Trotz Repression: „Kurdische Massenbewegung bleibt stark“

Oppositionspolitiker werden verhaftet, kurdische Gebiete bombardiert. Die Nachrichten aus der Türkei sind bedrückend. Was Erdoğan bezweckt, was seine Politik für die Menschen bedeutet und wie die Linke jetzt reagieren sollte, erläutert Ron Margulies, Mitglied von DSİP (Schwesterorganisation der Neuen Linkswende), im Interview.
28. Dezember 2016 |

Nach dem Putschversuch des türkischen Militärs hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Ausnahmezustand ausgerufen. Welche Befugnisse hat er nun und wie setzt er sie ein?

Ron Margulies: Mit dem Ausnahmezustand kann die Regierung per Dekret regieren. Das bedeutet, dass die Regierung ohne Einbeziehung des Parlaments Gesetze beschließen kann. Außerdem werden Gerichtsverfahren abgekürzt, was Festnahmen und Gefängnisstrafen vereinfacht.

Der Ausnahmezustand wurde ursprünglich für drei Monate ausgerufen und dann verlängert. Erdoğan kündigte an, dass er mindestens ein Jahr bestehen bleibt. Das bedeutet die komplette Abschaffung der Demokratie.

Natürlich müssen die Verantwortlichen des Putsches vor Gericht gestellt werden. Aber dafür ist das geltende Recht völlig ausreichend. Das zeigt, dass der Ausnahmezustand nicht für die Bestrafung der Putschisten ausgerufen wurde, sondern damit die Regierung freie Hand bei ihrem eigentlichen Vorhaben hat.

Und das wäre?

Die vollständige Unterdrückung der Opposition. Die Regierung hat zwei Ziele: Das Gülen-Netzwerk und die kurdische Bewegung. Alle Verhafteten sind Mitglieder oder Sympathisanten einer dieser beiden Bewegungen. Der kritische Punkt ist, dass es nicht verboten ist, ein Unterstützer der Gülen-Bewegung zu sein. Der Putsch war eine Straftat, ja. Aber die Regierung zielt nicht nur auf die Putschisten, sondern auf alle, die beispielsweise ein Konto auf einer Bank der Gülen-Bewegung haben oder bei kritischen Medien arbeiten. Das ist absurd und illegal.

Genauso werden Anhänger der kurdischen Bewegung oder Aktivisten_innen der HDP, die für eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts kämpfen, kriminalisiert. Nach türkischem Recht haben sie nichts Illegales gemacht. Doch die Regierung setzt im Schatten des Ausnahmezustandauf volle Konfrontation mit den Kurden.

Konnte Erdoğan die kurdische Bewegung schwächen?

Die kurdische Bewegung hat in den letzten Jahren viele Rückschläge erleiden müssen. Die linke prokurdische Partei HDP hat bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 über 13 Prozent erreicht– ein riesiger Erfolg. Diesen Erfolg wiederholte die HDP, als sie bei der Wahlwiederholung im November letzten Jahres unter schwierigsten Bedingungen wieder 10 Prozent erreichte.

Als jedoch der Friedensprozess durch die Regierung abgebrochen wurde und sich gleichzeitig die Kurden im Norden Syriens erfolgreich dem IS widersetzten, kam es zu Autonomiebestrebungen in den kurdischen Regionen in der Türkei. Der türkische Staat reagierte darauf mit roher militärischer Gewalt. Hunderte Kurdinnen und Kurden wurden getötet, mehrere Städte und Viertel zerstört. Das hatte ohne Zweifel einen demoralisierenden Effekt auf die Bewegung. Dennoch bleibt die kurdische Bewegung eine starke Massenbewegung. Sie hat sich bisher noch von jedem Rückschlag wieder erholt.

… und die türkische Linke?

