Raissa Adler
Raissa Timofejewna Epstein, geboren 1872 in Moskau, reiste 1896 nach Wien und verliebte sich hier in ihren späteren Mann Alfred Adler. Raissa war eine begeisterte Sozialistin und eine der entschlossensten Vorkämpferinnen der österreichischen Frauenbewegung. Als junge Mutter publizierte sie 1899 in der von den Frauenrechtlerinnen Fickert, Lange und Mayreder herausgegebenen Zeitung Dokumente der Frauen einen Artikel über die nötige Öffnung des Medizinstudiums für Frauen.
Raissa war Mitbegründerin der Internationalen Arbeiterhilfe in Österreich. Sie trat der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei, engagierte sich weiter für Frauenfragen und kam in den Ausschuss der Roten Hilfe. Anfang der 1930er-Jahre wirkte Raissa dazu im Vorstand des Vereins für Individualpsychologie und unterstützte ihren erfolgreichen Mann Alfred, den Begründer der Individualpsychologie. Sie gebar vier Kinder. Aber Muttersein genügte der aktiven revolutionären Intelektuellen nicht. Alfred reiste beruflich häufig und das Paar erlebte einige Ehekrisen.
Mit Trotzki gegen Stalin
Bei der befreundeten russischen Emigrantin Aline Furtmüller traf Raissa in Wien die russische Revolutionärin Natalja Sedowa. Natalja flüchtete 1907 gemeinsam mit ihrem Mann, dem Revolutionsführer Leo Trotzki, aus der Verbannung in Sibirien nach Wien. Raissa knüpfte enge Bande zu den beiden. Der revolutionäre Exil-Kreis rund um Trotzkis Zeitschrift Prawda verkehrte mit den Adlers. Raissas Freundschaft und Zusammenarbeit mit Trotzki führte Jahre später zum Zerwürfnis mit der KPÖ.
Wegen Stalins Konterrevolution befanden sich Trotzki und aufrechte Revolutionär_innen von 1917 nun in linker Opposition. Stalins brutaler Machtkampf weitete sich auf kommunistische Parteien weltweit aus. Raissas Verbündete Isa und Josef Strasser, Mitbegründer der KPÖ, wurden wegen „trotzkistischer Abweichungen“ 1929 aus der Partei ausgeschlossen.
Raissa Adler mit Kindern Valentine, Alexandra, Nelly und Kurt © Alfred Adler Institute of San Francisco and Northwestern Washington
Im Jänner 1930 bekam Raissa vom KPÖ-Politbüro eine Warnung, da sie „an Sitzungen der aus der Partei ausgeschlossenen trotzkistischen Liquidatorengruppe“ teilnahm, gefolgt von der Aufforderung „an der Säuberung der Partei von opportunistischen Elementen“ mitzuarbeiten.
Unmissverständlich schrieb Raissa im Antwortbrief: „Jawohl Genossen, ich bin für eine Säuberung der Partei von allen opportunistischen, bürokratischen Elementen, von oben bis unten, und weil es mir ernst damit ist, bekenne ich mich voll und ganz zur linken Opposition.“
Ihr Lesetipp an die Parteiführung war Trotzkis präzise Analyse Die österreichische Krise, die Sozialdemokratie und der Kommunismus. Sie blieb sich treu und übersetzte Trotzkis Werke für den deutschen Sprachraum.
Flucht vor Faschismus
Nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 wurde die Unbeugsame von den Austrofaschisten zwei Tage inhaftiert. Die Bedrohung durch den Faschismus veranlasste Alfred Adler 1935 Raissa persönlich in die USA zu holen. Sie entkam dadurch dem Grauen der Schoah, aber litt unter dem Exilantinnendasein in New York. Alfred starb im Jahr 1937. 1940 wurde Trotzki von Stalins Handlangern in Mexiko ermordet.
Stalins Spitzelwesen funktionierte. Österreichische Stalinisten hatten Raissa in Moskau denunziert. Eine vertrauliche Mitteilung aus Russland 1936 endete mit dem bedrohlichen Satz: „Da sie Österreicherin ist, werden wir uns noch mit der Tochter, die hier lebt, weiter beschäftigen.“
Im Rahmen der Schauprozesse und Säuberungswelle warf man der ältesten Tochter Valentina also Verbindungen zu Trotzkisten im Ausland vor. Stalins Schergen verhafteten sie und ihren Mann im Jahr 1937. Die Verurteilung Valentinas zu 8 Jahren Lagerhaft blieb 15 lange Jahre die einzige Information.
Albert Einstein unterstützte Raissa und richtete zahlreiche Anfragen über das Schicksal ihrer Erstgeborenen an die sowjetischen Behörden. Erst 1952 kam die Todesnachricht. Valentina Adler war im Sommer 1942 im Gulag verstorben. Raissa Adler arbeitete im hohen Alter als Vorsitzende des Exekutivkomitees der Individual Psychology Association in New York. 1954 wurde sie zur Ehrenpräsidentin des Verwaltungsrates gewählt. Die Leidgeprüfte lebte zurückgezogen, blieb dennoch politisch aufrecht, bis sie am 21. April 1962 im Alter von 88 Jahren verstarb.