„Gewalt ist Teil der inoffiziellen Abschiebepolitik“
„Ich schließe die Kanzlei, weil zu viele Gespräche mit Blicken voller Verzweiflung geendet haben. Zu viele meiner Mandantinnen und Mandanten wurden in Elend, Lebensgefahr und Not abgeschoben. […] In zu vielen Gesprächen musste ich diesen Unwillen eines Rechtssystems, Rechte anzuerkennen, Menschen vermitteln, deren Existenz damit ins Wanken geriet. Dabei geriet nun meine Verbundenheit mit diesem Rechtssystem ins Wanken. Als Rechtsanwalt bin ich Teil davon. Das möchte ich nicht mehr sein.“
Mit diesen Worten verabschiedete sich der Grazer Asylanwalt Ronald Frühwirt aus dem Dienst am Rechtsstaat. Ein Anwalt, der seinen Beruf aufgibt, weil es ihm beinahe unmöglich wurde, dem Recht Geltung zu verschaffen – das ist mehr als ein Symptom für einen Staat, dessen Behörden sich längst nicht mehr an ihre eigenen Grundsätze halten. Das ist Ausdruck der Vorherrschaft der Rechten im Staat.
Nicht nur in Österreich wird mit immer unmenschlicheren Asylgesetzen traurige Geschichte geschrieben. Es ist paradigmatisch für eine weltweite Reaktion der Industriestaaten auf Fluchtbewegungen, die sie selbst zu verantworten haben: durch Landraub, Klimazerstörung und damit Zerstörung der Lebensgrundlage von Milliarden von Menschen.
Die dahintersteckenden ökonomischen Interessen münden, angetrieben von dem weltweiten politischen Rechtsruck, in tödliche Flüchtlingsabwehr. Massenmord wird nicht nur in Kauf genommen, sondern ist ein essentieller Teil der Strategie der Herrschenden im Umgang mit den zunehmenden Krisen.
Von Rettung zu Grenzschutz
In den letzten Jahren wurde die Politik gegen Migrant_innen massiv verschärft. Noch 2013 startete Italien die Rettungsaktion „Mare Nostrum“, nachdem im Oktober desselben Jahres über 600 Flüchtlinge vor Lampedusa ertrunken sind. Nach nur einem, im Vergleich sehr erfolgreichen Jahr (150.000 Menschen wurden aus Seenot gerettet), stellte Italien die Aktion im Oktober 2014 wieder ein – weil sich die EU weigerte, finanzielle Hilfe beizusteuern. Die Folge: die Zahl der Ertrunkenen verdoppelte sich in den Monaten darauf.
Daraufhin startete Frontex, die Europäische Grenz- und Küstenwache, die Mission „Triton“. Dennoch ertranken im April 2015 innerhalb weniger Tage mehr als 1.200 Menschen – kein Wunder: Frontex ist zuständig für den „Schutz“ der EU-Außengrenzen, ihre Aufgaben sind „die Verhinderung von irregulärer Einwanderung nach Europa und die Kontrolle der Grenzsicherheit“. Es geht also nicht um das Retten von Menschenleben sondern um die Abwehr von Flüchtlingen, die von vornherein als kriminell und als Sicherheitsrisiko für die Länder der EU gebrandmarkt werden.
Auch die EU-Operation „Sophia“ hatte nicht die Seenotrettung als oberstes Ziel. Sie diente in erster Linie dazu, die Überfahrt von Flüchtlingen vom afrikanischen Kontinent nach Europa zu verhindern. Die Europäische Kommission fasste zusammen: „Seit Sommer 2015 patrouillieren Militärschiffe der EU-Staaten im Rahmen der Operation ‚Sophia‘ vor der Küste Libyens. Deren Hauptaufgabe besteht darin, Schlepperboote aufzuspüren, zu entern und die Besatzung festzunehmen.“ Im März 2019 wurde die Mission eingestellt.
Kriminalisierung von Rettung
Das staatliche Versagen versuchen private Seenotretter_innen abzufedern. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen sind seit Anfang 2015 im Mittelmeer unterwegs. Doch, wie erst jüngst der Fall der Sea Watch-Kapitänin Carola Rackete zeigte, setzen die Herrschenden alle Hebel in Bewegung, um die Rettung der Flüchtlinge zu verhindern. Nicht nur, dass die Verantwortlichen keine Hilfe leisten, sondern sie kriminalisieren die NGOs.
