Protest nach Pariser Anschlägen: Flüchtlinge sind nicht die Sündenböcke

3.500 Menschen demonstrierten am Samstag, 14. November, vor dem Innenministerium und forderten „Lasst die Grenzen offen!“. Nach den neuerlichen Anschlägen von Paris hatten die Teilnehmenden klar, dass man nun nicht Flüchtlinge und Muslim_innen kriminalisieren dürfe.
14. November 2015 |

Vor weniger als 24 Stunden sind in Paris mindestens 129 Menschen bei Anschlägen ums Leben gekommen. Auf der Kundgebung „Lasst die Grenzen offen“ am Samstag, 14. November, vor dem Innenministerium in Wien waren die Anschläge natürlich das alles dominierende Thema. Schließlich haben europäische Politiker sofort unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Attentate völlig unhaltbare Zusammenhänge zwischen Flüchtlingsbewegungen und Terrorattentaten hergestellt.

„So viele Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen, das muss unsere Antwort sein.“ (Erich Fenninger, Volkshilfe) 

„Es fällt schwer, nach den Verbrechen von Paris heute zu sprechen, unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Angehörigen“, sagte Erich Fenninger von der Volkshilfe Österreich zu Beginn der Kundgebung. „Aber ich warne davor, aus den Anschlägen die falschen Schlüsse zu ziehen. Denn es ist unerträglich, wenn Europa jenen Menschen, die vor solchen Terrorbanden fliehen, die kalte Schulter zeigt und Zäune aufstellt. Keine Festung Europa, sondern so viele Menschen wie möglich in Sicherheit zu bringen, das muss unsere Antwort sein.“

Mitglieder der Volksgruppe der Hazara müssen in Afghanistan um ihr Leben fürchten. Sie werden von Taliban und Islamischen Staat bedroht und suchen in Österreich Schutz. Hunderte Afghan_innen zogen lautstark auf die Kundgebung und machten auf die dramatische Sicherheitslage aufmerksam. Die deutsche Bundesregierung will wieder nach Afghanistan abschieben und in Österreich soll der Familiennachzug erschwert werden – damit würden Familien faktisch in den Tod geschickt.

Ursache und Wirkung nicht vertauschen

Zeitgleich mit der Demonstration wurde in Wien der Syrien-Gipfel mit Spitzenpolitikern aus aller Welt abgehalten. Und auch, wenn Politiker_innen wie Frankreichs Regierungschef Hollande es nicht öffentlich zugeben würden, ist ihnen natürlich bewusst, dass die imperialistischen Interventionen im Mittleren Osten und in Nordafrika Terrorgruppen wie den Islamischen Staat (IS) überhaupt erst entstehen ließen – daher auch die Vorsichtsmaßnahmen mit schwer bewaffneter Polizei in Wien. Es war der Einmarsch in den Irak und die systematische Unterdrückung des sunnitischen Teil der Bevölkerung, welche die Milizen der IS entstehen ließen.

Mauern können auch eingerissen werden: Vor dem Innenministerium wurden offene Grenzen gefordert. © Mohammad M. Manshadi
Mauern können auch eingerissen werden © Mohammad M. Manshadi

Militärische Maßnahmen können das nicht rückgängig machen, sondern nur verschlimmern. Von August 2014 bis 2015 haben die 52 von den USA angeführten Luftschläge in Syrien mindesten 459 zivile Opfer („non-combatant deaths“) gefordert, darunter mehr als 100 Kinder. Seit September führt auch die französische Luftwaffe Luftschläge in Syrien durch. Vergessen wir also nicht, wer die wahren Urheber von Terror sind und seien wir uns im Klaren, dass Terroranschläge kaum jemals diese Verantwortlichen getroffen haben. Wir lehnen Terror ab und wir verurteilen das unnötige Morden, aber wir vertauschen nicht Ursache und Wirkung.

Rechte wittern Morgenluft

Horst Seehofer von der bayrischen CSU ist einer der Scharfmacher gegen Flüchtlinge. Nach den Anschlägen sagte er vor dem CDU Parteitag: „Es geht um die Wiederherstellung von Recht und Ordnung in Europa. Dazu gehört, dass Schengen wieder angewandt wird“. Sein Finanzminister Markus Söder sagte: „Paris ändert alles … Die Zeit unkontrollierter Zuwanderung und illegaler Einwanderung kann so nicht weitergehen.“

„Leider schränkt der notwendige Kampf gegen den Terror auch unsere Bürgerrechte ein“, twitterte ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka und drängte darauf, endlich das neue Staatsschutzgesetz umzusetzen. Diese Vorstöße der Rechten, die nach so einer Tragödie natürlich Morgenluft wittern, müssen wir Aktivist_innen aus der Flüchtlingsbewegung dringend kontern. Alexander Pollak von SOS Mitmensch sprach den 3.500 Demonstrant_innen aus dem Herzen: „Als ich heute gesehen habe, dass Medien den furchtbaren Terror nutzen, um gegen Flüchtlinge Stimmung zu machen, habe ich beschlossen hierher zu kommen. Nein zur Verschärfung der Asylgesetze durch die Regierung!“

Standhafte Linke

Anahita Tasharofi von der Initiative „Flucht nach vorne“ beeindruckte mit ihren klaren Worten: „Der Terror betrifft uns alle. Nun sollten wir umso besser verstehen, wovor Geflüchtete jeden Tag fliehen, wovor sie sich fürchten. Jetzt müssen wir umso stärker zusammenhalten. Kriminalisieren wir nicht die Falschen, schützen wir Menschen auf der Flucht. Lassen wir nicht zu, dass rechte Parteien diese Situation für ihre eigenen Zwecke ausnützen und noch mehr Angst und Hass schüren.“

Anahita ist bekannt geworden, als ein Begleiter von Innenmisterin Mikl-Leitner sie Anfang September vor laufenden Kameras zu Boden stieß, weil sie lautstark die Innenmisterin kritisiert hatte. Wenig später fand sie sich unter jenen Menschen wieder, die für ihre Hilfeleistungen wegen des „Verdachts der Schlepperei“ angezeigt wurden – allerdings wurden die Ermittlungen gegen sie inzwischen wieder eingestellt.

Freiwillige in Spielfeld: „Wir kochen an einem starken Tag fünf Tonnen“

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Solche Standhaftigkeit der engagierten und solidarischen Menschen wird es weiterhin brauchen, wenn wir den außergewöhnlich weltoffenen Zustand Österreichs beibehalten wollen. Internationale Solidarität muss weiterhin die Reaktionen unserer Gesellschaft auf die massenweise Ankunft von Flüchtlingen prägen. Deshalb müssen wir direkt froh sein, dass wir die Gelegenheit hatten, am Morgen nach den Anschlägen ein kräftiges Zeichen der fortgesetzten Solidarität mit Flüchtlingen zu setzen. Nur so werden wir offene Grenzen und die Grundidee der universellen Menschenrechte verteidigen können.

„Lasst die Grenzen offen! – Kundgebung gegen Grenzzäune vor dem Innenministerium am 14.11.2015

Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.