Referendum in Katalonien: Millionen trotzen der Polizeirepression

Über zwei Millionen Menschen stimmten am Sonntag, 1. Oktober für die Unabhängigkeit Kataloniens – trotz unfassbarer Polizeigewalt. Der sozialistische Aktivist David Karvala war den ganzen Sonntag vor seinem Wahllokal im Einsatz und berichtet direkt aus Barcelona.
2. Oktober 2017 |

Rund 200 Menschen warteten um 20:00 Uhr vor meinem Wahllokal in Barcelona auf das Ende des Referendums über die Unabhängigkeit. Sie zählten die Sekunden, dann gab es Applaus. Einige waren bereits seit 5:00 Uhr früh, andere blieben sogar in der Nacht auf Sonntag dort, um das Wahllokal offen zu halten. Wir blieben dann noch für weitere Stunden vor Ort und verteidigten die Wahlurnen beim Auszählen. Bei uns stimmten 80 Prozent für die Unabhängigkeit – 1.300 beteiligten sich an der Abstimmung, ein gewaltiges Ergebnis angesichts der Größe des Wahlkreises und der Polizeirepression.

Die Universität in Barcelona vor dem Referendum. Foto: Guy Smallman

Nur knapp einen Kilometer entfernt von uns griffen die paramilitärischen Einheiten der Guardia Civil brutal ein anderes Wahllokal an und entwendeten die Wahlurnen. Wie waren eines der wenigen Wahllokale in der Gegend, die nicht angegriffen wurden. Die katalanische Regierung veröffentlichte schockierende Videos von Polizeiangriffen auf Wahllokale. Aber am Ende zeigen diese Aufnahmen immer Menschen, die die Sondereinheiten der Polizei zurückdrängen. Sie zeigen Feuerwehrleute, die sich schützend vor Demonstrant_innen stellen – eine Entscheidung, die sie kollektiv in einer Versammlung getroffen haben.

Polizeibrutalität, die an Franco erinnert

Es gibt regelrechte Horrorgeschichten von der Polizeirepression. Die Polizei setzte Tränengas in einem kleinen Wahllokal in einer Stadt am Land ein. Ein Dorf mit 250 Einwohner_innen wurde von 60 bis 70 paramilitärischen Polizeieinheiten angegriffen. Die Polizei attackierte eine Frau, die für die Durchführung des Referendums verantwortlich war, rissen sie an den Haaren eine Treppe hinunter, griffen ihr auf die Brüste und brachen ihr dann die Finger, einen nach dem anderen.

Polizisten schossen aus kürzester Entfernung mit einem Gummigeschoss auf einen Mann, der notoperiert werden musste und möglicherweise ein Auge verlieren wird. Insgesamt wurden 844 Menschen verletzt, zwei davon schwer, 128 mussten zur weiteren Behandlung in Krankenhäuser gebracht werden.

Beeindruckender Widerstandsgeist

Es gibt aber auch Erfreuliches zu berichten. In der ländlichen Stadt Tàrrega versammelten sich 1.000 Menschen auf dem Platz vor dem Rathaus, um dort an einem einzigen Platz allen Menschen die Abstimmung zu ermöglichen. Um 5:00 Uhr schlossen sie alle anderen Wahllokale.

Einige unserer Kontakte sandten uns Videos von ihren Städten. Eines zeigt eine fast endlose Schlange vor einem Wahllokal in einem Vorort von Barcelona, wo mehrheitlich Spanisch, nicht Katalanisch gesprochen wird (durch Zuwanderung aus Südspanien in den 1960er-Jahren). Die spanische Polizei prügelt Spanisch sprechende Arbeiter_innen und treibt sie somit dazu, das Unabhängigkeitsreferendum zu unterstützen. Ein anderer Kontakt hat aus der Kleinstadt Pineda berichtet, dass die Polizei mit einem ganzen Bus anrückte, aber die Leute sie wieder vertrieben und zurückdrängten.

https://www.facebook.com/EuropeSaysOXI/videos/2038964272990712/

 

Im ganzen spanischen Staat gab es spontane Solidaritätsdemonstrationen gegen die Repression. Rund 3.500 Menschen gingen in Valencia auf die Straße, tausende in Madrid. Hunderte protestierten in Burgos, der Hauptstadt im Bürgerkrieg unter Diktator General Franco.

Niederlage für spanische Regierung

Es war ein ganz außergewöhnlicher Tag. Eine Gruppe Schotten war da, um uns zu unterstützen. Eine polnische Frau hat ein Lied auf Polnisch gesungen – wie sich herausstellte, war es ein Lied gegen Franco aus den 1970er-Jahren. Die bewegendsten Momente waren, wenn alte Menschen zur Wahl kamen, manchmal mit Gehstöcken oder in Rollstühlen. Sie wurden jedes Mal mit Applaus begrüßt.

Foto: Guy Smallman

 

Alles in allem dürfte der Polizei die Schließung nur ganz weniger Wahllokale gelungen sein. Jordi Turull, Sprecher der katalanischen Regierung, gab am Montag frühmorgens bekannt, dass 90 Prozent mit Ja gestimmt hatten (von 2,3 Millionen abgegebenen Stimmen). In Katalonien sind 5,3 Millionen Wähler_innen registriert. Turull sagte, dass bei der Zahl der ausgezählten Stimmen die von der Polizei beschlagnahmten Wahlzettel fehlen. Die spanische Polizei schloss oder stürmte rund 400 Wahllokale, in denen bis zu 700.000 weitere Menschen hätten wählen können. Angesichts der Repression ist das ein fantastisches Ergebnis.

Generalstreik am 3. Oktober

Die katalanische Regierung erklärte letzte Woche, dass sie bei einem deutlichen Ja die Unabhängigkeit erklären wird. Aber dafür gibt es keine Garantie. Der Kampf wird jetzt erst richtig angefeuert, nachdem die größten Gewerkschaftsbünde CCOO und UGT den Aufruf zum Generalstreik am 3. Oktober unterstützen. Die linken Gewerkschaften wie die CGT haben bereits dazu aufgerufen, und jetzt unterstützen auch noch die zwei größten Unabhängigkeitsbewegungen die Initiative.

Das Wichtigste in diesem Kampf ist: Überall in den Nachbarschaften Barcelonas und sogar in den kleinsten Dörfern gingen Menschen zu Zehntausenden auf die Straße und trotzten der Repression.