch um das Arbeitsgesetz. Wenn es durchgeht, wird das den Tod von Arbeitern bedeuten.“ Die „Goodyear 8“ wurden für „Boss-Napping“ inhaftiert. Sie hatten ihre Fabrik besetzt, um ihre Schließung zu verhindern und dabei ihre Bosse 30 Stunden lang festgehalten.
Ausbaufähig
Obwohl die Streiks für große Unterbrechungen sorgten – zum Beispiel im öffentlichen Verkehr von Paris – war die Beteiligung an vielen Arbeitsplätzen gering. Die Gewerkschaftsführer sind unter Druck, es noch entschlossener anzugehen. Der Konservatismus der Gewerkschaftsführung brachte den letzten vergleichbaren Kampf in Frankreich – gegen die Pensionskürzungen in 2010 – zu einem frühzeitigen Ende. Er verkehrte, was ein Sieg hätte sein können, in ein Unentschieden – darin steckt eine Warnung für die Bewegung heute.
Die Basis der Gewerkschaft CFDT ist empört über deren Verweigerung sich gegen das Arbeitsgesetz auszusprechen. „Ich marschiere mit meiner CFDT-Fahne. So kann ich zumindest mein Gesicht wahren“, meinte Gewerkschafter Thomas gegenüber der Zeitung 20 Minutes. „In der Arbeit geht es richtig ab – die Aktivisten und Arbeiter sind unglaublich wütend – und ich verstehe einfach nicht die Haltung der Führung.“ CFDT-Aktivistin Sonia verwirft die Strategie der Gewerkschaft auf einen Kompromiss: „Manchmal muss man auch einfach Nein sagen können!“ Forderungen nach einem Generalstreik waren unter den beliebtesten Demosprüchen.
Die Versuche des Staates, die Bewegung zurückzudrängen, sind bisher genauso erfolglos gewesen, wie jene, die Gewerkschaftsführer in Verhandlungen zu locken. Die Angriffe der Polizei auf Studierende haben viele empört, die zuvor noch nicht auf den Straßen waren. Sebastian war gerade auf der Tolbiac, als eine – mittlerweile berüchtigte – Polizeirazzia stattfand. „Es brachte mich dazu, noch mehr zu mobilisieren. Von da an ging es wirklich aufwärts mit der Bewegung“, meinte er.
Bewegung kann Rassismus zurückschlagen
Die Regierung und die konservative Opposition haben die Menschen zur Unterstützung aufgerufen, um den faschistischen Front National (FN) in Schach zu halten. Doch die Bewegung gegen den Neoliberalismus brachte mehr Hoffnung als von diesen Leuten jemals kam. Es gibt immer noch die Notwendigkeit des Kampfes gegen den FN und gegen den islamfeindlichen Mainstream und Rassismus, an denen sich der FN nährt. Doch der Kampf gegen dieses Arbeitsgesetz hebt auch diese Schlacht auf einen viel günstigeren Boden.
Die Ministerin für Frauenrechte, Kinder und Familien, Laurence Rossignol, drückte das Niveau der Kopftuchdebatte letzte Woche auf eine neuen Tiefpunkt. Sie verglich Frauen, die ein Kopftuch tragen, mit „schwarzen Sklavereibefürwortern in den USA“. Doch Aicha, die mit Kopftuch Seite an Seite mit schwarzen, weißen, muslimischen und nichtmuslimischen Klassenkameraden marschierte, findet es „lächerlich, so etwas zu behaupten. Ich bestimme was ich trage – es ist mein Recht und meine Freiheit.“
Universitäten verbarrikadiert
Die Elite-Universität „Louis Le Grand“ blieb sogar während den Massenbewegungen gegen das Jugend-Arbeitsgesetz des ehemaligen Präsidenten Jaques Chirac 2006 geöffnet. Aber letzte Woche kamen Studierende von anderen Universitäten zu Hilfe, um die Universität zu verbarrikadieren. „Dieser Ort verkörpert das Bild eines Platzes, an dem die Elite des Landes herangezogen wird“, sagte Leo. „Es wird behauptet, sie sei wichtiger als die anderen Universitäten und müsse offen bleiben, wenn die anderen schließen. Wir denken, das ist nur ein Grund mehr, sie zu schließen.“
Arthur zeigte auf einen Haufen Mülltonnen, die die Universitätstore verbarrikadieren, und meinte: „Das hier kann vielleicht als eine Art „gewaltsame“ oder „Unruhe stiftende“ Aktion verstanden werden. Doch was auch immer die sagen, wir sind keine Idioten und tun das nicht ohne Grund. Es steckt etwas Bedeutsames dahinter!“