Die türkische Linke ist schon seit langer Zeit sehr schwach. Das liegt daran, dass sie Erdoğans AKP von der falschen Richtung attackiert. Die Republikanische Volkspartei (CHP), die sich selbst als sozialdemokratisch darstellt und von vielen als links wahrgenommen wird, argumentiert von einem nationalistisch-kemalistischen antimuslimischen Standpunkt aus. Sie kritisierte Erdogan für die Friedensgespräche mit den Kurden, weil das der nationalen Einheit schadet und er zu viele Zugeständnisse an sie macht.

Viele Linke sehen ihre Hauptaufgabe in der Verteidigung des Säkularismus gegen die islamische Bedrohung durch die AKP. Dadurch bleibt die Linke isoliert und hat keine Chance, einen Keil zwischen die AKP-Führung und ihre religiöse und arme Anhängerschaft zu treiben.

Die Repressionen gegen die Medien und Verhaftungen haben ein enormes Ausmaß angenommen. 40.000 wurden ins Gefängnis gesteckt, 150.000 Beamte verloren ihren Job. Ist die Türkei auf dem Weg in einen „faschistischen Staat“?

Die Türkei als „faschistischen Staat“ zu bezeichnen ist absurd. Wäre sie ein faschistischer Staat, gäbe es keine kurdische Partei, geschweige denn Abgeordnete. Es gäbe auch keine freien Gewerkschaften und Streiks. Nicht alles was wir nicht mögen, dürfen wir als Faschismus bezeichnen. Ich würde eher von einem zunehmend autoritären Staat sprechen.

Ist Erdoğans „Säuberungswelle“ die Reaktion auf sein bisheriges Scheitern bei dem Versuch, ein Präsidialsystem einzuführen?

Es gibt die Tendenz, alles was im Land passiert, auf Erdoğan zu beziehen. So als würde eine Person allmächtig und eigenhändig das ganze Land steuern. Diese Sichtweise führt in die Irre.

Erdoğan will ein Präsidialsystem, aber das erklärt nicht alles, was er tut. Man muss beachten, dass er aus einer konservativen und islamischen politischen Tradition kommt, die den türkischen Nationalismus hochhält und den Staatsapparat sowie das Militär schätzt. Ja, Erdoğan möchte die Türkei konservativer und religiöser machen. Aber vor allem möchte er die Türkei zu einer starken Macht in der Region machen, damit sie ihre Interessen gegen die großen Westmächte behaupten kann.

Wie geht er jetzt vor?

Sein Hauptproblem war von Anfang an, dass der kemalistische Staatsapparat – also das Militär, die Verwaltung und die Gerichte – ihn nicht akzeptierte. Sie nahmen ihn als eine Bedrohung für die „säkulare Republik“, wie sie Atatürk ausgerufen hat, wahr. Also begannen sie, ihn zu behindern.

Deswegen ergriff Erdoğan in seiner ersten Amtsperiode Maßnahmen gegen den militärischen und zivilen kemalistischen Apparat. Ansonsten wäre er vermutlich nach einem Staatsstreich gehängt worden. Erfolgreich war er, weil er in dieser Zeit eine Allianz mit der Gülen-Bewegung einging. Dies ist auch der Grund, warum die Anhänger der Gülen-Bewegung den Staatsapparat infiltrieren konnten. Als 2010 die Verbindung zur Gülen-Bewegung abbrach, schmiedete Erdoğan eine Allianz mit den Kemalisten aus Militär und Verwaltung. Zu gemeinsamen Feinden wurden die Gülen-Bewegung und – noch wichtiger – die kurdische Bewegung erklärt. Von nun an wurden diese beiden mit aller Kraft des Staats bekämpft. Die jetzige Kooperation zwischen Erdoğans AKP und der faschistischen MHP ist der parlamentarische Ausdruck dessen.

Außenpolitisch steht Erdoğan zwischen zwei Machtblöcken – auf der einen Seite die Europäische Union (EU) und die USA als NATO-Verbündete, auf der anderen Seite will er sich mit Russland nach dem abgeschossenen Kampfjet wieder arrangieren. Wohin steuert die Türkei außenpolitisch?