Anfang August verschärfte Italien unter Führung des damaligen Innenminister Salvini die Strafen für „illegale“ Seenotrettung. Für unerlaubtes Einfahren in italienische Hoheitsgewässer kann eine Geldstrafe bis zu einer Million Euro fällig werden, Schiffe dürfen konfisziert werden. Kapitän_innen, die Widerstand gegen Stoppversuche ihrer Rettungsschiffe leisten, droht bis zu zehn Jahre Haft. Während Salvinis Amtszeit ist die Todesrate im Mittelmehr im Vergleich zum Juni 2015 um das Achtfache gestiegen.
Zwar ist Salvini eine der grausamsten Figuren der Flüchtlingsabwehr und er handelt aus tiefster Überzeugung – verantwortlich ist er dennoch nicht alleine. Das Vorgehen entspricht genau dem von der EU forcierten Kurs. Immer wieder wird NGO-Schiffen die Einfahrt in Häfen verweigert. Wie etwa der „Ocean Viking“, ein Schiff der Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée. Die 356 Migrant_innen an Bord durften erst am Samstag, 24. August nach zweiwöchiger Irrfahrt an Land, nachdem sich sechs EU-Länder endlich gönnerhaft zur Aufnahme der Menschen bereit erklärt hatten. Österreich ist nicht darunter.
Gewalt an Grenzen
Dass so viele Menschen den gefährlichen Weg übers Mittelmeer nehmen müssen, liegt vor allem daran, dass Frontex alle Landwege abriegelt – mit brutalsten Methoden. Schon mehrmals wurden der EU-Organisation Menschenrechtsverletzungen nachgewiesen.
Anfang August dieses Jahres veröffentlichten Journalisten interne Frontex-Berichte, die beispielsweise rechtswidrige Abschiebungen von unbegleiteten Minderjährigen dokumentieren. Außerdem werden Flüchtlinge regelmäßig misshandelt. So berichtet etwa eine Gruppe von Afghanen, die 2016 die Grenze von Serbien nach Ungarn überqueren wollten, dass Grenzbeamte (die unter der Aufsicht von Frontex stehen) sie mit Hunden gejagt (viele von ihnen wurden gebissen), sie mit Schlagstöcken verprügelt und ihnen Pfefferspray direkt ins Gesicht gesprüht haben. Außerdem wurde den Flüchtlingen ihr gesamtes Bargeld abgenommen.
Für ihren „Einsatz“ wird Frontex massiv aufgestockt: 2015 hatte die Agentur 336 Mitarbeiter, 2019 sind es 1.500 Mitarbeiter. Bis 2027 sollen 10.000 Mitarbeiter die Grenzen bewachen. Das Budget dafür wurde von 142 Millionen Euro im Jahr 2015 auf 320 Millionen Euro im Jahr 2018 erhöht. Für 2021 sind Zahlungen in Höhe von 1,6 Milliarden Euro geplant.
Außerdem werden die Kompetenzen von Frontex stetig ausgeweitet, beispielsweise durch das millionenschwere Überwachungsprogramm Eurosur. Der Tätigkeitsbereich erstreckt sich mittlerweile über die Grenzen der EU hinaus, damit die Flüchtlinge möglichst weit weg von Europa sterben und sich die EU heuchlerisch mit weißer Weste zeigen kann.
Doch das ist nur ein Grund. Vorrangig geht es bei der Verlagerung der Grenzen und der Flüchtlingsabwehr tief nach Afrika hinein um den Einfluss auf die afrikanischen Staaten, wie am Beispiel der Sahelzone deutlich wird. Dort drohen seit längerem dschihadistische Kräfte die Regierungsmacht an sich zu reißen, beispielsweise in Mali, was das Ende für die dortige, der Kolonialzeit entstammende französische Vorherrschaft bedeuten würde. Frankreich ist deshalb auf die finanzielle und militärische Hilfe von USA, EU und Saudi-Arabien angewiesen.
Ein weiteres Projekt nennt sich „Rock“, welches einen „verstärkten Informationsaustausch“ zwischen Frontex und Staaten in der Sahara-Region zum Ziel hat. Die EU investiert dort in Überwachungstechnologien, den Bau von Zäunen, die Kontrolle von Wasserstellen und leistet Zahlungen zur Flüchtlingsbekämpfung.
So bekam allein der Sudan in den letzten vier Jahren 200 Millionen Euro bereitgestellt. Das Ergebnis: „Die Sahara ist mittlerweile ein Friedhof unter freiem Himmel“, so der Chefredakteur eines Nachrichtensenders in Niger in der ZDF-Doku Türsteher Europas – Wie Afrika Flüchtlinge stoppen soll. Laut Schätzungen der UNHCR sterben mittlerweile mehr Menschen in der Sahara, als im Mittelmeer. Häufig werden dort Menschen entführt und in die Sklaverei verschleppt.
