Militärputsch in Türkei zurückgeschlagen: Mehr Demokratie ist möglich!

Die Menschen auf den Straßen von Istanbul und Ankara haben in der Nacht von Freitag auf Samstag einen Putsch von Teilen des türkischen Militärs gegen die AKP-Regierung abgewehrt. Die Putschisten wurden zum Teil von Demonstrant_innen selbst verhaftet. Aus der Demonstration gegen den Putsch in Wien wurde eine laute Jubeldemo.
17. Juli 2016 |

Wir wurden Zeuge eines historischen Ereignisses in der Türkei. Die Bevölkerung hat in der Nacht von 15. auf 16. Juli 2016 mit Massenmobilisierungen erfolgreich einen Militärputsch abgewehrt. Nicht nur Anhänger_innen der AKP, auch Menschen, auf die Präsident Recep Tayyip Erdoğan im Gezi-Park hat schießen lassen, sind auf die Straßen und haben der Ausgangssperre getrotzt. Der Putsch war in dem Moment gescheitert, als klar wurde, dass das Militär weder über die nötige Entschlossenheit noch Disziplin verfügten, um die Menschen zusammenzuschießen.

Heimliche und offene Putschbefürworter weltweit wurden herb enttäuscht. Mit auffälliger Verzögerung meldeten sich US-Präsident Barack Obama und die EU-Regierungen zu Wort und verurteilten den Militärputsch. Der Autor und Nahostkorrespondent Karim El-Gawhary schrieb auf Facebook: „Ich bin sicher, dass sich der Westen heute Morgen sofort mit den Putschisten arrangiert hätte, wenn diese erfolgreich gewesen wären, so wie man es im Falle Ägyptens gemacht hat.“

Putsch nicht unerwartet

Neue Linkswende steht Seite an Seite mit den Verteidigern der Demokratie und rief noch Freitagnacht in Wien zur Demonstration gegen den Putsch für den nächsten Tag auf. Unterstützt wurde der Protest von der AKP-nahen „Union of European Turkish Democrats“ (UETD).

Eile war in den Stunden des versuchten Staatstreichs geboten. Teile des türkischen Militärs sympathisierten schon länger mit einer „ägyptischen Lösung“. Im Sommer 2013 putschte General Abdel Fattah el-Sisi gegen die Muslimbruderschaft und ließ über 1.000 Menschen in Kairo und Gizeh abschlachten und Zehntausende in den Gefängnissen foltern. Und die Erfahrungen des türkischen Militärcoups 1980 sitzen den Menschen bis heute tief in den Knochen – damals wurden über eine halbe Million Menschen festgenommen, 210.000 Menschen vor Gericht gestellt und hunderte ermordet. Vier solcher Militärcoups hat die Türkei erlebt: 1960, 1971, 1980 und 1997.

„Kein Demokrat darf sich über einen Militärputsch freuen“, schrieb SPÖ-Gemeinderat Omar Al-Rawi auf Facebook. Die Ablehnung des Putsches bedeutet nicht, dass man Präsident Erdoğan und seine Regierung unterstützt. Es heißt, dass man heute sein Feuer auf die unmittelbare Bedrohung konzentriert, um morgen Widerstand gegen andere Feinde leisten zu können.

Massen verteidigten Demokratie

Es darf nicht verwundern, dass ein Teil der Armee gegen Erdoğan putschen wollte. Bereits 2003 planten Militärs einen Putsch gegen die AKP-Regierung. Nach der Vereitelung und Aufdeckung dieser Verschwörung wurden Dutzende Generäle vor Gericht gestellt und eingesperrt – unter tosendem Applaus der Bevölkerung. Aber Erdoğan änderte seinen Kurs: Er entließ die Putsch-Generäle wieder aus den Gefängnissen und entfachte einen Krieg gegen die kurdischen Regionen. Seither ging die AKP-Regierung auf die Demokratie-Bewegung los, auf demonstrierende Arbeiter_innen und entfachte schlimmste Repressionen gegen die Pressefreiheit. Aus all dem tankten die Militärs neues Selbstvertrauen.

