Syrien: Die tiefen Wurzeln der Katastrophe
Was sich derzeit in Syrien abspielt, kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden. Die furchtbare, humanitäre Katastrophe, 250.000 Menschenleben haben die Auseinandersetzungen bisher gekostet, sticht am stärksten hervor. Es werden gleichzeitig zwei Kriege auf syrischem Boden geführt, der originäre Konflikt zwischen dem Assad-Regime und der Opposition und der Bombenkrieg gegen den „Islamischen Staat“. In Syrien wurden die Rebellen, die gegen das Regime kämpfen zwischen Regierungstruppen und gut finanzierten islamistischen Milizen aufgerieben.
Krieg der Religionen?
In Syrien und im Irak gab es starke Interessen, die Konfliktlinien einerseits zwischen Assad-Regime und Opposition, andererseits zwischen irakischem Widerstand und US- bzw. NATO-Kräften zu ethnischen und religiösen Fronten zu machen.
Verstärkt wurde diese Tendenz durch die chaotischen Zustände in einem Bürgerkrieg sowie die Einmischung des sunnitischen Saudi Arabien und des schiitischen Iran. So überdecken heute in Syrien und im Irak religiöse Auseinandersetzungen die wahren Konflikte, die in jeder kapitalistischen Gesellschaft existieren, nämlich die zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, letztendlich zwischen Arbeit und Kapital. Erst eine Bewegung, die sich wieder an dieser Front engagieren kann, kann zu einer Lösung im Sinne der Menschen, die in der Region leben, führen. Um aber die aktuelle Situation zu verstehen, ist es zentral, zu sehen, wie es zu dieser gekommen ist.
Neoliberalismus
Der ökonomische Hintergrund, der sowohl die arabischen Revolutionen zum Ausbruch brachte als auch die Politik des Besatzungsregimes und der späteren Regierungen im Irak prägte und prägt, wird Neoliberalismus genannt. Die Staaten der Region befanden sich zu Beginn des Jahrhunderts in einem Übergangsprozess von einer staatlich dominierten Wirtschaft zu einer neoliberal „befreiten“ Ökonomie.
Doch im Gegensatz zu den Theorien des Neoliberalismus brachte diese Entwicklung, die vor allem von Privatisierungen bestimmt war, die Regimes und die Wirtschaft noch enger zusammen. Denn privatisiert wurde meist in die Taschen von Familienangehörigen und Günstlingen der jeweiligen Herrschenden. Privatisierungen und die ausufernde Korruption waren dann auch ein Anlass für die Beteiligung von organisierten Arbeiter_innen an den Aufständen von 2011. Durch den neoliberalen Rückzug der Staaten aus dem Sozialsystem konnten islamistische Gruppierungen profitieren, die die Gesundheitsversorgung usw. übernahmen.
Der neoliberale Umbau förderte auch eine sehr ungleichzeitige Entwicklung, etwa in Syrien, wo Regionen wie Deir Ezzor, Hassaka oder Raqqa verarmten – Gebiete, in denen heute der IS am stärksten ist. Eine weitere Ungleichheit vergrößerte sich enorm, nämlich die zwischen den ärmeren, bevölkerungsreichen Staaten im arabischen Raum und dem Reichtum der Golf-Staaten, deren Kapital in den letzten Jahren immer mehr globalen Einfluss gewann.
Stellvertreter-Krieg in Syrien
Imperialismus verstehen wir als die Verschränkung wirtschaftlicher Interessen von Staaten mit deren „Geostrategie“. In der Praxis bedeutet das Kampf um die Kontrolle strategisch wichtiger, rohstoffreicher Regionen oder wichtiger Absatzmärkte. In Syrien führt die imperialistische Logik, die der von Mafiabanden gleicht, zu Kriegen auf verschiedenen Ebenen. Hinter allem steht die „große“ imperialistische Konkurrenz zwischen den USA auf der einen Seite und Russland und China auf der anderen. So hat sich das Hauptaugenmerk amerikanischer Strategen längst auf den Pazifik gerichtet.
Ein wichtiger Faktor, der nur selten wahrgenommen wird, ist die momentane, relative Schwäche der USA, die einerseits durch die globale Wirtschaftskrise, andererseits durch die „Überdehnung“ im Irak bedingt ist.
Ein wichtiger Faktor, der nur selten wahrgenommen wird, ist die momentane, relative Schwäche der USA, die einerseits durch die globale Wirtschaftskrise, andererseits durch die „Überdehnung“ im Irak bedingt ist. Diese Schwäche hat es ermöglicht, dass „Nachwuchsimperialisten“ wie Saudi Arabien und der Iran größere Rollen spielen und ihre eigenen Ziele in Syrien verfolgen. In diese Kategorie fällt auch die Türkei, die in Syrien interveniert um ein Erstarken der kurdischen Kräfte zu verhindern.