Todesroute Balkan
Auch die sogenannte Balkanroute wird immer mehr zur Todeszone. Seit Juli 2013 kamen dort mindestens 206 Menschen ums Leben – und das sind nur die offiziellen Zahlen. Das ARD-Studio Südosteuropa sammelte Informationen zu den Todesfällen: „Die Menschen wurden erschossen, sind erstickt, erfroren, ertrunken, wurden von Zügen überrollt oder starben in Schlepperautos. Einige begingen Suizid. Kranke Menschen starben, weil sie unzureichend medizinisch versorgt wurden.“
Die Polizeigewalt an den dortigen Grenzen nimmt jeden Tag zu. Das zeigen Berichte von Flüchtlingen, beispielsweise von der Grenze zwischen Bosnien und dem EU-Land Kroatien: „Früher haben sie nicht geschlagen. Sie haben uns nur zurückgeschickt und die Handys zerstört. Aber jetzt nehmen sie unser Geld, nehmen die Handys und jetzt schlagen sie. Sie brechen Arme, Beine, Köpfe. Es ist sehr schlimm.“
Mittlerweile streiten die Mächtigen diese Gewalt nicht einmal mehr ab. Anfang Juli sagte die kroatische Präsidentin Kolinda Grabar-Kitarović: „Natürlich gibt es ein bisschen Gewalt, wenn Sie Menschen abschieben. Mir wurde vom Innenminister, vom Polizeichef und von den Polizisten vor Ort, die ich getroffen habe, immer wieder versichert, dass sie nicht zu viel Gewalt anwenden.“ Die Präsidentin eines EU-Landes findet es also in Ordnung, wenn Polizisten gegenüber Menschen ohne gültige Papiere an einer EU-Grenze „ein bisschen Gewalt“ anwenden.
Verstärkt wurden Berichte über Gewalterfahrungen seit 2015 laut. Zur Erinnerung: Genau in dem Zeitraum forderte der damalige Integrationsminister Sebastian Kurz die Schließung der Balkanroute und unterstützte Ungarn bei seinem Plan, einen Grenzzaun zu Serbien zu errichten.
Am 24. Februar 2016 fand in Wien eine Westbalkankonferenz statt, auf der die Schließung offiziell besiegelt wurde. Wenig später, am 18. März 2016 wurde der EU-Türkei-Deal geschlossen. Ein weiteres Mal zahlt die EU Geld an einen autoritären Herrscher, um für sie die Drecksarbeit zu erledigen. Mittlerweile arbeitet auch Slowenien am Bau eines Grenzzauns zu Kroatien.
Angekommen, und dann?
Die Zustände in den – ebenfalls von der EU finanzierten – libyschen Lagern werden selbst vom Auswärtigen Amt Deutschlands mit denen in Konzentrationslagern verglichen. Systematische Exekutionen, Folter, Vergewaltigungen und Menschenhandel stehen dort auf der Tagesordnung.
Syrische Flüchtlinge im Nachbarland Libanon werden im Stich gelassen: „Wir haben leider einen Punkt erreicht, an dem wir nicht allen helfen können. Nicht alle Flüchtlinge erhalten die gleiche humanitäre Hilfe. Unsere Mittel und Ressourcen sind begrenzt“, erklärt Lisa Abou Khaled vom UNHCR in Beirut. Aber selbst wenn ein Flüchtling es nach Europa geschafft hat, endet das Martyrium nicht.
Mit Innenminister Horst Seehofer verschärfte sich der Anti-Flüchtlings-Kurs in Deutschland. Er freut sich über 69 abgeschobene Flüchtlinge an seinem 69. Geburtstag, grölt nach Obergrenzen und lässt sogenannte „Ankerzentren“ einrichten. Das sind nichts anderes als Gefängnisse, in denen die Menschen darauf warten, abgeschoben zu werden.
Dort kommt es immer wieder zu rassistischen Übergriffen durch das Sicherheitspersonal. In Bamberg wird momentan gegen Security-Mitarbeiter ermittelt. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie Bewohner des Zentrums misshandelten, sie schlugen, Pfefferspray einsetzten und auf am Boden liegende Menschen eintraten.
In einer Whats-App-Gruppe von Sicherheitskräften, die sich „Sons of Odin“ nennen, heißt es beispielsweise „Und gerade hab ich ein Senegalesen gelegt“, oder „Wir sind uns einig, der ‚Nigga‘ hat keine Rechte“. Der Verfassungsschutz will davon nichts gewusst haben.