Die türkische Außenpolitik hat ein kurzfristiges und ein langfristiges Ziel. Das kurzfristige unmittelbare Ziel ist es, die Etablierung einer kurdischen Autonomieregion im Norden Syriens zu verhindern. Im irakischen Norden konnte er kurdische Gebiete nicht verhindern, da diese unter dem Schutz der USA standen. Mittlerweile unterhält die Türkei gute Handelsbeziehungen mit der Barzani-Regierung.

Die kurdischen Gebiete in Syrien haben jedoch einen gänzlich anderen Charakter, denn sie werden von der PKK geführt. Der türkische Staat sieht sich also in einer Situation, wo eine Organisation als Nachbarstaat auftreten könnte, die er schon im Inland bekämpft. Um das zu verhindern, ist die türkische Armee in Syrien eingerückt und hat die Friedensverhandlungen abgebrochen.

Langfristiges Ziel der türkischen Außenpolitik ist es, die wichtigste Macht in der Region zu werden.

Der HDP-Vorsitzende Demirtaş sprach nach dem Putschversuch von der „Macht der Straße“. Wieso bekommt nur Erdoğan seine Anhänger auf die Straße, aber seine Gegner nicht?

Der Putsch wurde durch den Einsatz tausender Menschen verhindert, die sich vor die Panzer gestellt haben. Dies ist bei keinem Militärputsch zuvor passiert und wurde von den Putschisten nicht erwartet. Nicht alle Leute auf der Straße waren Anhänger der AKP. Es ist wichtig zu verstehen, dass – egal welche persönliche Motivation dahinter stand – das Aufhalten der Panzer ein großer Sieg für die Demokratie war.

Leider erkannte das weder die HDP noch die übrige Linke. Da manche Menschen auf der Straße religiös waren und die Moscheen zum Widerstand aufgerufen haben, beschimpfte die Linke die Massen als „reaktionär“. Der jetzt verhaftete HDP-Chef Demirtaş bezeichnete die Stimmung auf der Straße zunächst als „IS-Mentalität“. Nach ein paar Tagen korrigierte er sich und unterstützte die Menschenmenge, die gegen den Putsch auf die Straße gegangen war. Dies zeigt jedoch seine instinktive Reaktion, sowie die vieler Linker. Die türkische Linke war nicht nur kein Teil des Widerstands gegen den Putsch, sondern fühlte sich sogar von den Menschen auf der Straße bedroht.

Was müsste die Linke tun?

Erdoğans Popularität war schon vor dem Putschversuch sehr hoch. Nach dem Putsch ist seine Zustimmung auf 60 Prozent gewachsen. Unter diesen Umständen sind Kampagnen gegen seine Person zwecklos. Was wir tun müssen, ist einen Keil zwischen ihn und die Arbeiterklasse treiben, ohne ihn oder die Menschen, die ihn wählen, zu beleidigen. Wir müssen für Demokratie und Frieden streiten und die Rechtsstaatlichkeit gegen Eingriffe verteidigen.

Türkei: Die AKP, der Islam und die Linke

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Wir müssen sicherstellen, dass wir nicht als Anhänger der Putschisten angesehen werden, dass wir keine Unterstützer der Kemalisten und nicht islamophob sind. Ich habe keine Zweifel, dass viele Menschen, die Erdoğan ihre Stimme gegeben haben, über viele seiner Schritte unglücklich sind. Die Menschen wollen keinen Krieg und bestehen auf ihre demokratischen Rechte. Diese Menschen müssen wir erreichen.

Roni Margulies ist Dichter, Journalist und Mitglied der Devrimci Sosyalist İşçi Partisi (DSİP, Revolutionäre Sozialistische Arbeiterpartei). Fragen und Übersetzung: Tilman von Berlepsch. Das Interview erschien zuerst auf marx21.de und wurde gekürzt
Der Verfasser/die Verfasserin hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.