Aber die Generäle haben nicht mit dem heldenhaften Widerstand der Bevölkerung gerechnet. Die Zivilbevölkerung hat nicht zugelassen, dass eine demokratisch gewählte Regierung von einem durch und durch undemokratischen Armeeapparat gestürzt wird. Die Bilder von ganz einfach Menschen, die sich Panzern in den Weg stellten und Soldaten gefangen nahmen, bilden einen fantastischen Bruch in der türkischen Geschichte der Militärherrschaft.

Unterdrückte müssen sich selbst wehren

Ob uns es gefällt oder nicht, die AKP genießt noch immer Massenunterstützung. Die AKP hat die Wut auf die türkischen Eliten und den Protest gegen 75 Jahre Ausgeschlossensein sehr geschickt ausgenutzt. Dazu muss man wissen, dass, bevor die AKP an die Macht kam, praktizierende Muslim_innen (sie werden oft als die „rückständigen Anatolier“ verhöhnt) weder studieren durften, noch im Staatsdienst arbeiten.

In Österreich ist der größte Teil der türkischen Arbeiter_innen dieser Herkunft und hier sind sie demselben Chauvinismus wie in der Türkei ausgesetzt. Wir brauchen diese Menschen und ihr Selbstvertrauen, und müssen Wege finden, damit sie sich gegen Rassismus und die FPÖ zur Wehr setzen. Die in Österreich unter der Linken weit verbreitete Islamfeindlichkeit ist ein riesiges Hindernis dabei. Alle, die den Putsch begrüßt haben, sollten sich der Konsequenzen ihrer beschämenden Haltung bewusst sein.

Nicht unausweichlich

Erdoğan wird den gescheiterten Putsch zweifellos dazu nutzen, seine persönliche Macht auszubauen und seine Gegner anzugreifen – die Attacken auf die Freiheit der Presse und Lehre in den letzten Monaten könnten fortgesetzt werden. Aber das muss nicht zwangsläufig so sein.

Die Art und Weise, wie die Putschisten besiegt wurden – mit Massenmobilisierungen – könnte auch den Weg für eine demokratischere Türkei eröffnen. Der Kampf für mehr Demokratie muss weiter gehen – gegen Erdoğans persönlichen Machtausbau; gegen die Vorstellung, dass das Militär der ultimative Verteidiger der Verfassung sei; und für ein Ende des blutigen Kriegs gegen die Kurden.

Erklärung zum Anti-Putsch-Protest: Vereint die Kräfte gegen die FPÖ!

Erklärung zum Anti-Putsch-Protest: Vereint die Kräfte gegen die FPÖ!

Wir können diese Lehre auch für Österreich ziehen. Nicht nur müssen wir Muslime gegen Islamfeindlichkeit verteidigen, wir müssen auch die Zusammenarbeit mit der türkischen Community im Kampf gegen die FPÖ intensivieren. Nur gemeinsam mit den von Rassismus Betroffenen kann die größte Bedrohung für die Demokratie hierzulande besiegt werden.

 

Anmerkungen zur Demonstration in Wien:

  1. Kurdinnen und Kurden wären die ersten Opfer eines erfolgreichen Putsches gewesen. Umso schäbiger ist es, dass eine Gruppe junger Nationalisten im Zuge der Demonstration über die Mariahilfer Straße das türkische Lokal „Türkis“ attackierte, dass sie fälschlicherweise für ein PKK-Lokal hielten. Neue Linkswende verurteilt diesen dummen Angriff auf das Schärfste. Wir stehen für die Selbstbestimmung der kurdischen Bevölkerung und unterstützen ihren Kampf für Frieden und Demokratie. Die Aktivist_innen der Neuen Linkswende verließen die Demonstration aus Protest gegen die Attacke.
  2. Unter den Protest mischten sich einzelne türkische Faschisten („Graue Wölfe“). Die Bewegung darf nicht zulassen, dass Faschisten die Bewegung für ihre Zwecke missbrauchen – es würde den Kampf für Demokratie und gegen die FPÖ schwächen. Dort, wo sich die Grauen Wölfe zu erkennen gaben, wurden sie von Aktivist_innen der Neuen Linkswende attackiert. Die Mehrheit der Anwesenden, die die Konfrontation mitverfolgten, haben dieses Vorgehen durch gemeinsames Rufen von „Schulter an Schulter gegen Faschismus“ unterstützt.
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.