Dabei ist der Einsatz von rechtsextremen Securities keine Seltenheit. Die Soziologin Aino Korvensyrjä, die über die deutsche Abschiebepolitik promoviert, sieht die Ursache in der Struktur des Staats: „Security-Gewalt ist Teil von einem Komplex. Sie findet immer in Zusammenarbeit mit der Polizei statt.“
Flüchtlinge würden sich kaum trauen, Alarm zu schlagen, da sie dann meist selbst in Haft landen. Auch Dolmetscher würden in solchen Fällen kaum eingesetzt. „Gewalt ist Teil der inoffiziellen Abschiebepolitik. Die Einschüchterung soll die Leute zur Selbstabschiebung bringen. Weil die Situation im Lager letztlich nicht mehr sicher ist.“
Ein Geflüchteter, der im Bamberger Lager selbst Übergriffe erlebte und bei der Ermittlung gegen die Sicherheitskräfte als Zeuge aufgeführt war, wurde von der oberfränkischen Regierung kurzerhand abgeschoben, noch bevor es zur Aussage kam.
Auch in Österreich versuchte Ex-Innenminister Kickl einen Umbau von Asylheimen zu sogenannten „Ausreisezentren“, in denen unter anderem Ausgangsverbote geplant waren.
Verstärkt Abschiebungen
Zwar nimmt die Zahl der letztlich in Europa ankommenden Flüchtlinge – aus offensichtlichen Gründen – immer weiter ab, die Zahl der Deportationen jedoch steigt. In Österreich nahm die Anzahl der Abschiebungen 2018 im Vergleich zum Vorjahr um 46% zu.
Im Rahmen eines neuen „Migrationspakets“ trat am 21. August dieses Jahres in Deutschland ein neues Gesetz in Kraft, das „Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“, von Pro Asyl passenderweise „Hau-ab-Gesetz“ getauft. Das erschwert beispielsweise, ein Attest für ein Abschiebungsverbot zu bekommen.
Die Polizei darf ohne richterlichen Beschluss in Wohnungen eindringen, um Menschen abzuholen, die Schubhaft kann in gewöhnlichen Gefängnissen durchgeführt werden und der komplette Ablauf einer Abschiebung wird als Dienstgeheimnis behandelt.
Dazu kommt, dass bei Abschiebungen ohnehin mit staatlicher Willkür vorgegangen wird. In Deutschland war im Jahr 2017 etwa jeder dritte negative Bescheid nicht korrekt. In Österreich mussten im selben Zeitraum 36% der vor Gericht angefochtenen Bescheide geändert werden. Das Regensburger Bündnis gegen Abschiebelager berichtet, dass in den letzten Wochen wieder verstärkt abgeschoben wird. Vor allem nachts würde die Polizei ohne Vorwarnung Menschen abholen.
Lösung offene Grenzen
Spätestens seit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten erstarken weltweit rechtsextreme Parteien. Die rassistische, islamfeindliche Hetze von Salvini, Orban, FPÖ, Bolsonaro usw. schafft eine breitere Akzeptanz für Gewalt gegen Flüchtlinge. Erstarkender Nationalismus und die damit verbundene, absurde Forderung nach mehr „Sicherheit“ vor einer imaginierten Islamisierung erleichtern staatliche Willkür.
Gezieltes Verbreiten von Lügen – wie Seehofers Behauptung, syrische Flüchtlinge würden Erholungsurlaub im Heimatland machen – tragen dazu bei. Mittlerweile ist die angebliche Notwendigkeit, die Grenzen und damit die „Heimat“ mit Gewalt zu verteidigen, innerhalb der bürgerlichen Mitte – von Konservativen zu Liberalen – zum Konsens geworden. Die Forderung nach offenen Grenzen (für Menschen, nicht nur, wie jetzt, für Kapital) sorgt für Entsetzen, anstatt als menschenwürdige Lösung gesehen zu werden.
Zwar gibt es von vielen Seiten Kritik und auch Widerstand, doch der verstärkte Einsatz von Gewalt gegen Flüchtlinge, die militärische Aufrüstung vor allem beim Grenzschutz, die Zusammenarbeit mit Diktatoren und nicht zuletzt die enormen Summen, die dafür aufgewendet werden, zeigen, dass die Herrschenden eine akkordierte Strategie verfolgen.
Die Kreation eines Feindbildes des „Fremden“, die Sicherung ihres wirtschaftlichen Einflusses, beispielsweise auf rohstoffreiche Gebiete, und die Abwehr von zukünftigen, vor allem aufgrund des Klimawandels rasant steigenden Flüchtlingsströmen (und damit der Mord an Millionen Menschen) sind gemeinsame Teile dieser Strategie. Die Flüchtlingspolitik der EU lässt sich mit einem Tweet von Salvini recht gut zusammenfassen: „Mehr Macht für Ordnungskräfte, mehr Grenzkontrollen, mehr Offiziere.“