Russische Bomber verteidigen das Assad-Regime, genauso wie iranische Truppen und Kämpfer der libanesisch-schiitischen Hisbollah. Je nach Angaben befinden sich 600 bis 800 iranische Militärberater in Syrien. Zuletzt wurde gemeldet, dass Qassem Soleimani, der Kommandant der Al-Quds-Brigaden, einer Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden, bei Homs verletzt wurde. Etwa 5.000 Soldaten der Hisbollah haben sich in den Kämpfen um Homs, Kusseir und zuletzt Allepo hervorgetan. Unterstützt werden diese Pro-Assad-Kräfte von ca. 10.000 schiitischen Milizionären. Ihnen stehen ca. 100.000 Bewaffnete der Ahrar al Sham, der Nusra-Front, der FSA (Freie Syrische Armee) und des IS gegenüber.
Sunni und Shia im Irak
Schon Saddam Hussein hatte nach den ersten US-Angriffen begonnen gegen schiitische Stämme im Süden des Landes vorzugehen und sich dafür die Unterstützung sunnitischer Gruppen zu sichern. Die Verantwortlichen der US-Besatzung sahen den Irak von Anfang an als einen religiösen Fleckenteppich an und führten ein Sunni/Shia/Kurden-Quotensystem ein, obwohl diese Aufteilung besonders im Irak niemals so streng war, interreligiöse Ehen normal waren und etwa Kurd_innen verschiedenen Strömungen des Islam angehören.
Um zu verhindern, dass schiitische und sunnitische Widerstandsgruppen gemeinsam gegen die US-Besatzung vorgehen, boten die USA, grob gesagt, den schiitischen Gruppen und Parteien den irakischen Staatsapparat an. Der junge schiitische Führer Al Sadre stand damals für den vereinten Widerstand, während der einflussreiche Ajatollah Sistani sich für die Zusammenarbeit mit den Besatzern aussprach. Die sunnitische Bevölkerung fühlte sich immer mehr ins Abseits gedrängt und schutzlos.
Verzweifelte Sunnit_innen
Um das Jahr 2006 konnten die Besatzer erstmals Erfolge im Kampf gegen die al-Qaida vermelden. Es war gelungen, sunnitische Stammeskämpfer in der Anbar-Provinz zu rekrutieren. Diese sogenannte Sawha-Bewegung umfasste in ihrer Blütezeit 100.000 Kämpfer, denen die Integration in die irakische Armee bzw. in den Staatsapparat versprochen wurde. Als diese Einheiten 2009 der irakischen Regierung überantwortet wurden, ließ diese die unerwünschten bewaffneten Sunniten exilieren, einsperren und sogar exekutieren. Diese Aktion war ein entscheidender Schritt zur endgültigen Verzweiflung der Sunnit_innen im Irak, die zur Hinwendung zum IS führte.
Ein zweiter wichtiger Faktor sind die wiederholten brutalen Niederschlagungen sozialer Proteste durch die irakische Regierung. Schon am 25. Februar 2011 demonstrierten am „Tag des Zorns“ Zivilgesellschaft, Frauenorganisationen und Gewerkschaften gegen das sektiererische Regierungssystem, Arbeitslosigkeit und die schlechte Infrastruktur – die Regierung ging mit scharfer Munition gegen die friedlichen Proteste vor. Die grausame Geschichte widerholte sich, als es 2013 zu gewaltfreien Demos im Westirak kam. In den Städten Falluja und Ramadi protestierte die sunnitische Bevölkerung gegen die Maliki-Regierung. Am 23. April 2013 stürmten Sicherheitskräfte ein Protestcamp und töteten 50 Menschen. Teile der sunnitischen Bevölkerung begannen den IS, der bei den Protesten überhaupt keine Rolle gespielt hatte, als einzige Schutzmacht zu sehen.
Assads erfolgreiche Strategie
In Syrien hatte das Assad-Regime schon früh in der Entwicklung der Revolution versucht, den Volksaufstand als das Werk sunnitischer Extremisten darzustellen und sich selbst als Beschützer der alavitischen Minderheit (die einen Großteil der Offiziere und Staatsbediensteten ausmacht) und der Christ_innen zu inszenieren. Gegen Oppositionelle setzte Assad bevorzugt die hauptsächlich alawitische Shabia-Schlägertruppe ein. Er ließ hunderte Dschihadisten aus den Gefängnissen frei. Die rasche Militarisierung und die Aufrüstung islamistischer Gruppen durch die Golfstaaten, sowie die sektiererische Dauerpropaganda, die aus diesen Golf-Staaten kommt, taten das ihrige dazu, die Lüge des Regimes zur Tatsache werden zu lassen.
Der Aufstieg des IS lässt sich nur vor diesem Hintergrund der kombinierten Entwicklungen im Irak und in Syrien verstehen. Das Machtvakuum, das durch die Bürgerkriege in den beiden Ländern, bei gleichzeitig geschwächter USA und mächtigen regionalen Interessen, entstanden war, bot sektiererischen Ideen und damit dem IS ideale Wachstumsbedingungen.
Neue Bewegung von unten
Eine Lösung kann nur durch Bewegungen erreicht werden, die die Forderungen der arabischen Revolutionen, die für viele immer noch zentral sind, wieder aufnehmen können. Die Aufstände von Ägypten bis Bahrein wandten sich gegen religiöse Spaltungen, forderten soziale Gerechtigkeit, den Sturz repressiver Regimes und ein Ende imperialistischer Einmischung. Nur eine solche Bewegung könnte die wahren Widersprüche in der Gesellschaft wieder ins Zentrum rücken und die sektiererischen Auseinandersetzungen beenden.