Er erklärte: „Das Arbeitsgesetz zieht uns weiter in eine Wirtschaft der prekären Beschäftigung. Diese Prekarisierung trägt zum Rechtsruck bei. Arbeitslosigkeit bringt dem Front National Stimmen. Den Arbeitsgebern wird sehr viel Macht über die Arbeiter gegeben. Sie können ihnen vorschreiben, länger zu arbeiten – die Menschen fühlen sich nicht respektiert und das treibt sie in die Arme des FN. Dieser Kampf ist der einzige Weg, um das aufzuhalten. Dafür zu mobilisieren ist Pflicht – es ist der einzige Weg, um die Linke wieder ins Spiel zu bringen.“
Hollande musste bereits zurückrudern
Ein Sieg gegen das Arbeitsgesetz könnte einen entscheidenden Unterschied machen – und Hollande ist bereits angeschlagen. In der Nacht vor der Mobilisierung ließ Hollande die repressiven Verfassungsänderungen fallen, die er nach den Attentaten in Paris letzten November angekündigt hatte. Er versuchte die Tories dafür verantwortlich zu machen, die aus opportunistischen Gründen dieses rigorose Vorgehen zum Teil ablehnten, während sie selbst nach neuen Repressionen riefen.
Die Pläne, Bürger_innen mit Doppelstaatsbürgerschaft – vornehmlich Nordafrikaner_innen – den französischen Pass zu entziehen, spaltete die Regierung stark auf.
„Wenn sie dieses Gesetz durchbringen, gibt es Krieg – und den werden wir gewinnen.“
David meinte: „Wir haben unseren ersten Sieg gegen den Entzug der Staatsangehörigkeit eingefahren. Vier Monate lang Lärm um nichts, jetzt macht Hollande eine Kehrtwende. Das zeigt, dass er zurückgedrängt werden kann; dass wir ihn auch in der Sache des Arbeitsgesetzes schlagen können.“ Aicha sagte: „Politiker können stur sein. Doch je mehr wir sind, desto größer sind unsere Chancen auf einen Sieg. Wenn sie dieses Gesetz durchbringen, gibt es Krieg – und den werden wir gewinnen.“
Ein Sieg ist möglich
Die Bewegung gewinnt weiter an Stärke. An einigen Universitäten folgten tags darauf am Freitag erneut Streiks und weitere landesweite Aktionstage sind für diese Woche geplant. Nach dem Marsch in Paris am Donnerstag versammelten sich Tausende am berühmten „Platz der Republik“. Hunderte blieben für eine Besetzung, die die ganze Nacht andauerte und riefen „Bringen wir die Kämpfe zusammen“. In den folgenden Nächten kamen sie in noch größeren Zahlen zusammen. Man hatte einen Nerv getroffen.
In Missachtung des verhängten Ausnahmezustands überdauerte die Besetzung die von den Behörden zugestandene Zeitspanne. Die Studentinnen Rachel und Judigaelle denken, dass das Ende bereits in Sicht sein könnte. „Wir sind voller Hoffnung. Sie werden auf uns hören müssen“, sagte Judigaelle. „Schließlich handelt es sich um eine Demokratie, oder?“, stimmte Rachel zu. Allerdings sind sie bereit den Kampf fortzuführen, so lange wie nötig.
Bruno meinte: „Das Arbeitsgesetz wird nicht durchgehen. Wir können das nicht zulassen. Also werden wir kämpfen bis zum Schluss. Das bedeutet mehr Streiks, mehr Konfrontation. Wir werden die Regierung, und auch den Präsidenten zu Fall bringen, wenn wir müssen.“
Hintergrund. Die sozialdemokratische Regierung von Hollande hat den Neoliberalismus stärker vorangetrieben, als irgendeine rechtsstehende Regierung vor ihm. Das neue Arbeitsrecht übernimmt die Forderungen der Arbeitgeber und gibt ihnen mehr Macht denn je. Das Gesetz wirkt an drei Fronten: 1. Lohnabhängige können einfacher entlassen werden. 2. Die Arbeitszeit soll erhöht werden über die Senkung des Überstundentarifs. 3. Neue „Beschäftigungsvereinbarungen“ sollen bestehende Gesetze und landesweite Gewerkschaftsbeschlüsse untergraben.
Übersetzt aus dem Englischen von Alexander Akladious.